Das sechszehnte Türchen
So, bin wieder unter den Lebenden!
Wie ich das so überblicke, haben die meisten im Nebel gestochert und nicht erraten, dass es die liebe
@****59 , die uns die gestrige Geschichte beschert hat. Danke für dieses
Heute gibt es eine Geschichte um das pralle Leben auf eine ganz andere Art.
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Café Memory
Der Geruch nach Orange, Zimt und billigem Rotwein lag in der Luft – ganz unverkennbar Glühwein. Jedes Jahr schien es mehr Stände auf dem Weihnachtsmarkt zu geben, die mit dem gepanschten Zeug versuchten, weihnachtliche Stimmung zu erzeugen.
Agathe interessierte der ganze Trubel nicht. Sie umrundete die zahlreichen Stände und steuerte ihr Lieblingscafé an. Am Eingang wurde sie schon erwartet.
„Agathe! Wie schön, Sie wiederzusehen! Kommen Sie – soll ich Ihnen helfen?“ Agathe lehnte die freundliche Hilfe der jungen Bedienung dankend ab und manövrierte langsam zwischen den Tischen hindurch zu einem Fensterplatz – ihrem Stammplatz seit über zwanzig Jahren. Geschickt parkte sie ihren Rollstuhl am Bistrotisch, den Pascal, der Betreiber des Cafés, vor acht Jahren extra für sie hatte anfertigen lassen, nachdem sie bei einem Unfall beide Beine verloren hatte. Die etwas niedrigere Tischplatte mit der leichten Einbuchtung am Rand erinnerte entfernt an einen Nierentisch aus den 50er Jahren und war geradezu perfekt für sie.
Nachdem die Bedienung ihr wie jeden Sonntag einen großen Milchkaffee an den Tisch gebracht hatte, holte Agathe ihr Schreibzeug aus dem Körbchen unter ihrem Sitz hervor. Das Schreiben war ein liebgewonnenes Ritual, das sie nicht missen mochte und das ihr half, ihren Geist ein wenig auf Trab zu halten.
Das geschriebene Wort übte auch jetzt noch eine seltsame Faszination auf sie aus. Nicht die tatsächliche Bedeutung, die man damit verknüpft, sondern die Entstehung auf dem Papier durch kleine, sanfte oder üppige Bögen, harte Striche, freche Haken und hingehauchte Punkte – es hatte schon fast etwas Erotisches.
Früher hatte sie ihre Erinnerungen in ganzen Geschichten festgehalten, ausschweifend, bildreich und farbenfroh. Sie hatte immer viel Wert darauf gelegt, mit Wort-Malerei möglichst genau festzuhalten, was an Bildern vor ihrem Inneren Auge auftauchte.
Da gab es so vieles… Mit dem Stift in der einen und dem Kaffee in der anderen Hand blickte Agathe versonnen auf das bunte Treiben vor dem Fenster.
Auf einem Weihnachtsmarkt hatte sie vor vielen Jahren ihren Theodor kennengelernt. Hochzeitsreise in die Dolomiten, sein wärmender Körper an ihrem, während vor der Blockhütte ein Schneesturm tobte… Das waren die ersten Bilder, die sie in einer wild-romantischen Geschichte festgehalten hatte. Schade nur, dass Theo sie nicht mehr hatte lesen können, Gott hab ihn selig.
Ihre Kinder… Karin, die schon als kleines Mädchen ein mutiger, entschlossener Wirbelwind gewesen war. Was hatte sie gestrahlt, als sie ihren Doktor in Medizin geschafft hatte! Franz dagegen war ein zarter Junge gewesen, unsicher und sensibel. Es war ein harter, aber auch aufregender Weg gewesen, bis zuerst er und dann auch sie begriffen hatten, dass er nicht wie alle anderen war.
Auch ihre Reisen kamen Agathe in den Sinn. Zu Karin nach Äthiopien, wo sie die Ärzte dabei unterstützte, die Bevölkerung medizinisch zu versorgen. Oder war es Somalia? Auf jeden Fall war es sehr heiß gewesen, und die Eindrücke, die sie dort hatte gewinnen können, hatten sie lange beschäftigt und viele Seiten Papier gefüllt.
Franz war vor der moralischen Enge in der Heimat nach London geflohen und hatte sich einer Schwulenbewegung angeschlossen. Als Agathe ihn dort besucht hatte, war Theodor gar nicht begeistert gewesen. Homosexualität hatte er immer als „falsch“ empfunden und seinen Sohn als „unmännlich“. Doch gehörte das nicht zum Leben dazu? Seine Liebsten zu bestärken, zu ermutigen und zu unterstützen, egal, welchen Weg sie einschlagen? Und dabei selbst zu erkennen, dass Liebe und Loyalität wichtiger sind als die Meinung anderer Leute und verstaubte Moralvorstellungen? Ein Lächeln huschte über Agathes Gesicht, denn irgendwann war es ihr doch gelungen, dass Theo seine Ansichten geändert hatte und Franz’ Lebensweise toleranter gegenüberstand.
Daran erinnerte sie sich immer wieder, auch wenn die Bilder immer blasser wurden und die Ränder immer ausgefranster, als ob sie vom vielen Hervorholen kaputt gegangen wären.
Viele spätere Ereignisse blitzten nun in ihrem Kopf auf, doch zu schnell und zu kurz, um sie greifen zu können. Erinnerungsschnipsel, farblos und unvollständig. Auch sie würden eines Tages ausfransen, bis sie nur noch aus dünnen Fäden bestünden, die sie nicht mehr würde verknüpfen können.
Nachdenklich blickte Agathe auf den Stift in ihrer Hand und legte ihn schließlich beiseite. Mochten ihre Erinnerungen auch in Bruchstücke zerfallen, sie hatte ihr ausgefülltes, pralles Leben gelebt. Es war real und sogar greifbar, in Form von unzähligen Geschichten auf Papier, die sie wie einen Schatz hütete.
Draußen dämmerte es bereits, es wurde langsam Zeit, sich auf den Heimweg zu machen.
Doch wo blieb eigentlich Pascal? Er kam sonst immer an ihren Tisch, um kurz mit ihr zu plaudern. Als die Bedienung vorbeikam, zupfte Agathe sie an der Schürze.
„Bitte, können Sie Pascal zu mir schicken? Es wird schon dunkel und ich möchte bald nach Hause.“
„Pascal?! Der lebt doch gar ni …“
Eine Kollegin, die gerade am Nachbartisch bediente, knuffte sie leicht in die Seite. „Pascal ist gerade nicht da, aber er wird sicher verstehen, dass Sie nicht auf ihn gewartet haben. Ich richte ihm liebe Grüße von Ihnen aus.“
„Ja, das ist nett. Vielen Dank.“ Agathe bezahlte und verstaute ihre Schreibsachen.
‚Vielleicht’, dachte sie, ‚klappt es ja nächstes Mal.’ Langsam rollte sie hinaus und verschwand im Lichtermeer des Weihnachtsmarktes.