Adventsgeschichten 2021 - Das pralle Leben

Guten Morgen, Ihr liebe Alle, trotz der in Gänze wenig schönen Nachrichten möchte ich verkünden, wem wir unsere gestrige Geschichte zu verdanken haben: es war @*********ynter, die uns eine Außensicht auf uns Erdlinge gezeigt hat

Heute geht es um ein besonderes Spiel, wenn ich die Geschichte richtig verstanden habe.

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BOXING DAY

Da sind wir wieder pünktlich zur zweiten Halbzeit unserer Liveübertragung des Klassikers Eltern gegen Kinder. Ein ganz besonderes Match an einem ganz besonderen Tag. Der Classico unter den Eltern-Kinder-Matches: Das Heiligabend-Derby.
Heute Abend das Derby der Familie Wayn, bei dem besondere Spielregeln gelten. Alles erlaubt. Keine Abseitsregel, keine Fouls. Verboten sind nur Waffen und der sinnlose Gebrauch von Gewalt. Wohlbemerkt ist der „sinnvolle“ Gebrauch nach wie vor strittig, ob er zu erzieherischen „Zwängen“ möglich ist, doch ist diese Streitfrage nicht mehr aufgekommen, seitdem sich die Kräfteverhältnisse gewandelt haben.

Ich freue mich nun diejenigen begrüßen zu dürfen, die, mit einer halben Gans im Bauch, eben erst zugeschaltet haben. Die zweite Halbzeit geht in wenigen Minuten los. Wir haben also noch ein wenig Zeit Sie auf den neuesten Stand zu bringen. Beide Teams treten heute in Stammformation an. Für Team Eltern läuft Papa Rainer heute auf, der Routinier, „das Schlachtross“. Papa Rainer spielt heute eine echte 6 und eine falsche 8. Vom Gegner oft geschmäht als bloßer Wasserträger seines Stars, zeigt er heute sein Können Tempo aus dem Spiel zu nehmen und seinen Star in Szene zu setzen, womit wir schon beim Superstar des heutigen Abends wären: Mama Ute, die Hand und der Fuß Gottes. „The Giftnudel“. „Die Gute Ute“. Sie dirigiert das Spiel mit genialen Pässen in die Schnittstellen der gegnerischen Abwehr oder dribbelt durch ihre Reihen, als wären sie kleine Kinder. Es wird ungemein schwierig für den Gegner sie gestellt zu bekommen.

Auch Team Kinder läuft heute in Stammformation auf. Sohn Alexander und Tochter Fanny, die zwar beide keine Amateure mehr sind, aber weder über die Technik, noch über den legendären Biss von Mama Ute verfügen. Die Ziele, die das Team Kinder heute erreichen will, ja erreichen muss, sind pekuniärer Natur. Mal wieder. Wir dürfen gespannt sein. Wobei Zwischenstand und Statistik eher zugunsten Team Eltern spricht. Nach den Anfangserfolgen der früher Jahre feiern die Eltern eine Serie von zweiundzwanzig siegreichen Partien. Was sich, wie gesagt, auch im Zwischenstand des heutigen Abends widerspiegelt. Die Eltern führen zum Pausentee mit 2:0.
Wie kam es dazu?

Nun, das Fundament für die Führung haben die Eltern schon in der akribischen Vorbereitung auf dieses Match gelegt. Sie haben sich penibel vorbereitet und das Terrain bearbeitet, wobei die Kinder heute eher untrainiert wirken. Der Mangel an Spielpraxis ist ihnen anzumerken, ebenso wie der offensichtliche Mangel an Schlaf und vernünftiger Ernährung.

Fanny ist nachhause gefahren für Weihnachten. Ihr Bruder Alex ebenso. Dass sie das immer noch tun, ist keine Traditionspflege. Auch liegt das nicht an der Liebe zu ihren Eltern, sondern an der eigenen Einsamkeit infolge von immer wieder beendeten Beziehungen und an der eigenen Armut infolge von immer wieder beendeten Arbeitsverhältnissen. Ihre Eltern sahen darin ein Muster. Fanny und Alex nicht. Fanny und Alexander sahen den Zusammenhang eher zwischen den Eltern und dem eigenen Scheitern. Aber genau dafür gibt’s ja Eltern.

Der heutige Tag begann wie die meisten anderen. Fanny wachte in ihrem Bett auf und wünschte woanders zu sein und Alexander machte das, was er schon früher immer morgens gemacht hatte, nur dass er keinen Otto-Katalog dafür gebrauchte. Ein Tag wie die meisten auch. Dabei ist er nicht ein Tag wie die meisten anderen und das ist das, was Team Kinder wohl nicht ganz erfasst hat. Der heutige Tag hat seinen eigenen Namen: Heiligabend. Boxing Day. Tag des Classico. Ein Tag von großem Gewicht. Ein Gewicht, das so groß ist, dass der Tag unter ihm meistens zerbricht, weil er dem Gewicht nicht gewachsen ist. Ein Gewicht, das so groß ist, weil jeder diesen Tag zusätzlich – und man möchte sagen unnötig – belädt mit Erwartungen, die ein einzelner Tag gar nicht erfüllen kann. Ein Tag kann schön sein, oder auch nicht. Aber er kann schwerlich Risse kitten und Wunden heilen.
Oder anders gesagt: ein Heiligabend alleine kann keine Familie machen, eine Familie alleine kann einen Heiligen Abend machen. Aber genug der Fußballweisheiten und zurück zum Spiel.

Das Spiel wurde zu Beginn von beiden Seiten ausgesprochen verhalten geführt. Vorsichtiger Spielaufbau. Abtasten. Keiner wollte einen Fehler riskieren und so belauerten sich die beiden Teams in dieser ersten Spielphase. Um 09:32, im Keller, bei der eigentlich unverfänglichen Suche nach irgendeinem Römertopf, von dem der weibliche Teil der Familie behauptete, der Topf sei dort unten, während der männliche Teil der Familie von der Existenz eines solchen Topfes keinerlei Kenntnisse hatte, dann der erste ruppige Zweikampf zwischen Rainer und Alex. Ein Streit über das Jurastudium, das Alex nach dem 5. Semester abgebrochen hat. Um 09:43 dann aber Versöhnung, die Rainer mit dem Arm auf der Schulter seines Sohnes besiegelte. Dieser Frieden währte allerdings nicht lange, denn schon um 09.47 kam das gescheiterte BWL-Studium auf’s Tapet kurz bevor der Römertopf, zur partiellen Verblüffung, tatsächlich aufgefunden wurde und Vater und Sohn simultan ausriefen „Ach, dieser Topf! Ja, der…“

Diese Kellergeplänkel waren zwar sehr hart geführte, intensive Zweikämpfe, doch etwas Zählbares sprang dabei nicht heraus. Ganz anders in der Küche, wo Ute und Fanny aufeinandertrafen. Die Küche war schon in der Vergangenheit Schauplatz legendärer Zweikämpfe und spektakulärer Strafraumszenen. So auch erstmals um 09:43. Ute tankte sich durch zu Fanny, berührte sie mit der Schulter und warf einen gekonnten Blick auf das Schneidebrett, auf dem Fanny gerade die Karotten würfelte. Ein Blick. Zwei Sekunden lang und Fanny geriet ins Straucheln. Sie kennt dieses Tackling, hat es aber heute nicht kommen sehen, stürze und landete mit dem Gesicht im Rasen. Bodycheck. Ungeahndet. Fanny lag auf dem Boden und atmete Grashalme ein, während Ute triumphierend an der Mehlschwitze weiterrührte und auf 1:0 stellte.

Fanny konnte und wollte das nicht auf sich sitzen lassen. Grashalme einatmen wie eine 12-jährige hatte ihr nicht geschmeckt. Vom Anstoß weg zog sie über den linken Flügel davon und war bereit zu flanken. Eine Frage nach der Konfektionsgröße. Einstudierter Spielzug. Sie hätte einen Merinostrickjacke gesehen, für Silvester, und frage sich nun : „ob 42 noch ok ist, oder doch lieber 44…oder…46? *unschuldigguck“. Ohre Papa Rainer bekäme Ute diesen Ball nicht herausgeköpft. Die Schwachstelle Utes. Als Ute aber aus dem Wohnzimmer zurückkam, hielt sie in den Händen etwas was aussah wie der Weihnachtskranz für die Türe, den Fanny in der 4. Klasse gebastelt hatte. Fanny verlor ihre Ordnung und den Ball. ‚den hat sie also immer noch‘. Gerührt berührte sie Ute mit der Hand an der Schulter und wollte schon ihre Wange darauf legen, als Ute nahtlos in den Konter über ging. „Das hat die Enkeltochter von Uschi in der Schule gemacht, ihre Katherina war doch mit dir in der Klasse, oder…?“ Bämm! Fußball total. War sie, die Katha. 2:0.
In der Folge schaltete Ute ein, zwei Gänge zurück, wollte ihren Gegner nicht demütigen, ließ aber auch in der Verteidigung nichts mehr anbrennen. Sie tackelte weiterhin robust mittels Blicken, ließ aber ihr Arsenal an legendären Giftsprüchen für’s Erste im Schrank.

Jetzt: 13:10 Uhr.
So! Die Teams sind wieder auf dem Platz. Pünktlich zur zweiten Halbzeit beginnt das Mittagessen. Wir sind jetzt live dabei. Viel Vergnügen!

Geplänkel. Team Kinder spielt sich den Ball hin und her. Sie witzeln über die Ampel und zitieren abwechselnd Böhmermann und Welke. Rainer nimmt den Ball auf. Welke kennt er auch. Schaut er auch. Und den schlacksigen Böhmi, wie er ihn nennt, kennt er auch. Er mag ihn. Wie aus dem Nichts fragt plötzlich Fanny nach der Boosterimpfung. „Seid ihr schon geboostert?“ Unverfänglich, aber direkt. Ist das Rot oder noch erlaubt? Blicke wechseln Richtung und Adressaten. Ratlosigkeit. VAR? Ute wagt den Befreiungsschlag: „Das machen wir im neuen Jahr…Jetzt essen wir…!“

„Wie, im neuen Jahr? Die zweite war doch im Juni hattest du gesagt…“, reagiert Fanny blitzschnell.

Papa, zwei Schritte vor der Strafraumgrenze mit der Grätsche: „Lass uns nicht heute darüber diskutieren…“

„Das will ich jetzt aber auch wissen…“, setzt Alex bestimmt nach. Das Interesse ist ihm anzumerken.

„Jetzt ist Heiligabend…“ Ute versucht das Spiel zu beruhigen und den Ball aus der eigenen Hälfte zu schlagen.

„Was denn diskutieren? Das ist Mathematik. 6 Monate nach der Zweiten. Wollt ihr keinen Schutz?“

„Was heißt denn hier Schutz…?“, rümpfte Ute die Nase.


„Wir haben uns bisher noch gar nicht geimpft und leben noch…“, gab Papa leichtfertig zu bei dem Versuch Ute beizustehen. Möglich auch, dass er das Bedürfnis hatte, das seinen Kindern gegenüber preiszugeben. Ist das Unsicherheit? Auf jeden Fall ein Böser Schnitzer. Böse Blicke von Mutter Ute.


Jetzt redet jeder gleichzeitig. Intensität steigt. Spiel steht vor dem Abbruch. Chaos. Rauchwerk. Trommeln. Die Gute Ute schlägt mit der Hand auf den Tisch. Sie brüllt: „Es ist Heiligabend!“

„Na und?“, fragt Fanny mit ihrem zwölfjährigem Gesicht.

„Können wir nicht wenigstens an Weihnachten nicht über die ganze Coronasache streiten?“


„Mensch, Mama, ganz Deutschland streitet sich darüber!“

„Ja eben. Ich streite mich jeden Tag auf Spiegel Online. Dann müssen wir uns nicht auch noch hier streiten. Wir sind eine Familie! Wir sprechen später darüber…“, spielte Papa den Ball flach ins Seitenaus, an dem aber Fanny steht, den Ball abfängt und bereit ist zur Grundlinie durchzustoßen und hoch hineinzuflanken.
„Ich versteh das einfach nicht. Wie blöd muss man…“ Alex hielt seine Schwester kräftig am Arm fest. Einen Spielabbruch wollte er nicht riskieren. Schließlich lief das Jahr nicht gut und im Januar sind Rechnungen zu bezahlen. Üble Rechnungen und sein Dispo ist ausgereizt. Die Bank will mit ihm sprechen. Sein Weihnachtsgeschenk dieses Jahr ist eine Einladung zu einem selbstgekochtem Essen. Und zwar an Eltern und Schwester. Seine Schwester, das ist ihm auch sehr wohl bekannt, ist seit der Trennung in einer sehr prekären Phase, wohnt in einer WG bei Freunden, wo sie „noch“ keine Miete zahlt und muss in der neuen Wohnung, die sie alleine aufgetan hat, sechs Monate Kaution im Voraus entrichten. Müßig zu erwähnen, dass sie das nicht kann.
‚Also ja, kein Spielabbruch riskieren…‘

„Aber wir sprechen noch darüber…“, zischte Fanny noch nach und warf ihrem Vater dabei einen bösen Blick zu, wohlwissend, dass er diese Blicke seiner Tochter nicht abgewehrt bekommt.

„Was macht die Prostata? Wirken diese Kürbisteile jetzt?“ 2:1. Aus dem Nichts. Fernschuß. Unterlattenknaller. Fanny hat von der besten gelernt.

„Ja und Nein. Er wechselt zweimal am Tag die Unterwäsche…“ Für welches Team spielt Ute? Hat sie vergessen, für wen sie heute aufläuft und wähnt sich im Einzel gegen Rainer oder konnte sie einfach nicht anders? Konnte sie der sich bietenden Gelegenheit nicht widerstehen?

Rainer steht auf. Alex geht mit, dreht sich zu Fanny und wirft ihr einen Blick zu, der sagt: ‚Musste das jetzt sein?‘ Fanny zuckt nur leicht mit den Schultern.

„Erzähl‘ doch Mama von deiner neuen Wohnung…Etwas teuer, aber schick…“ Ok. Jetzt ist *Jeder Gegen Jeden*.

Ute blickt Fanny fragend an und spielt dabei die Unvoreingenommene. Fanny ist aber weiterhin angriffslustig und will sich nicht hinten reindrängen lassen: „Ich habe eine Strickjacke aus Merinowolle gesehen…“, Fanny fährt ihren geplanten Angriff über links.

„Der Kevin hat geheiratet…“ Eiskalter Konter von Ute. 3:1. „Du weißt, der Kevin, mit dem du in der Schule warst. Wart ihr nicht zusammen?“ 4:1. Doppelschlag. Sie waren zusammen gewesen. Kevin war Fannys große Liebe gewesen. Ute ist einfach nicht zu schlagen. Die Eiskönigin.

Rainer und Alex kommen aus der Küche zurück und wirken konspirativ. Hat es einen Teamwechsel gegeben? Läuft jetzt *Männer gegen Frauen*. Was ist hier los? Für die Wayns wäre das nicht ungewöhnlich. In dieser Familie wechseln Koalitionen schneller als die Farben der LED-Lichterketten am Weihnachtsbaum.

„Alex hat mir eben erzählt, dass du einen neuen Job suchst und gar nicht weißt, wie du die neue Wohnung finanzierst…“, prahlte Rainer siegessicher, während Alex zufrieden strahlte, weil seine Januarrechnungen einen Finanzier gefunden haben. 4:2 Eltern gegen Kinder oder 1:1 Frauen gegen Männer oder…?
„Ich bin schwanger…!“ 3:0 Fanny gegen alle. Fanny strich genüsslich über ihren etwas prallen Bauch und strahlte, wie nur werdende Mütter strahlen. So sehen Sieger aus.