Westmarkt
Knallblauer Oktoberhimmel. Ein leichter Wind. Frisch, aber in der Sonne ist es angenehm. Ich sitze hier in meiner alten Heimat auf einer Bank am Einkaufszentrum "Westmarkt" und trinke einen Kaffee. Westmarkt deshalb, weil es im westlichen Teil unserer Gemeinde liegt. An diese Ecke der Welt habe ich sooooo viele Erinnerungen! Hier am Westmarkt haben wir früher Fangen gespielt, Mädchen gegen Jungs, nach dem Konfirmandenunterricht. Und da vorne beim Briefkasten stand eine Telefonzelle, von der aus wir immer Telefonstreiche gemacht haben.Gibt es das eigentlich noch? Telefonstreiche? Wo doch jeder heute ein Handy hat, bei dem im Display angezeigt wird, wer anruft. Und wenn die Nummer nicht angezeigt wird, geht man gar nicht erst dran, weil man Telefonmarketing erwartet... Aber aus dem Alter für Telefonstreiche bin ich wohl sowieso raus.
Drüben zwischen den Gebäuden befindet sich ein kleiner Durchgang, dahinter lag früher eine Wiese. Heute kommt man dort nicht mehr hin. Die Stadt hat einen Wall aufgeschüttet als Lärmschutzmaßnahme und Abgrenzung von der Umgehungsstraße.
Aber früher... Eine der verstreuten Buchen, die auf der Wiese standen, war unser Anschlagplatz. Wenn man sich als Gejagte dort hin retten konnte, war man sicher. Was für ein aufregendes Gefühl das war, wenn man haarscharf vor dem Jäger dort ankam! Was sie wohl mit den Buchen gemacht haben? Verpflanzt? Überschüttet?
Eigentlich gab es keine feste Zuordnung zwischen Jägern und Gejagten, aber wenn die Jungs dran waren mit Fangen, dann war es immer Matthias, der mich gejagt hat. Wenn er mich gefangen hat, dann hat er mir ziemlich fies den Arm auf den Rücken gedreht. Das hat ganz schön gezogen. Wie alt waren wir? Zwölf? Dreizehn? Wenn überhaupt.
Vielleicht ist das bei den Kids heute anders, aber wir hatten damals noch keine Vorstellung von Dominanz und Unterwerfung. Wir hatten ja noch nicht mal eine Vorstellung vom Küssen! Aber wir haben den Kick gespürt. Ich jedenfalls. Wenn Matthias mich festgehalten hat, dann war ich seine Beute, seine Trophäe, und es war ein erhabenes Gefühl zu sehen, wie er triumphiert hat, wenn er mich mit nach hinten gebogenem Arm an den Anschlagplatz geführt hat, wo die anderen auch nach und nach wieder auftauchten.
Allerdings hätte ich mich ihm niemals freiwillig ergeben. Mehr als einmal erreichte ich vor ihm die Buche und konnte mich "frei" schlagen. Ich wollte wirklich gejagt werden. Erobert. Ehrenvoll gefangen. Das ist anders als heute. Der Baby-Dom damals, der nicht wusste, dass er einer war, musste sich das Recht erst verdienen, mich zu dominieren. Und dabei hat er noch nicht einmal etwas dafür bekommen. Er hat meinen Arm anfassen dürfen, mein Handgelenk. Sonst nichts. Und trotzdem war er stolz wie Bolle.
Ich habe damals eine Art Erregung verspürt, habe mit dem Gefühl aber noch nichts anfangen können. Erst im Nachhinein kann ich das überhaupt zuordnen. Damals, so scheint es, sind Sporen in mir verstreut worden, die danach erstmal jahrzehntelang geschlummert haben.
Vielleicht sollte ich mir das Prinzip von damals wieder zu eigen machen: Wenn ein Mann mich haben will, dann muss er mich erstmal kriegen. Muss sich als würdig erweisen. Fangen spielen im Westmarkt? Das wohl nicht. Ich lege andere Maßstäbe an heute. Eher intellektuelle als sportliche. Aber erobert werden? Das möchte ich schon. Du willst mein Herr sein? Dann musst du mir erstmal zeigen, dass du mir auch tatsächlich überlegen bist, und zwar auf den Gebieten, die mir heute wichtig sind. Schnell rennen können auch in meinem Alter noch viele, aber schnell denken…
Ist das die Antwort, die ich suche, wenn ich mich frage, warum meine Beziehungen heute sich irgendwie verkorkst anfühlen? Back to the roots? Ist nicht mein Beuteschema falsch, sondern das Auswahlverfahren? Könnte das der Weg sein, um wieder zu einer reinen, puren Erregung zurückzufinden und darauf etwas aufzubauen, das dann nicht ganz so unschuldig ist, aber um so wirkungsvoller, weil es in meinen formativen Jahren als Credo in mir Wurzeln geschlagen hat?
Die Lösung dafür ist sicherlich nicht auf einer Bank am Westmarkt zu finden. Aber für eine Inspiration ist die Gegend immer noch gut. Telefonstreiche, Fangen spielen… und Wurzeln entdecken.