Das zweiundzwanzigste Türchen
So, heute hat das Raten nochmal 6 Uhr ein Ende, morgen und am 24. kann ich aus Gründen 6 Uhr nicht garantieren, es wird zwar vermutlich klappen, aber Vorbeugen ist ja bekanntlich besser als ...
Also: gestern hat uns
@*********_Arte über ein Weihnachtsmann im Swingerclubkamin schmunzeln lassen, die heutige Geschichte handelt von jemand, von dem man in Afrika sagt, dass der/diejenige zwar beim Menschen eintreten könne (also in dessen Wohnung/Haus), der Mensch aber nicht bei ihm/ihr.
Et voilà:
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Die Reise der Spinne
Spinnen feiern Weihnachten? Glaubt Ihr nicht? Schaut mal genau unter euren Sofas, Sesseln und Schrankwänden im Wohnzimmer nach. Eine Spinnenparty fand zum Beispiel unterm Sofa der Hempels statt, wo sich einige Artgenossen rund um eine Pfütze aus klebrigem Glühwein versammelt hatten. Die Mehrzahl der Teilnehmer bestand aus den üblichen, degenerierten Hausbewohner, die sich ab Herbst lieber in beheizte Räume zurückzogen. Darunter die furchterregende Hauswinkelspinne und die filigrane Zitterspinne. Sie freuten sich über in Glühwein eingeweichte Milben, Speckkäfer und Silberfische. Als Gast dazu gekommen war eine Gewöhnliche Waldkräuselspinne, die hier unterm verstaubten Sofa der Hempels eigentlich nichts zu suchen hatte. Jedoch freute sie sich über die warme Unterkunft und die freundliche Aufnahme in die Runde, denn auch sie war zu Weihnachten nicht gerne alleine. Leicht beschwipst von der Glühweinpampe, erzählte sie in ihrem russischen Akzent den Kollegen und Kolleginnen von der langen Reise, die sie hinter sich hatte:
„Ich lebte lange und zufrieden in den Winkeln der Äste der Bäume in meiner Heimat. Dort oben konnte ich genug Insekten in meinen geschickt gebauten Netzen fangen. Während der Verdauung ließ ich gerne den Blick schweifen über die kaukasischen Bergwälder und den nahe gelegenen Shaori-See. Doch die Ruhe wurde gestört von Menschen, die plötzlich auf die Bäume kletterten, um Tannenzapfen zu pflücken und auf den Boden zu werfen. Ich verstand zuerst nicht, wozu dies gut sein sollte. Wer schon mal einem Menschen begegnete, weiß, wie irrational diese Wesen manchmal handeln.“
Die Spinnen in der Runde nickten zustimmend mit ihren Köpfen, manche seufzten schwer in der Erinnerung an der Verlust geliebter Familienmitglieder. Von Hausschuhen erschlagen, gefangen in Gläsern und dann deportiert, ersäuft oder verbrannt.
„Dummerweise steckte ich gerade in einem Tannenzapfen, welchen einer dieser Menschen vom Baum pflückte und zu Boden warf. Der Flug zu Boden war angsterregend. Ich konnte gerade noch erkennen, wie eben dieser Menschen einen Moment später auf der Erde aufschlug, bevor es um mich herum dunkel wurde. Ich hörte Schreie und Jammern der Menschen. Keine Ahnung, wieso er vom Baum stürzte. Ich mit meiner winzigen Erscheinung hatte ihn sicher nicht so sehr erschreckt, dass er die Kontrolle verlor. Immerhin war er furchtlos genug, in schwindelerregende Höhen zu klettern, wo ich mich sonst nur vor Vögeln in acht nehmen musste.
Vorsichtshalber hielt ich mich in meinem Tannenzapfen versteckt. Es blieb lange dunkel, nur durch eine Art sehr dichtem Netz blitzten gelegentlich ein paar Lichtstrahlen. Mal toste um mich herum Lärm und Bewegung, mal war es lange totenstill. Irgendwann wurde mir deutlich, dass um mich herum nur Tannenzapfen waren. Wer weiß, wie viele Insekten und Spinnen in diesem Durcheinander feststeckten. Ich verlor jedes Zeitgefühl.“
Die fröhliche Runde der Spinnen murmelte zustimmend:
„Hört sich nach der lange Reise in einem sogenannten Sack an. Ein Verwandter hatte mir mal davon erzählt, er hatte seine exotische Frau nach einer langen Reise in einem Sack voller Kokosnüsse kennengelernt.“
„Möglich“, schmatzte die Waldkräuselspinne, die sich gerade eine Portion eingeweichter Staubmilben einverleibte, „jedenfalls endete die Reise auf einem weiten Feld. Die Tannenzapfen purzelten wild durcheinander und wurden von Menschenhänden aufgesammelt. In einem ruhigen Moment machte ich mich schleunigst aus dem Staub und krabbelte um mein Leben. Vor mir sah ich eine surreal anmutende Landschaft. Bäume, die völlig unnatürlich in Reih und Glied standen, reichten bis zum Horizont. Schnell suchte ich mir ein Exemplar, um mir ein neues Versteck zu suchen und meine Netze zu spannen. Ich hatte unglaublichen Hunger, doch das Angebot an Beute stellte sich hier äußerst mager dar. Nur mit Mühe überlebte ich die Zeit, bis wieder eine große Unruhe einkehrte. Mit höllischem Lärm brachten die Menschen einen Tannenbaum nach dem anderen zu Fall. Voller Panik verkroch ich mich so gut es ging im Geäst, denn auch mein Baum war bald an der Reihe und fiel krachend zu Boden. Die Menschen hier hörten sich in ihrer Sprache anders an als in meiner Heimat. Sie stopften die Bäume in stinkende Netze. Wieder begann eine bewegte Zeit, bis mein Baum für eine Weile still neben vielen anderen, ebenso eingepackten Bäumen stand. Ich spürte sein langsames Sterben, traute mich aber nicht, mein Versteck zu verlassen.“
„Sie nennen diese Exemplare 'Weihnachtsbaum'. Reden ständig von der 'Nordmann-Tanne'“, äußerte sich die dünne Zitterspinne. „Scheint so eine Art Brauch zu sein, die armen Gehölze im Winter in ihre Behausungen zu stellen und mit buntem und glitzerndem Firlefanz zu behängen. Manchmal singen sie und tanzen um das hölzerne Opfer herum.“
„Bekloppte Zweibeiner“, murrte die fette Hauswinkelspinne.
„So also kam ich hierher“, erzählte die Waldkräuselspinne weiter. „Der Baum kam wieder in die Senkrechte und das merkwürdige Netz wurde entfernt. Die Äste entfalteten sich mit einem leisen Seufzer. Trotz seiner Todesangst gefiel sich der Baum in seiner Rolle. Er stand im Mittelpunkt. Er wurde geschmückt und bewundert. Ein tragisch-melancholischer Tod.
Ich wollte mir das nicht länger mit ansehen, außerdem gab es keine Beute mehr, dafür aber war es plötzlich irre warm. Ich nahm all meinen Mut zusammen und machte mich auf den Weg nach unten. Jetzt bin ich hier und kann mit euch ein selten fröhliches Weihnachtsfest feiern. Sa Sdorówje!“
„Nastrovje!“, antworteten die restlichen Spinnenfreude.
„Du hast Glück, deinen Baum rechtzeitig verlassen zu haben“, räusperte sich die fette Hauswinkelspinne. „Meist enden die Bäume in einem großen Feuer und mit ihnen alle Zecken, Spinnen und Milbe, die noch auf ihnen lebten.“
„So lasst uns das kurze Leben feiern“, säuselte die Zitterspinne leicht angetrunken vom klebrigen Glühwein, „und ein Tipp für dich, russischer Besucher: Beobachte die Menschen genau. Sie haben hier einen Garten. Sobald die Terrassentür offen stehen sollte, nutze die Chance zur Flucht. Im Garten wirst du einen Baum finden, auf dem du den Rest deines Lebens verbringen kannst.“
„Es muss ja keine Nordmann-Tanne sein“, raunte die Hauswinkelspinne grinsend.
„Apropos, wieso heißen die eigentlich so?“, fragte die Waldkräuselspinne, „schließlich komme ich doch gar nicht aus dem Norden, so weit ich das beurteilen kann...“
„Es war ein Biologe, Alexander von Nordmann, der die Tanne, eigentlich eine Kieferngewächs, im Jahr 1835 im Kaukasus entdeckte...“
So redeten und schwatzen die Spinnen noch bis in den frühen Morgen bei Milben, eingelegten Käfern und Glühwein unter Hempels Sofa. Irgendwann fand die Waldkräuselspinne unbemerkt den Ausgang zum Garten, welcher sich als paradiesischer Flecken Erde für seine Bedürfnisse entpuppte. Er fand ein deutlich heller gefärbtes Weibchen und gemeinsam setzten sie viele kleine Waldkräuselspinnen in die Welt, die keine Sprachbarrieren kennt.
Frohe Weihnachten!