Gib mir die halbe Wahrheit
Gib mir die halbe Wahrheit und lüg' mir den Rest. Lüge schön und lass es mich nicht merken. Lüge so, als ob es wirklich wahr sein könnte, wenn wir nicht wir wären und der Schein kein Licht bräuchte um zu scheinen.
Lüge mir Lügen, flink und beredt wie Sperlinge, und spare nicht an Floskeln. Sei feinzüngig und vieldeutig und nur das eine hier sage ich Dir: Nage an deinen Lippen, wenn sie zagen, keck, aber sachte am süßen Honigeck, wie Audrey, wie du es früher machtest. Beiß' ruhig zu, wenn dir danach ist. Ich werde am Küchentisch sitzen und Dir zusehen und Deinen Mund vergöttern, wie er sich selbst befriedet. Nimm kein Blatt vor deinen süßen Mund, lass' du nur deinen Mund mäandern und beim Flunkern Walzer tanzen, wie mein Stift es tut auf diesem Blatt Papier, hier in Deinem Café.
Gib mir die halbe Wahrheit und lüg' mir den Rest. Lüge schön und lass' es mich nicht merken. Lüge mir eine Welt schöner als unsre. Lüge die Welt mir in Strass und Feuerwerk und samtenen Bezügen. Lüge uns glücklicher als sie, die uns schauen. Lüg' mir kleine Lügen hübsch wie Puppen. Wickle Verdrängung um Watte und polster' von innen, als ob dort Leben wäre. Nimm die Puppen und kleide sie in herrliche Stoffe. Richte ihnen das Haar, schminke sie unkenntlich, und lass sie leichtfüßig um unsere Sofas rennen und für uns in den Fluren tanzen. Lass' sie singen. Lass' ihre klaren Stimmen klingen und uns das Haus füllen mit Liedern aus erstummten Wörtern und gesummten Melodien. Lass' es mühelos aussehen und ungestellt. Lass' große Blumengestecke Duftmeere speisen und Dinnerpartys von unsrer Verleugnung zeugen. Lass' uns ausgehen mit unseren kleinen Lügen und sicherstellen, dass alle Welt uns dabei zusieht. Wir werden defilieren vor der Welt Augen, als ob sie gar nicht da wäre, und werden uns gleichwohl in ihren Pupillen spiegeln. Wir werden am Tisch mit unseren feinen Lügen, der Welt zunicken und zuprosten, charmant, mondän und weltgewandt, und für diese Stunden glücklich sein.
Sieh' uns nicht an! Oder sieh' uns an und leg' die Brille weg! Versteck' die Lupe und reib' uns die Augen, bis uns die Makula degeneriert. So, wie unsre tausend Träume es taten in den Jahren. Lass' unsre Blicke schweifen über unsere Möbel und Besitztümer, vage, ziellos und gefällig, während bereitwillige Lügen den Staubwedel führen, als wären sie in einem Ballett die Schwänlein.
Fürchte nichts, mein Herz, und voll allen Dingen in der Welt fürchte nicht die Lüge. Sie ist länger in der Welt, als es die Farne sind. Sie gebiert so viel Schönes und Schönes braucht diese Welt, mehr als alles andere. Die Lüge ist nicht die Abwesenheit der Wahrheit, sie ist nicht ihre Krankheit, sie ist ihr Balsam. Der Bau unsrer Erzählung ist altersmüde, mürbe und brüchig geworden und die Lüge fugt seine Steine zusammen und kalkt ihm die Wände. Also lüg' behende, mein Herz, lüg' ohne Ende und tu' das mit einem Lächeln, auf das die gute Fee neidisch wäre.
Gib mir die halbe Wahrheit und lüg' mir den Rest. Lüge schön und lass es mich nicht merken. Lass Honig in meinen Tee tropfen, wenn ich mich umdreh'. Wirf gerösteten Kardamom in meinen Mokka, wenn ich nicht hinschau' und das werde ich nicht, ich versprech' es Dir. Ich werde auf Deine Lippen schauen und auf den Moment warten.
