Das zweite Türchen ...
... öffnet sich gleich hier, wenn ich unsere gestrige Geschichtenschreiberin aufdecke
. Es war unsere
@*******tee
Die heutige Geschichte handelt von Leben und Tod. Das Leben ist prall und der Tod mager - so habe ich es verstanden
_________________________________________________________________________
Überlegen über Leben überleben
Träge strömte das eiskalte, dunkle Wasser durch die stählernen Bögen der roten Brücke. Ein Flickenteppich aus Nebelschwaden waberte über das flache Land, bleich schimmernd im fahlen Licht des Vollmonds. Eine Lichterketten aus nackten Glühbirnen beleuchte die Stahlkonstruktion der Brücke und warf warmes Licht auf Laura, die am Geländer stand und in die Tiefe starrte. Ihr Hände krallten sich an der Brüstung fest, als wären sie bereits angefroren. Nach eine Weile zog sie sich an einer Querstrebe der Brücke hoch, um sich auf das Geländer zu setzen. Für ihren sportlichen, hochgewachsenen Körper keine Schwierigkeit, ihr Gesicht zeigte keine verzerrte Miene der Anstrengung. Wie ihre Mimik überhaupt keine Regung zeigte: Es war weder Wut noch Überschwang zu erkennen. Keine Trauer, keine Freude. Vielleicht so etwas wie Ratlosigkeit und Resignation. Kein Zeichen von Frösteln oder Frieren, obwohl sie mit diesem grauen Businessanzug viel zu leicht bekleidet war für die eisige Kälte dieser Dezembernacht.
Höhnisch grinste ein von innen beleuchteter Plastikweihnachtsmann, der auf die höchsten Bögen der Brückenkonstruktion montiert wurde, auf die Szene herab.
„Ade, schnöde Welt“, flüsterte sie. Dabei rauschten viele ihrer missratenen Lebensmomente durch die von Sekt und Schnaps getrübten Erinnerungsschleifen ihres Verstands. Ihre ständig wechselnden Jobs, ihre immer wieder kehrenden finanziellen Schwierigkeiten, ihre unzähligen Umzüge von einer schlechten Mietwohnung zur nächsten nicht haltbaren Hoffnung auf Sesshaftigkeit. Ihre letzte Liebesbeziehung vor fünf Jahren mit Lars, der gerne ihre Brüste in den Händen hielt, aber nicht sie auf eben diesen tragen wollte – und der schon gar keinen Bock hatte auf einen pubertierenden Teenager, ihren Sohn Leon, ohne den Laura für einen halbwegs geregelten Alltag als Paar nicht zu haben war.
„Ich gehe – niemand wird mich vermissen – keine Spuren habe ich hinterlassen.“ Unruhig rutsche Laura mit dem für ihr Alter immer noch recht gut geformten Hintern auf dem Geländer der Brücke vor und zurück.
„Bist du sicher, dass du keine Spuren hinterlassen hast?“
Die Stimme aus dem Off kam für Laura überraschend. Beinahe wäre sie vor Schreck in die Tiefe gestürzt und wahrscheinlich hart auf eine Eisscholle gefallen, die gerade verloren auf dem Wasser trieb.
„Halt die Klappe!“, schrie Laura erschrocken. Ihr dunkles, schulterlang geschnittenes Haar wehte wild im Wind, während sie wütend den Kopf nach hinten warf. „Ich wollte ertrinken, nicht mit dem Kopf auf eine Eisscholle knallen“. Sie blickte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Voller Überraschung registrierte sie einen jugendlich aussehenden Typen, der aus der Zeit gefallen erschien. Er bemerkte ihren verwunderten Blick und konterte zugleich:
„Ich weiß. Punk's not dead I know!“
Laura musste lachen: „The Exploited? Verdammt lange her ...“
Nur wenige Meter neben ihr stand ein Punk wie aus dem Bilderbuch. Schwarze Springerstiefel, rote Schnürsenkel, die Jeans mit weißen Säureflecken und Rissen, Brandlöchern und Sicherheitsnadeln an den verschiedensten Stellen. Um die Hüfte hing ein schwerer Nietengürtel mit einer Halterung für Dosenbier. Die Hansa-Pils-Dosen wirkten wie Exemplare aus den achtziger Jahren. Über dem dünnen T-Shirt trug er eine Lederjacke, die man mit Sicherheit nicht an der Garderobe aufhängen musste, da sie von selbst stehen blieb, gespickt mit Nieten, Aufklebern und wirren Beschriftungen. 'Chaos-Treff 86' konnte sie unter anderem entziffern. Das Highlight aber war die Frisur des jungen Mannes. Mächtige Irokesen-Dornen thronten in der Mitte des kahl rasierten Schädels, was durchaus zum Outfit passte. Seltsam waren nur die kleinen leuchtenden Engelsflügel, die an der größten Haarpyramide beidseitig flatterten, beinahe schwerelos und merkwürdig transparent lumineszierend.
„Ja, schau nur. Ich weiß, mein Outfit passt nicht mehr so ganz zu meinem Job. Und bevor du fragst: Ja, ich bin ein Engel. Mein Schicksal. Wenn du jetzt springst, bleibt es dir erspart. Selbstmörderinnen werden selten ins Reich der Engel geholt.“
Laura sah sich unsicher um und rechnete damit, dass Kurt Felix hinter einem Versteck auftauchen und fragen würde: 'Verstehen Sie Spaß?' Aber der war auch schon seit fast 10 Jahren tot.
„Ein Engel? Du? Dann bin ich Angela Merkel!“
„Ich weiß nicht, wer Angela Merkel ist, aber ich weiß, du bist Laura. Laura Paulus, geboren am fünften Oktober Neunzehnhunderfünfundsechzig, ein älterer Bruder, eine jüngere Schwester, Vater Maurer, Mutter Hausfrau. Als Kind immer ängstlich, aber sehr kreativ, als Teenager wild und ...“
„Danke. Ich kenne meine Lebensgeschichte und will sie gerade in diesem Moment nicht hören. Oder was denkst du, wieso ich mir hier auf dem Geländer den Arsch abfriere?“
„Du willst springen. Kannst du machen. Ich verstehe dich. Ich wollte auch immer in die Hölle. Jedenfalls sagte mein Vater immer: 'Mein Sohn, eines Tages wirst du in der Hölle schmoren'. Nicht mal das konnte ich ihm recht machen. Jetzt hänge ich im Reich der Engel herum und versuche, meinen Job zu machen. Allerdings wird es nichts mit meinem Kühlschrank, wenn du jetzt springst.“
„Welcher Kühlschrank?“, fragte Laura skeptisch. Sie glaubte immer noch an die Zombie-Erscheinung von Kurt Felix.
„Ich habe einen Kühlschrank beantragt. Voll mit Hansa-Pils-Dosen für immer und ewig, niemals enden soll der Vorrat. Ich habe da einige Punks im Engelreich gefunden, mit denen sich schön gechillt abhängen lässt.“ Er zog eine Bierdose aus seinem Gürtel und öffnete sie zischend: „Oberengel Samuel rückt den Kühlschrank aber nur raus, wenn ich bis Weihnachten noch mindestens ein Leben rette.“ Der Punk setzte die Dose an, leerte sie in einem Zug, zerdrückte das Blech und warf es scheppernd über die Brüstung.
„He“, kam von unten ein empörter Ruf. „Ich bin nicht hier, um Dosenpfand zu sammeln!“
Laura schaute nach unten und wunderte sich: „Und wer ist das jetzt?“
Der Punk rülpste kurz, bevor er gelangweilt weitersprach: „Sicher mein Widersacher, der Tod, die alte Nervensäge.“
Der Tod war kein Sensenmann. Unten am Ufer stand ein typischer Geschäftsmann, wie aus dem Ei gepellt. Die blonden Haare frisch geschnitten und geschniegelt, schlanke Figur im dunkelblauen Anzug mit Einstecktuch in der Brusttasche. Die Augen leuchteten hellblau wie Aquamarine. Das Gesicht glatt rasiert und geübt im Einsatz von Falten- und Feuchtigkeitscremes.
„Dich wollte ich empfangen, liebste Laura, nicht die leere Dose dieses Flegels“, erklang seine süße Stimme. Der Punk stöhnte genervt.
Laura grunzte verwundert. Die letzten Stunden waren zu viel für ihren Verstand. Erst die Absage ihrer Kinder, die sie nicht zum Heiligabend besuchen wollten. Dann die Kündigung ihres Mietvertrags in der Post. Zuletzt die verkorkste Weihnachtsfeier ihres Arbeitgebers, die dazu führte, dass sie sich in naher Zukunft einen neuen Job wird suchen müssen. Der Brief vom Arzt mit der Diagnose ihrer letzten Untersuchung lag noch ungeöffnet auf dem Küchentisch.
Nun hockte sie hier auf einer arschkalten Brücke und unterhielt sich mit einem verrückten Engel und dem schönen Tod. Eigentlich wollte sie nur ganz in Ruhe und alleine ihrem trostlosen Leben ein Ende setzen.
„Spring, Laura, spring. Die sanfte, dunkle Ruhe des Todes ist durch nichts zu ersetzen, was du aus dem harten, kalten Leben kennst. Spring, es soll nicht dein Fehler sein. Ich begleite dich auf deinem Weg ...“
„Halt die Fresse!“, unterbrach der Punk den Tod, „als abgehalfterter Versicherungsvertreter gehst du ja noch durch, aber deine Werbung für ein schönes Lebensende ist nicht sehr überzeugend.“
„Och“, zuckte Laura die Schultern, „zumindest schaut er ganz gut aus.“
„Wovon du weit entfernt sein wirst, wenn erst mal die Würmer an dir nagen.“
„Kann mir dann ja egal sein, wie mein Körper aussieht.“
„Dein Körper ist dein Tempel“, erwiderte der Punk leise, „und ein ganz schöner noch dazu“, grinste er frech.
Laura war nicht hier, um sich Komplimente abzuholen, auch wenn es ihr nach wie vor schmeichelte, auf ihre sportliche Figur angesprochen zu werden. Genervt stellte sie fest: „Wieso sind hier eigentlich nur Männer? Hätte ich als Frau nicht einen Anspruch auf mehr Gendergerechtigkeit in einem entscheidenden Moment wie diesem?“
Der Tod lachte vom Flussufer nach oben: „Wie stellst du dir das vor, liebe Laura? Soll es in Zukunft heißen: 'Sie starb viele Tod*innen?' Oder: 'Gestatten? Ich bin die Todin?' Und was soll aus dem Sensenmann werden? Eine Sichelfrau? Aber bitte, wie du willst ...“
Es machte kurz 'puff', ein kleiner Blitz und eine Rauchwolke gleich einem Miniaturatompilz stieg auf. Unten am Ufer stand eine glitzernde Kopie von Helene Fischer.
„Mein Gott, mir wird schlecht!“, würgte Laura, „bleiben wir lieber beim Maskulinum.“
Langsam verwandelte sich der Tod wieder zurück zu seinem geschäftlichen Männerbild.
„Tut mir leid“, zuckte der Punk die Schultern und streckte die Arme ahnungslos von sich: „Die Frauen, die ich früher kannte, haben alle die wilde Zeit überlebt. Sind Hausfrauen und Mütter geworden oder haben Karriere gemacht und sind sonst irgendwie zu fetten Spießerinnen mutiert.“
„Gut. Lassen wir es. Die Emanzipation soll jetzt nicht mehr mein Problem sein, auch wenn ich es als Mann vielleicht leichter gehabt hätte im Leben. Dann wäre die Beförderung schon längst durch und es wäre nicht der Blödmann Bodo bevorzugt worden.“
„Komm' mit mir, Laura. Im Reich der Toten sind alle gleich. Wir machen keinen Unterschied zwischen Männlein, Weiblein oder anderen Formen des Geschlechts. Seelen lieben sich grenzen- und formlos.“ Es schien, als stünde der strahlende Tod nun im Kegel eines Scheinwerfers, doch es war nur die Straßenlampe des Fußwegs, der am Ufer entlang führte.
„Wieso eigentlich willst du dein Leben so unschön beenden, Laura?“ Der Punk hielt ihr ein Dosenbier hin.
„Wieso?“, wiederholte Laura nachdenklich, „Nun: Ich habe bald keine Wohnung mehr. Mein Job geht flöten. Meine Kinder wollen nichts mehr von mir wissen. Leon ist ausgezogen, weil er als Impfgegner von den Querdenkern gegen mich Geimpfte aufgehetzt wurde. Meine Tochter lebt mit Mann und Kind im eigenen Einfamilienhaus und schämt sich für die erfolglose Mutter. Mein ältester Sohn zieht durch die Welt und hat nie wirklich was erreicht. Dabei war er mit so vielen Begabungen gesegnet.“
Sie nahm die Bierdose entgegen und drehte sie nachdenklich in den Händen.
„Ich werde meinen Ruhestand in Altersarmut verbringen, weil ich jahrelang selbstständig arbeitete, um Broterwerb und Kinder unter einen Hut zu bekommen. Vielleicht erlebe ich den Ruhestand aber gar nicht. Der Planet hat ein Programm gestartet, um den Menschen los zu werden. Überall auf der Welt gibt es neue Faschisten und der Verteilungskampf wird härter. Wir haben eine neue Regierung, die bereits während der Koalitonsverhandlungen alles in die Tonne trat, wofür sie gewählt wurde. Das Klima spielt verrückt und Thomas Gottschalk kommt wieder ins Fernsehen. Fehlt nur noch, das bunt bedruckte Leggings wieder Mode werden und sich Dieter Bohlen und Thomas Anders zu 'Modern Talking' wieder vereinen ...“
„Stopp!“ schrie der Punkengel panisch, „jetzt malst du aber wirklich den Teufel an die Wand!“
„Politik, Kultur, Klima – solchen Themen spielen bei uns keine Rolle. Entspanne dich und spring, Laura!“ forderte die süße Stimme vom Flussufer.
„Er ist hartnäckig, oder?“, blickte Laura fragend zum Punk an ihrer Seite.
„Ganz Businessman halt“, antwortete er, „nicht meine Welt.“
„Meine auch nicht, auch wenn ich es immer wieder versuchte ...“ dachte Laura nach. „Wie heißt du eigentlich?“
„Ich bin Olli. Derzeit wohnhaft Wolke 911-2-2-1979.“
„Wie bist du gestorben?“
„Es waren die Chaos-Tage 1986. Ein großes Punk-Treffen. Ich war total verknallt in Ulli. Der Riss in ihre karierten Jeans, knapp unterhalb der Arschbacke, zog mich magisch in ihren Bann. Besoffen folgte ich ihren Wegen und war dadurch unachtsam, als das wahre Chaos ausbrach. Ich verstarb unter den Rädern eines Wasserwerfers der Bundespolizei ...“ Olli stierte gedankenverloren in die Ferne.
„Tut mir leid, ich kann mich noch an die Zeiten erinnern. Manche der Toten waren nicht mal eine kleine Zeitungsmeldung wert.“
„Darauf eine Rakete“, freute sich Olli und reichte Laura einen rostigen Nagel.
„Rakete?“
„Ganz einfach. Dose umdrehen, ein Loch unten ins Blech machen. Am Mund ansetzen, Dose wieder mit der regulären Öffnung nach oben drehen und die Lasche abziehen. Dann lass' es einfach laufen!“
„Richtig“, murrte der Tod am Ufer, „sauft euch nur zu Tode. Ha ha ha!“ Er fühlte sich scheinbar zu wenig beachtet.
Laura behandelte die Bierdose nach Ollis Anweisungen und er tat es ihr gleich mit seiner Dose. Das kalte Bier schoss in Sekundenschnelle in Lauras Magen und die Kohlensäure drückte den Alkohol sofort ins Blut. Ein gar nicht damenhaftes Rülpsen entfuhr ihren Lippen, nachdem sie die Dose zerknüllt und dem Tod vor die Füße geworfen hatte. Dieser protestierte nur stumm mit verschränkten Armen. Laura und Olli lachten herzhaft und albern.
„Das wäre jetzt aber albern, wenn eine Bierdose mein Leben rettet.“
„Bist du sicher, dass es nur die Bierdose ist, die dein Leben rettet?“
„Was sonst?“
„Vielleicht das pralle Leben?“
„Pralles Leben?“ Laura winkte verächtlich ab.
„Genau“, störte der schöne Tod von unten, „pralles Leben ist eine Lüge. Es besteht nur aus Plackerei und Mühsal, danach stirbst du sowieso!“
„Von einfach war nie die Rede“, entgegnete Olli lakonisch.
„Dumme Kalendersprüche könnt ihr euch sparen“, murrte Laura. „Hast du noch ein Bier?“
„Leider leer. Geh zurück zu deiner Weihnachtsfeier. Ich wünschte, ich könnte an solchen Partys teilnehmen. Früher war 'no future'. Heute wäre ich selbst gern spießig in einem spießigen Öko-Haus mit einer spießigen Öko-Frau mit vielen kleinen Öko-Kindern. Was wolltest du in deinem Leben erreichen? Was denkst du, wo du schon mal etwas erreichst hast?“
Laura musste nachdenken. Sie fühlte sich klein und unwichtig in dieser Welt voller Menschen, die ihre Ziele scheinbar erreicht hatten und nicht wussten, wohin mit ihrem Reichtum. Deren Kinder erfolgreiche Schritte auf der Karriereleiter machten. Menschen, die sich keine Sorgen um ihre finanzielle Zukunft machen mussten. An die man denken würde, wenn sie unter der Erde liegen würden.
„Ok, ich will dir helfen, sonst dauert das hier alles viel zu lange und ich will zurück auf meine versiffte Wolke zu meinen Kumpels.“ Olli holte tief Luft, bevor er seinen Report begann:
„Deine Kinder sind glücklich. Dein ältester Sohn hat keine Karriere gemacht mit seinen Begabungen, aber er hat noch Zeit. Jetzt genießt er sein Leben. Er wird niemals auf dem Sterbebett liegen und über verpasste Möglichkeiten weinen. Deine Tochter hat eine liebe Familie und geht in der Rolle der Mutter und Hausfrau vollkommen auf. Dein jüngster Sohn ist auf dem falschen Weg, wird aber wachsen am Widerstand, den er jetzt völlig zu Unrecht leistet. Er wird seine Meinung ändern und daraus lernen.
Für dich nur ein paar Beispiele deines Wirkens: Erinnerst du dich an die Vollbremsung im Straßenverkehr neulich? Ohne deine Vollbremsung hätte die Frau auf dem Fahrrad ihren Fehler nicht überlebt und nicht genau heute die Liebe ihres Lebens kennengelernt. Erinnere dich an deine Zeit als Jugendbetreuerin. Der Junge, der begeistert deine Musik hörte, hat sich gegenüber seinem Vater behauptet, der ihn zum Anwalt machen wollte. Der Knabe ist nun ein erfolgreicher und zufriedener Musiker. Deine achtzigjährige Nachbarin hätte sich schon längst das Leben genommen, wenn du nicht jeden Tag ein paar aufmunternde Worte für sie übrig hättest, während du kleine Besorgungen in ihre Wohnung lieferst. Du hast dich zu Recht von deinem Ex-Mann getrennt, sonst hätte er dich mit in den Sumpf von Depression und Alkoholismus gezogen. Ohne die Trennung hätte er nie eine Therapie begonnen ...“
Laura begann zu Schluchzen.
„Na und? Was hast du für eine Nutzen von deinen Taten?“, lästerte der Tod grimmig. Mittlerweile erschien er gar nicht mehr so strahlend im Scheinwerferlicht. Böse Falten durchzogen sein Gesicht, das blonde Haar wurde grau und struppig.
„Schön, wenn es anderen gut geht“, protestierte Laura, „aber was bleibt mir?“
„Was bleibt den anderen?“, lautete die Gegenfrage von Punkengel Olli. „Höre auf, dich zu vergleichen. Dein reicher Nachbar hat Geld, Haus und Elektroauto, aber seine Frau betrügt ihn regelmäßig und er hatte schon seit Jahren keinen Sex mehr mit ihr. Der Sohn eines anderen Nachbars hat studiert und ist ein erfolgreicher Aktionär, wird aber in zwei Jahren an Krebs sterben. Die esoterische Nachbarin strahlt nach außen hin vor Glück, Zufriedenheit und Erleuchtung, wünscht sich aber tief im Inneren, so unabhängig wie du zu sein und nicht am finanziellen Tropf ihres Mannes zu hängen.“
„Bla bla bla“ störte der Tod ätzend, „ist doch egal. Sterben müssen alle. Also komm jetzt, Laura!“
Olli stand jetzt nahe bei Laura, seine grünen Augen funkelten sie mit festem Blick an. Laura drückte ihm ein Kuss auf die überraschten Lippen.
„Du hast Recht!“, strahlte sie – und sprang.
Laura sprang nicht ins Wasser. Sie sprang dem Tod direkt ins Gesicht, worauf er sich in einer grauen Wolke von höllischen Gestank auflöste. Laura rannte den Weg zurück zur Weihnachtsfeier, um ihrem Chef mit voller Wucht eine reinzuhauen. Nach erster Verblüffung applaudierte ihr die gesamte Belegschaft. Am nächsten Tag buchte sie die Weltreise, die sie schon immer machen wollte, auch wenn sie sich dafür hoch verschulden musste. Es war nur Geld. Was spielte das schon für eine Rolle ...