Die Fotografin - Der alte Matador
Der alte Matador.Marita schlenderte die Calle de los Cuchillers – die Messerschleifergasse – hinunter. Es war ein herrlicher Augustabend und ein warmer Wind wehte durch die Madrider Altstadt. Es wimmelte vor Menschen. Touristen und Einheimische füllten die Straßen und waren auf dem Weg in die verschiedenen Restaurants. Eine langjährige Freundin aus der hiesigen Redaktion hatte ihr das Lokal empfohlen, und Marita war schon sehr gespannt auf diesen Geheimtipp.
Die Fotoreportage über Madrids neue lokale Modeszene war abgeschlossen und sie freute sich auf einen entspannten Abend. Ein paar Gläser Wein und ein gutes Essen.
Etwa in der Mitte der engen Gasse fand sie ihr Ziel. Hinter einer schweren, alten Holztür führte eine steinerne Treppe in das gemauerte Gewölbe eines ehemaligen Weinlagers aus dem Mittelalter hinab. Hier existierte seit vielen Jahren das Restaurant Sobrinos de Botin, welches für seine traditionelle spanische Küche bekannt war. Die alten Kreuzgewölbe bildeten einzelne Sitznischen mit einem Tisch in der Mitte. Eine davon war für sie reserviert.
Ein stattlicher Kellner erkundigte sich nach ihrem Namen und führte sie sogleich zu ihrem Platz. Staunend betrachte sie das Interieur und die alten sepiafarbenen Fotos an den Wänden. Sie zeigten ausnahmslos Szenen aus Stierkampfarenen, die Marita zeitlich in die 60er, 70er Jahre einordnete. Nicht unbedingt handwerklich gut gemacht, aber beeindruckend in ihrer Authentizität.
Der Kellner kehrte mit der Speisekarte zurück und nahm ihren Getränkewunsch entgegen. Sie bestellte einen weißen Marques de Riscal.
Ihr Blick fiel auf ein altes Plakat an der Wand neben ihr. Es war die Ankündigung für einen Stierkampf in der Plaza De Toros De Sevilla von 1987 und zeigte ein farbenprächtiges, gemaltes Bild, auf dem ein mit Banderillas gespickter, wutschnaubender Stier an einem geschickt ausweichenden Matador vorbeistürmte.
Marita widmete sich der Karte des Hauses und entschied sich für Besugo a la madrilena, gebratene Brasse mit Wein und Olivenöl. Seit dem frühen Mittelalter ein traditionelles Weihnachtsessen wird es heute ganzjährig serviert.
Nachdem der freundliche Kellner ihre Bestellung aufgenommen hatte, sah sich Marita die anderen Gäste an. Abgesehen von einem jungen Pärchen in einer Nische schräg gegenüber, schienen es ausschließlich ältere Madrilenen zu sein. An der Bar saß ein alter Mann mit abgetragener Kleidung, der nicht so recht in das Bild passen wollte. Versonnen nippte er an seinem Glas und hielt seinen Blick auf eine Fotografie an der Wand hinter der Bar gerichtet. Von ihrer Nische aus konnte Marita jedoch nicht erkennen, was auf dem Foto zu sehen war.
Ihr Essen kam und es duftete geradezu himmlisch. Erst jetzt merkte Marita, wie hungrig sie war. Der Fisch war exzellent zubereitet und schmeckte fantastisch. Nachdem sie mit dem letzten Stück Brot noch etwas von dem herrlichen Sud aufgetunkt hatte, legte Marita das Besteck zusammen und schob den Teller nach vorn.
Gesättigt und zufrieden lehnte sie sich zurück und trank einen Schluck Wein. Über den Rand ihres Glases hinweg fiel ihr Blick erneut auf den alten Mann an der Bar. Er schien sich überhaupt nicht bewegt zu haben. Sein Gesicht konnte sie nur im Profil erkennen, das von tiefen dunklen Falten durchzogen war. Die schneeweißen, buschigen Augenbrauen warfen Schatten auf die darunter liegenden Höhlen, und seine scharf geschnittene Nase schien ihm davoneilen zu wollen. Das eckige Kinn nach vorn gereckt, starrte er weiter auf das Foto an der Wand.
Marita wurde immer neugieriger, was denn auf dem Bild wohl zu sehen war. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Sie leerte ihr Glas, stand auf und ging hinüber zur Bar. Dort ließ sie sich neben dem alten Mann auf einem der Barhocker nieder und bestellte sich noch ein Glas Wein.
Der Alte schien keinerlei Notiz von ihr zu nehmen. Sie nahm ihren Wein entgegen und nun konnte sie endlich ihre Neugier stillen. Die Fotografie zeigte einen sehr jungen, gutaussehenden Torero, der lachend in die Kamera winkte. Es war ein schönes Foto, dass die ganze Lebensfreude des jungen Mannes transportierte. Um so beunruhigender erschien ihr deshalb die schwarze Binde, die den Rahmen zierte.
Sie konnte so gerade einen Namen unter dem Bild entziffern. „El Yiyo".
Der alte Mann trank den letzten Schluck aus seinem Glas und stellte es bedächtig vor sich auf den Tresen. Leise frage Marita ihn, ob sie ihn zu einem weiteren Glas einladen dürfe. Er drehte sich langsam zu ihr um und sah sie an. Sein Blick hatte etwas Durchdringendes. Wie der eines Mannes, der etwas sehr Schreckliches gesehen hatte. Sie kannte diesen Blick von Soldaten, die sie auf Reportagen an Kriegsschauplätzen getroffen hatte.
Sie lächelte ihn freundlich an und er schien sich einen Ruck zu geben. Statt einer Antwort folgte ein kurzes Nicken.
Marita erkundigte sich bei dem Barmann und bestellte zwei Osborne. Als der Barmann die beiden Gläser vor sie stellte, nahm sie eines und hob es in die Richtung des Alten. Wieder zögerte er, stieß dann aber mit ihr an.
Nach einer Weile des Schweigens fragte Marita: „Wer ist das auf dem Foto?“
Der alte Mann sah sie an, aber sagte nichts. Dann richtete sich sein Blick wieder auf das Foto.
Marita wollte gerade aufgeben und nach ihrer Rechnung fragen.
„Er war mein Freund und er starb für mich. José.“
„Was ist geschehen?“, fragte sie vorsichtig.
„Der Stier hat ihn getötet.“
Und so erzählte ihr der alte Mann die traurige Geschichte von José Cubero Sánchez, genannt „El Yiyo“, dem am 30. August 1985 im Alter von 21 Jahren ein Stier das Herz durchbohrt hatte.
Sie trafen sich das erste Mal hier in Madrid an der berühmten Stierkampfschule, der „Escuela Nacional de Tauromaquia“. Und obwohl er 30 Jahre älter war, wurden sie gute Freunde. Viele Male kämpften sie in denselben Arenen. Und einige Male teilten sie dieselben Mädchen.
„Ach ja, all die Mädchen und Frauen“, sagte er versonnen.
„Sie müssen wissen, die Frauen und jungen Mädchen sind verrückt nach uns Toreros.“
„Sie waren auch einmal ein Torero?“, fragte Marita.
Der Alte lachte. „Zweiundvierzig lange Jahre“, sagte er. „Mit sechsundsechzig zwangen sie mich aufzuhören. Dabei wartete ich doch noch immer auf meinen Stier.“
„Das verstehe ich nicht. Ihr Stier?“
Und so berichtete der alte Torero Marita von dem verhängnisvollen Tag im August Fünfundachtzig. Als sein Freund in der kleinen Stierkampfarena von Colmenar Viejo (Provinz Madrid) als Ersatz für ihn einsprang, weil er erkrankt war. Und dann vom sechsten und letzten Stier des Tages, „Burlero“, getötet wurde.
Jetzt erst wurde Marita klar, dass heute der Dreißigste war und somit der fünfunddreißigste Todestag seines Freundes.
Nun schwiegen sie beide. Es gab nichts mehr zu sagen.
Nach einer Weile stand der alte Mann auf und bedankte sich bei Marita für den Brandy. Dann ging er langsam hinaus.
Marita fragte den Barmann, wer denn das gewesen sei.
„Das war Curro Romero. Einer der größten Toreros, die es je gegeben hat.“
Marita zahlte ihre Rechnung und machte sich auf den Weg zu ihrem Hotel.
In dieser Nacht träumte sie von Stieren und Toreros, von todesmutigen Matadores und dem jubelnden Publikum.