Odysseus
ODYSSEUSAls sie nach der Vorlesung aus dem Haus trat, goss es in Strömen. Das Buch fest an sich gepresst, rannte sie über die Straße zu dem Cafe`. Durch den abendlichen Wolkenbruch war es noch voller als gewöhnlich. An einen Tisch für sich allein war nicht zu denken, und so setzte sie sich zu zwei Frauen, um noch ein wenig zu lesen und einen Wein dazu zu trinken. Sie hatte einen Kurs über Homers „Odyssee“ belegt, um mehr über den Helden und seine Abenteuer zu erfahren, die ihr seit ihrer Kindheit so gut gefielen.
Sie bemerkte ihn, als er sich langsam durch die Enge der Tische und Stühle bewegte, um am Nachbartisch zu Freunden zu gelangen. Es durchfuhr sie wie ein Blitz, denn er hatte das Gesicht, das sie sich seit Jahren für Odysseus vorgestellt hatte. Ein eckiger Schädel, leicht ergrautes Haar und sonnengebräunte Haut. Nachdem er sich gesetzt hatte, konnte sie nur noch sein Profil sehen. Die lange, schmale Nase, starke Wangenknochen und seine Lippen. Vielleicht hatte er ihren intensiven Blick gespürt, denn er schaute plötzlich zu ihr herüber und lächelte, und sie blickte verlegen schnell wieder auf ihre Buchseite. Sie nahm ihre Brille ab und putzte sie. Mit viel Mühe zwang sie sich zum Lesen.
Die Frauen an ihrem Tisch verließen das Lokal, und sie wagte wieder einen heimlichen Blick zu ihm hin. Er lachte mit seinen Freunden.
Dann kehrten ihre Augen zurück zu den Irrfahrten des listenreichen Seefahrers.
Als er einen Stuhl an ihren Tisch zurückschob, erschrak sie so, dass ihr Buch zu Boden fiel. Er entschuldigte sich, hob es auf und fragte, was sie da lese. Während sie ihm antwortete, nahm er sein halbvolles Glas vom Nachbartisch und setzte sich zu ihr, denn seine Freunde waren gegangen.
So begann ihre Unterhaltung.
Sie erfuhr, dass er aus Mazedonien stammte, und fragte ihn nach seiner Heimat. Er erzählte von seiner Kindheit am Meer. Von dem kleinen Dorf mit den eng aneinander gebauten Häusern, von den hellen Tagen, an denen er auf den Feldern der Umgebung Erdbeeren, Gurken oder Melonen geerntet hatte. Von dem wundervollen Brot, das seine Mutter backen konnte, und dem Schafskäse seines Nachbarn. Und dazu junge, scharfe Zwiebeln, schwärmte er.
Während er sprach, konnte sie ihn unverhohlen betrachten. Sein breite Stirn, seine Augenbrauen und die kleinen, tief eingegrabenen Falten um seine Augen. Hatte er so viel mit den Gefährten gelacht oder die Augen zusammen gekniffen gegen die Sonne, die sich auf dem Meer spiegelte?
Er war auf dem Weg zu seiner Tante in der Türkei und von dort aus wollte er nach Amerika fliegen. Überall Familie, auf der ganzen Welt, sagte er lachend, und nahm einen Schluck aus seinem Glas.
Also doch ein Seefahrer, ein Abenteurer, ein Odysseus, dachte sie. Sie schaute auf seine Hände, die waren gepflegt. Aber sie stellte sich vor, dass ihre Innenseite rau und verhornt sei, sie sah salzverkrustete Taue durch sie laufen oder wie sie fest das Ruder hielten. Seine Unterarme waren behaart, seine Schultern nicht zu breit, aber kräftig. Jedes Detail prägte sie sich ein. Seine Lippen, die Lippen des lachenden Erzählers, waren ein wenig rissig. Von den Befehlen, die er seinen Gefährten gegen den Wind zu geschrieen hatte? Von den salzigen Stürmen, die ihn an Deck gehalten hatten?
Die Bedienung kam zum Kassieren, weil das Cafe` schließen wollte. Sie traten gemeinsam nach draußen in den anhaltenden Regen. Er dankte ihr für das schöne Gespräch. Ohne die geringste Andeutung zog er sie an sich und gab ihr einen Kuss. Einen langsamen, zarten und trotzdem fordernden Kuss. Seine Lippen fühlten sich gar nicht rissig an.
Er ließ sie los und ging mit schnellen Schritten in die Regennacht.
Auf sein Schiff, zu den Gefährten, auf neue Fahrt.
Sie atmete tief aus. Für eine Stunde war sie Ankerplatz gewesen, eine Nausikaa, Circe oder Kalypso.
Das Buch fest an sich gepresst, rannte sie zu ihrem Auto.