Die Tränen des Gummibaums.
„Das ist Enaudi“ sagt sie und ihre Stimme klingt kratzig. Sie räuspert sich.
Er nickt und rührt in seinem Kaffee.
Die Klaviertöne rollen von den Blättern des Gummibaums wie ein Panzer beim Angriff.
Letzte Nacht hatte der Gummibaum anderes hören müssen.
Wieder ein Streit. Wieder das Aufzählen kleiner Verletzungen,
das Zerpflücken von Sätzen und ihrer möglichen Deutungen.
Haarspaltereien über um Jahre zurückliegende Ereignisse, zu oft schon wiederholt, aber nie geklärt und gewiss nie vergeben. Wo die wirklichen Wunden offen bluten, das sprachen sie nicht aus. Da, wo sie einander verstanden, fanden sie dennoch keinen Trost.
Dann der Schlaf, in getrennten Zimmern.
Der Gummibaum dachte an seine Gefährtin, eine schlanke, dunkelgrüne Pflanze, die vor ein paar Wochen an Überdüngung gestorben war. Jahrelang waren sie in schönster Eintracht nebeneineander gestanden, hatten Sonnenlicht und Staubtänzen zugesehen, und die Spitzen ihrer Blätter sorgsam voneinander weggehalten, um sich nicht zu verletzen.
Sie fehlte ihm sehr. Alleine Schweigen war so langweilig.
Zu zweit schweigend verrichten sie die banale Tätigkeit des Tischdeckens, stümperhaft vermeiden sie Berührung durch ungelenkes Ausweichen und Blickkontakt durch abruptes Augenschließen.
Am Tisch sitzend schaut sie aus dem Fenster und sieht, dass die Sonne schon hoch über dem kleinen Leuchtturm steht, der kaum über die Dächer hinausragt.
>So spät haben wir schon lange nicht mehr gefrühstückt, ich muss morgen den Wecker stellen...<
Begonnen hatte der Streit beim Abendessen mit seiner Frage, was sie denke. Sollte sie wirklich diese abnormen Überflüssigkeiten aussprechen, sich hinreißen lassen zu elegischer Formulierungssucht? Wer brauchte das, und wozu, oder gab es in der Geschichte von Beziehungen irgendwo einnen Hinweis darauf, dass zwei sich NICHT wie blöd anschweigen, aber dabei ziemlich viel reden? Der Versuch, die Sprachlosigkeit zwischen zwei Menschen durch Geplauder zu entschärfen, war schon immer kongenial gescheitert. Der eine fängt Gespräche an, damit er in Ruhe denken kann. Der andere vergräbt sich hinter einer Zeitung. So war das doch immer. Deswegen hatten sie ja auch ein Abo von „Literatur heute“.
Schweigt einfach! – das war die Botschaft für Paare.
Der Gummibaum wippte zustimmend mit seinen Blattspitzen.
Das Kratzen des Messers am Tellerboden lässt sie Zucken. Das wurde hoffentlich nicht als Kommunikationsversuch gewertet.
Er salzt eine halbe Avocado und legt sie auf sein Kalbsleberwurstbrot.
Sie ekelt sich vor Fleisch und wünscht sich einmal mehr, er wäre Vegetarier.
Sie erinnert sich an eine Geschichte, die ein Mann in dem Forum eingestellt hatte, in dem sie seit einiger Zeit heimlich war. Da hatte eine Frau mittleren Alters ein Flokatiklo. Seitdem dachte sie an die Umgestaltung ihres Badezimmers. Vielleicht wäre es dann gemütlicher, wenn sie sich schweigend der notwendigen Zahnpflege widmeten. Würde dazu eine pflegeleichte Grünpflanze passen, ein Gummibaum vielleicht?
Der Gummibaum wippte zustimmend mit seinen Blattspitzen.
„Gibst du mir bitte die Marmelade?“
Er reicht sie, den Blickkontakt durch die Serviette vermeidend, die er sich vor die Augen hielt.
Musste ihre Beziehung weitergehen ? Gab es einen Grund für die vermeintliche Zwangsläufigkeit? Sie wurde ja nicht durch eine Schar schwer bewaffneter Luechtturmwärter an der Abreise gehindert.
Sie dachte an den Autor der wunderbaren Flokatigeschichte. In seinem Profil stand, er könne gut küssen, sehr gut küssen, sensitiv, intensiv, ultimativ. Das war auch Schweigen, aber man tat trotzdem etwas mit dem Mund, nicht nur essen.
Gleich nachdem sie abgespült hatte, würde sie ihn kontakten und ein date mit ihm ausmachen.
Der Gummibaum wedelte warnend mit den Blattspitzen, als sie sich an den Computer setzte.
so inspirierend kann sachliche Kritik sein!!! :-)