Das F...wort und seine Folgen
Er hatte sich schon oft gewünscht, dass sie ein wenig aktiver im Bett und davor sein möge. „Immer muss ich den Anfang machen!“ war eine seiner gängigen Beschwerden, wenn die Rede auf gemeinsam verbrachte Liebesstunden kam.Sie war ausnahmsweise mit ihm einer Meinung, aber bei aller Emanzipation und trotz der ausgiebigen Lektüre erotischer Literatur fehlte ihr der Mut, ihm zu sagen: „Lass uns wilden, hemmungslosen Sex haben!“ oder gar zu einem beherzten Griff in seine Mitte.
Dirty Talk fand sie zwar anregend, die passenden Worte kamen ihr aber im Ernstfall nicht über die Lippen. Ein gehauchtes „Oh, mein Gott!“ hatte bisher reichen müssen, obwohl in ihrem Kopf ganz andere Vokabeln herumspukten.
Eines Vormittags, beide waren entspannt und ausgeschlafen, leicht verschwitzt nach einer warmen Sommernacht und gewillt, das vor der Tür stehende Wochenende auf die denkbar angenehmste Weise zu begrüßen.
Sie lag in seinem Arm, eine Hand auf seinem Bauch, er knabberte zunächst an ihrem Ohrläppchen und küsste sich dann weiter nach unten. Der Druck ihrer Hände wurde fester, und sie schmolz unter seinen Küssen dahin.
Natürlich hatte er keine Ahnung, dass hinter ihren geschlossenen Augen ein ganz anderer Film lief. Sie war gefesselt, in und von ihrer Phantasie.
Zwar fand sie ihn noch immer attraktiv; trotzdem brauchte sie einen drahtigen, gutgebauten, zärtlichen, in der Liebeskunst bewanderten, allen gängigen Klischees entsprechenden Latin Lover, einen Strand und Martinis bei Sonnenuntergang, um wirklich in Stimmung zu kommen.
Während sie also in ihrem Traum die Hände auf ein knackiges, braungebranntes männliches Hinterteil legte, fiel ihr nicht auf, dass die reale Kehrseite ihres Liebsten mit den Jahren breiter und weicher geworden war. Sie räkelte sich zusammen mit einem Traumkörper samt perfektem Besitzer im Sand und scherte sich nicht um kleinere oder größere Fehler am Alltagsexemplar.
Es kann vorkommen, dass in einer langjährigen Beziehung Phantasie und Erotik an Stellenwert verlieren. Sex unmittelbar nach dem Besprechen der wöchentlichen Haushaltsausgaben ist möglicherweise nicht so inspirierend wie der am erträumten Strand auf der nicht real existierenden Insel.
Auch ist ein Partner, der immer wieder den Wettbewerb um den schnellsten Orgasmus gewinnt, etwas anderes als ein erdachter Liebhaber, der all die Attribute aufweist, die frau sich zwar wünscht, aber aufgrund der gefühlten eigenen Schwachpunkte nicht zu suchen wagt.
Ganz davon abgesehen, dass der Traum-Mann alles tat, was sie sich wünschte, ohne dass sie es laut wünschen musste.
In ihrer Phantasie ließ sie sich fesseln, von vorn, hinten, im Stehen oder Sitzen nehmen, sie schrie vor Lust und talkte so dirty, wie sie es im wirklichen Leben niemals getan hätte.
Jetzt sank sie zurück, dachte „Besorg’s mir!“, sagte nichts, bog den Rücken durch, während die Abendsonne ihre goldenen Strahlen auf ihren verschwitzten Körper warf, der Sommermorgen ein erstes Grau zeigte, der Traumlover ihren Unterleib in einen Ozean der Lust verwandelte und der Liebste stöhnte: „Schatz, ist es okay, wenn ich komme!“
Sie nahm all ihren Mut zusammen.
Sie kannte die Wörter. Sie wollte sie aussprechen. Sie würde sie aussprechen! Sie holte tief Luft und stöhnte ihm laut und deutlich ins Ohr: „Fick mich!“
Er sprang auf. „Was glaubst Du, was ich hier die ganze Zeit tue? Blumen gießen? Nein, meine Liebe, ich rammel mir gerade den Wolf, und ich brauche keine Ratschläge! Echt nicht! Ne, nicht mit mir!“
Sprach’s, verschwand auf dem Balkon in dichten Rauchschwaden und nahm den Latin Lover mit.