Diotimas Rache
Hier mal (in Rohfassung) ein Auszug meiner „postraffaelitischen“ Alltagsminiaturen in der Hoffnung, dass ihr mit Kritik und Anregungen nicht geizt. Ich brauche ´mal eure Hilfe: Wo sind die Fehler…und vor allem wo ist der Fehler in diesem ganzen Konstrukt? Bitte berücksichtigt beim Rezensieren auch meine Grundüberlegung: Was ist das: Romantik? (bzw. was ist im Kernsinne romantisch?) Im Voraus vielen Dank für eure Zeit und Aufmerksamkeit…
Diotimas Rache
Lange tot und tiefverschlossen,
grüßt mein Herz die schöne Welt… (F. Hölderlin)
„12/17- wo stehen sie gerade?“
Raphael muss den Lautstärkeregler des Funkgeräts höherdrehen, um die Durchsage im Gejohle der sichtlich ausgelassenen Damen im hinteren Taxiabteil zu verstehen. Ein Tag eigentlich, an dem alles irgendwie flutscht. Jede Menge Zusteiger und zwei parallellaufende Messen spülen unablässig Fahrgäste direkt vom Bahnhof und dem nahegelegenen Flughafen in den Fond des Taxis.
Raphael nimmt den gehetzt wirkenden Habitus der drei Damen im Fond bereits beim Zustieg am Airport wahr und entscheidet sich, den ewigen Stau am Autobahnzubringer über Schleichwege zu umfahren. Erleichtert nimmt er die Ansage der Ladies zur Kenntnis, dass diese schleunigst zu einer Präsentation im Congresszentrum gelangen müssen. Wo ihm beim doch recht freizügigen Auftritt der Damen zunächst der Verdacht aufkam, dass diese Tour eher in einer der heruntergekommenen Amüsiermeilen der Stadt enden könnte.
Raphael entnimmt den wenigen verständlichen Wortfetzen, welche durch den Fahrgastraum zu ihm dringen, dass seine Kundschaft offenbar im Filmgeschäft tätig ist.
Okay- hingucken lohnt sich allemal, denkt sich Raphael. Und so sammelt er bei den Ladies Punkte, als er auf den verstohlenen Kommentar, dass man auf dieser Strecke ja gar keine typischen Sehenswürdigkeiten entdecken könne, sehr zum Gefallen der Fahrgäste erwidert:
„Wieso? Gibt es hier im Wagen nicht schon genug Sehenswürdigkeiten?“
Ausgelassen gestaltet sich die Fahrt. Scheinen doch die Damen den heftigen Luftturbulenzen beim Landeanflug in den norddeutschen Luftraum mithilfe eines regelrechten Proseccogewitters getrotzt zu haben. Er schätzte diese Touren. Waren diese Fahrgäste doch sehr unprätentiös und allemal pflegeleichter als die Volltrunkenen in den Nachtschichten, die dann nur auf Stress aus waren und dann womöglich auch noch den Wagen vollkotzten.
Großflächige Plakatwände vor dem Congresszentrum verkünden das Ereignis einer Erotikmesse. Begeistert feiern die drei die zeitige Ankunft, welche ihnen sogar noch die Zeit lässt, vor ihrem Auftritt „einen zu zwitschern“. Und ihm ist es ein wenig unangenehm, als die drei ihm ein wirklich üppiges Trinkgeld mit einem Zwinkern in die Hand drücken.
Kaum Zeit zum Luftholen. An für sich könnte er bei dem wirklich guten Umsatz an diesem Tag bereits jetzt Feierabend machen. Aber der Tank ist noch halbvoll und er will seine Chefin nicht hängenlassen. Haben doch die letzten schwachen Monate und die zunehmende Konkurrenz durch freelancer dazu geführt, dass das Taxigeschäft Monat für Monat zu einer Hängepartie wurde.
Gerade als er die B 5 in Richtung Flughafen kreuzt, erfolgt über die Taxizentrale eine Order ins nahegelegene Wohngebiet. Keine fünf Minuten vielleicht und Raphael denkt sich: Die Tour nimmst du auch noch mit…
Raphael zuckt im ersten Moment zusammen, als er Rebecca bereits von weitem erkennt. Immerhin schon mehr als vier Jahre her, als sich ihre Blicke das letzte Mal kreuzten. Ein unangenehmer Wind von Nordost pfeift um die Hochhausfassaden und Rebecca lehnt an einem schützenden Ölbaum. Sie stutzt für einen Moment, als sie Raphaels Konturen hinter der Frontscheibe des Taxis wahrnimmt. Ein paar Regentropfen verfangen sich in ihrem brünetten Haar, als sie vom scharfen Nordostwind regelrecht in den Fond des Taxis hereingedrückt wird.
„Du- ich muss ganz schnell zum Congresszentrum. Kennst du den Weg?“
Raphael dreht sich mit einem süffisanten Lächeln zu ihr um:
„Naja, du weißt ja: Ich bin an für sich ein Außerirdischer und erlebe auf meiner Sternenreise derzeit nur eine kurze Transformation als Taxifahrer.“
Ein lautes Auflachen verschluckt fast ihr ungläubiges Kopfschütteln.
„Immer noch so verrückt wie immer…“.
Ein gespenstisches Schweigen breitet sich aus in der Zeitspanne, in der Raphael den Wagen in Gang setzt und in die Hauptverkehrsstraße einbiegt. Zäh gestaltet sich die Konversation und wird zunehmend von Gedankenpausen geprägt. Im zunächst belanglosen Redefluss begegnen sich flüchtige Blicke im Innenspiegel.
Leidenschaft nährt sich oftmals vom Mangel an Gegenwartsbezogenheit. Und so fällt es Raphael zusehends schwer, sich beim Blick in den Innenspiegel von den Bildern längst vergangener Stunden zu lösen. Unweigerlich wandert sein Blick über Rebeccas Körper und verliert sich im Abgleich mit Impressionen vergangener Leiblichkeit.
Zuviel Verkörperung vermag indes auch Distanz zu schaffen. Und so bemüht er sich, allzu tiefgründige Gedanken durch eine möglichst unverfängliche Gesprächseinleitung zu vertreiben.
„He- wie geht es dir? Kommst du zurecht?“
Durch den Innenspiegel nimmt Raphael zunächst ein leichtes, wenn auch wärmendes Lächeln wahr. Rebecca zuckt dann mit den Achseln, bevor sich ihr Blick in der monotonen Stadtlandschaft verliert, die ihr durch das Seitenfenster entgegengähnt.
„Ach- ich friere manchmal und starre in den Winter, der mich umgibt“.
Raphael scheint es, als wenn er diesen Satz irgendwo schon mal gelesen hat und erinnert sich augenblicklich daran, dass Rebecca ihr Studium der Literaturwissenschaften bereits abgeschlossen haben dürfte.
Ihre Erscheinung gleicht zunächst einem Zerrbild ihrer Verfassung. Geradezu martialisch hebt sich die enganliegende Lederkombination von ihren noch immer sehr zarten Gesichtslinien ab. Das gleichmäßige Heben und Senken ihres weitausgeschnittenen Dekolletés verrät das Aufkeimen einer Weiblichkeit, welche sich von dieser scheinbar verspielten Gedankenverlorenheit der Frau absetzt, die Raphael vor Jahren noch so vertraut war.
Rebecca merkt auf, als sein Blick auch nur ein klitzekleines Moment zulange auf ihrem Körper verweilt. Ohne einen Anflug von Irritation zu vermitteln, versucht sie sich in einem Themenwechsel.
„Und wie ist es bei dir?“
„Nun, du weißt doch: Wenn man zulange das Falsche studiert, landet man irgendwann automatisch in einem Taxi.“
Rebecca beugt sich ein wenig vor und legt ihre Stirn in Falten.
„Hattest du denn keine Probleme, dass man dich nach Auslaufen deines Studiums abschiebt?“
„Ach, darüber habe ich mir an für sich nie Sorgen gemacht. Einen Außerirdischen ins Weltall abzuschieben traut sich heutzutage nicht einmal die Senatsverwaltung. Und bis du die Einreisepapiere für den Himmel zusammen hast, dauert es oft viele Jahre.“
Amüsiert stützt Rebecca ihr Kinn auf dem Rücken des Beifahrersitzes und lässt wieder dieses rätselhafte Lächeln aufblitzen, wenn ihre Neugier geweckt war.
„Woher willst du das denn wissen?“
Raphael begegnet ihrem fragenden Blick mit einem Zwinkern.
„Nun…- ich hatte da mal für eine kurze Zeit einen Gastauftritt.“
Mit einem unschlüssigen, beinahe unwirschen Blick sinkt Rebecca zurück auf die Sitzbank und eine weitere Kaskade des Schweigens breitet sich aus. Und doch vermittelt ihr scheuer, immer wieder suchender Blick, wie einem das Menschsein zum Rätsel geworden ist.
Die B 5 ist erstaunlich frei und das Navigationsgerät zeigt gerade mal sieben Minuten Fahrtzeit bis zum Ziel an. Wohl zu wenig Zeit, um die Sprachlosigkeit zu überwinden, welche die beiden nicht erst seit Minuten erfasst. Im sonorigen Rauschen des Fahrtwindes – so scheint es- verfangen sich Gedankenfäden im beiderseitigen Schweigen.
Was bedeutet das wirklich: Sich ehrlich zu machen?
Das gemeinsame Ausharren im Zeitalter der Wasserwerfer. Rebecca war seinerzeit eher spontan aus einer Kleinstadt zu einem Studium in diese Stadt aufgebrochen. Nicht ahnend, dass die Chancen auf bezahlbaren Wohnraum schlechter standen als ein Sechser im Lotto. Raphaels befristete Duldung brachte es mit sich, dass seine Chancen auf dem regulären Wohnungsmarkt dieser Stadt gleich Null waren. Nahezu täglich defilierten Streifenwagen und private Räumkommandos vor dem verbarrikadierten Haus. Die Stadtwerke hatten schon vor Monaten den Strom abgestellt und so erhellte lediglich Kerzenlicht sinnliche Lusterfahrung an einem Ort scheinbar fernab jeglicher Romantik. Lediglich der süßliche Geschmack von Kiezmische vermochte den durchdringenden Modergeruch, wenn auch nur für einen tiefen Zug aus der Flasche, zu verbannen. Auf einer durchgelegenen Matratze vermochte sich Wärme nur zwischen ihren Körpern und den gierigen Zungen auszubreiten. Der süßliche Geschmack ihres Atems mischte sich dann mit den malzigen Noten ihrer Lippen.
Karge Zeiten damals und doch so reich vom Sattwerden, als dass es in den Wertstofftonnen der Vergänglichkeit ein dunkles Dasein fristen durfte.
Nicht nur benutzen, sondern auch verstehen. Und noch keine annähernde Vorstellung davon, was Schmerz wirklich bedeutet, als seine Hand das erste Mal tief in ihren Schoß eintauchte. Das erste Mal, als das sie das Wort Fotze über ihre Lippen presste. Das erste Mal, als sie sich mit einem Anflug des Erschreckens in seinem Mund ergoss.
All das in der zutiefst verankerten Gewissheit, dass es ein nächstes Mal geben wird. Und muss.
Die Kargheit der Umgebung verstärkte die Empfindung von Exklusivität. Als dann ein arbeitsloser Elektriker über einen Verteilerkasten eine gewagte Stromverbindung zusammenflickte, reichte es für einen Elektroofen und sogar für eine kleine Stereoanlage. Und so mischte sich ihr Hecheln mit den harten Beats von „Verschwende deine Jugend“.
Sie fühlten sich stark. Vielleicht zu stark. Selbstbewusstsein beinhaltet vielleicht auch die Erfahrung, sich seiner ureigenen Einsamkeit bewusst zu werden.
Irgendwann ein fast unmerkliches Hineingleiten in eine Zeit, wo ein Nein als Bestrafung empfunden wurde. Er versuchte es sich eine Zeit lang schönzureden im Glauben, dass beide zeitlebens Zuwendung häufig auch als Angriff empfunden hatten. Was will sie denn noch, dachte er dann ab einem gewissen Zeitpunkt. Ohne sich darüber im Klaren zu sein, was er selbst wirklich wollte. Rebecca – so schien es anfangs- konnte die Begegnung mit ihren eigenen Ansprüchen gut verkraften. Dann das erste Mal, als er in ihr schmerzverzerrtes Gesicht sah. Unmerklich später begann der Spaltpilz des Anspruchs sein Unwesen zu treiben. Dann das erste Mal, als er sich gedankenlos in einem
„Vielleicht bist du auch zu eng“,
verlor und vor den Schrecken des eigenen Selbst erschauderte. Zu sehr gerüttelt und schlussendlich zerrüttet in den Fliehkräften von Hoffnungen und Erwartungen. Ein Herbst machte dann wohl einen Strich durch die Rechnung…
Raphael traut sich nicht, beim Abbiegen in den Zubringer nach hinten zu schauen. Verunsichert ihn doch dieser Ausdruck, der ihm begegnen könnte. Was, wenn sie wie seinerzeit so oft in seinen gedankenversunkenen Blick eintaucht. Und ihr Lächeln in dieser einen Frage gipfeln würde:
„Was denkst du gerade?“
Er fängt sich und nimmt es mit aufgesetzter Zufriedenheit an, als er mit dem Taxi genau vor dem Eingangsportal des Congresszentrums anhalten kann. Als er sich zu ihr umdreht, nestelt Rebecca gerade an ihrer Handtasche, um diese verschwindend kleine Geldbörse hervorzukramen, die sie scheinbar seit Jahrzehnten begleitet. Raphael blickt ihr nur kurz in die Augen und schüttelt den Kopf.
„Nee, lass´ mal. Ich habe heute genug Trinkgeld eingefahren. Das geht auf´ s Haus.“
Ein leicht überraschter Blick zunächst, bevor sie den Sicherheitsgurt löst.
„Du, sorry- ich bin ziemlich knapp ´dran. Und …“.
Ihr zunächst gedankenverlorener Blick mündet in ein zaghaftes Lächeln, während sie noch im Sitzen das enganliegende Leder an den Hüften glattstreicht und sich ihre Blicke streifen.
„Danke! Nicht nur für die Freifahrt.“
Bevor sie die Tür zuschlägt, beugt sie sich nochmals in das Wageninnere und ihr
„Ich denke an dich“,
durchfährt und durchsetzt ihn wie ein elektrischer Schlag.
Bevor Raphael etwas darauf erwidern kann, tönt aus dem Funkgerät:
„12/17- wo stehen sie?“
Raphael holt nur kurz Luft, bevor er die Handbremse des Taxis löst und die Sendeeinheit aktiviert.
„Congresszentum. Gerade frei geworden.“
Leicht patzig tönt ihm aus dem Funkgerät ein
„Da waren sie doch eben schon!“,
entgegen, was Raphael mit einem
„Alle Wege führen halt nach Rom. Wo geht’s jetzt hin?“,
erwidert.
Beim Zurücksetzen des Taxameters wandert sein Blick zum Eingangsportal, um noch einen letzten Blick auf die schwindenden Konturen Rebeccas zu werfen.
Wie kann es nur angehen, denkt sich Raphael, als er beim Blick auf Rebeccas hautenge Lederkombination staunend vergegenwärtigt, dass sie weiblicher und doch unantastbarer denn je erscheint.
Leben und Erlebtes sind zuweilen schwer zu trennen. Raphael erwischt sich dabei, wie er sein Gegenüber im Innenspiegel anschnauzt: „Was hindert dich daran zu sagen: Ich fühle mich dir im Denken nah?“
Und es durchzuckt ihn die offene Frage, wo in dem Ganzen nur der Fehler liegt und dieses ganz tief verborgene Rezept zu finden ist. Irgendwie diesen Kreislauf zu durchbrechen, erst Geliebter, dann Freund und dann irgendwann nur noch Bekannter zu sein.
Das Versiegen von Leidenschaft kündigt sich nie mit einem Paukenschlag an. Was schlussendlich bleibt, ist das Leiden in seiner wohl ästhetischsten Ausformung. Wo doch an für sich nichts Schlechtes daran sein sollte, wenn man Leidenschaft und Ewigkeit in einem Atemzug nennen kann.
Raphael schüttelt sich kurz und schultert erneut die scheinbare Last des unerfüllten Daseins, bevor er das Taxi in Bewegung setzt. Was ist schon Leiblichkeit ohne die Verkörperung von Geist? Scheitert man doch allzu oft an der Relativität von Zuwendung.
Es bleibt halt immer ´was übrig…
©Einar_VonPhylen 20213009