Die Kassette auf dem Regal
und ein Gott, dem dies egal ist
Ich habe die Kassette aus dem Videorecorder genommen. Musste. Ging nicht anders.
Hatte Angst, dass der Recorder das Band frisst und das will ich nicht. Der Recorder ist alt und in keinem guten Zustand. Er frisst dann das schöne Band. Er reißt es aus seiner Kassette heraus, in dem es vorher so behütet eingebettet war, und verdreht und verspult es fatal. Das ist die Sache.
Und überhaupt. Das Band ist zu wichtig für mich. Zu wertvoll. Es ist das einzige in der Welt mit diesem Film darauf und der Film ist ein kostbares Kleinod. Ein Juwel. Meisterhaft ungeschliffen. Wunderschöne Bilder. Traumhafte Sequenzen. Gedichte aus Bögen und Kreisen, gemalt von Gott an warmen Sonntagnachmittagen in seinem Garten.
Hat seine Ecken und Kanten der Film, er ist aber auch rund an den richtigen Stellen. Durchdrehende Reifen auf Asphalt. Faszinierendes Drehbuch. Berührend. Mehr Tiefgang als drei Adeles. Und ein bißchen Drama. Aber ein bißchen Drama muß ja auch sein.
Den Film will ich sehen, von Anfang bis zum Ende, mit Vor- und Abspann, mit Zurückspulen und nochmal kucken, mit Standbildern und Wichsen an den guten Stellen.
Aber es war zu gefährlich. Für den Recorder und für das Band. Jetzt ist die Kassette draußen und ich weiß nicht, welchen Film ich jetzt schauen soll und ob überhaupt.
Die Kassette auf dem Regal und ein Gott, dem dies egal ist.
Der Recorder ist das Problem. Oder ich. Oder ich bin der Recorder, was den Satz bewahrheiten würde. Sagen wir mal, ich bin der Recorder und ich mag Kassetten spielen. Und sagen wir - warum nicht? - ich bin das Problem, was relativ naheliegt.
Unter uns so? Ich liebe es. Ich liebe Kassetten zu spielen. Das ist mein Zweck. Dafür bin ich entworfen. Dafür bin ich gedacht. Dafür bin ich gebaut. Und ich liebe es, auch wenn ich weiß, dass es bessere Recorder mit mehr Videoköpfen und viel mehr Schnickschnack gibt. Ganz andere Preissegmente.
Aber ich liebe es. Auch wenn ich weiß, dass es, früher oder später, einen Bandsalat geben wird. Es wird weißen Rauch geben und er wird nicht bedeuten, dass ich einen neuen Papst gewählt habe. Denkfehler. Es wird bedeuten, daß ich brenne. Ich werde Flammen gefangen haben und das Band auch. Feuer. Fatale Schäden. Weil ich defekt bin. Fabrikfehler. An einem Montag montiert. Vom Band gefallen. Mangelhafte Bauteile. Ausschuss. Wer weiß das schon?
Also spiel ich die Kassette nicht mehr ab. Ich spiele einfach keine mehr. Aber wenn ich keine Kassetten abspiele, bin ich dann immer noch ein Recorder? Ein Recorder, der nur neben dem Fernseher steht und keine Kassette spielt, was ist er? Möbelstück mit Häkeldeckchen oben drauf? Eine Antiquität? Bestimmt bin ich das.
Ich hab die Kassette rausgenommen, EJECT, zur Sicherheit. Sie ist zu wertvoll. Das Band darauf birgt ein unbekanntes Kunstwerk, das seiner Kunst nicht bewusst ist und unsagbar wertvoll. Unentdeckt, verborgen, vor sich selbst und der Welt und deswegen noch nicht geliebt von sich selbst und der Welt und wie es seiner Kunst wegen sollte. Es war richtig, glaube ich, die Kassette rauszulassen - zur Sicherheit. Und ich bin jetzt auch ganz sicher.
Und auch ganz sicher leer.
Ein Möbelstück.
Eine Antiquität.
Mit Häkeldeckchen.
Die Kassette auf dem Regal und ein Gott, dem dies egal ist.
Das Band auf dem Regal ist kostbar. Zu kostbar. Ein anderer Recorder wird es nun spielen und hoffentlich verstehen, was für ein Kunstwerk er da abspielt und sich die entsprechende Mühe geben. Das ist keine Pornokassette und kein banaler Actionfilm. Das ist keine Schnulze und kein Krimi mit vorhersehbaren Plot. Das ist großes Kino, Mann. Das ist Fellini und auch Bergmann. Und ein bißchen Wim Wenders. Das ist Kunst.
Ein anderer Recorder wird die Kassette spielen, ruhig und in der richtigen Geschwindigkeit. Mit der richtigen Zahl an Köpfen und Klimbim. Ich werde ihm so oder so dafür grollen und niemals verzeihen.