Das achtundzwanzigste Türchen
Und hier die heutige Geschichte:
Adventsbäckerei
(Eine Hommage an die beste Radioshow, die es je gab)
Sonntag, 1. Advent, 8 Uhr 3: In der Siedlung Schwetzenhecke öffnet Zahnarztgattin Erika P., 53, eine Packung "Knack und Back Sonntagsbrötchen" und verarbeitet den Inhalt anleitungsgemäß für das anstehende Sonntagsfrühstück. Dabei wird sie durch das bodentiefe Fenster der erdgeschossigen Küche vom Rentnerehepaar Gerald und Marina U. beobachtet, die ihren Weimaraner-Mischling Ehrenfried vom Lohenfeld, genannt "Ehrich", Gassi führen. Herr und Frau U. kehren umgehend zurück in ihren Fertighaus-Bungalow in der Parallelstraße, um den Advent mit der Zubereitung von Butter-Mürbegebäck einzuläuten.
8 Uhr 53: Simultandolmetscherin Kiliane D., 47, beobachtet das Rentnereherpaar aus dem 1. Stock des dem Bungalow gegenüberliegenden Mehrparteienmietshauses und beginnt mit der Herstellung mehrerer Bleche Kokosmakronen. Zu diesem Zweck fragt D. die leihweise Gestellung eines Keksteigportionierers bei ihrer Nachbarin Inge T., 38, Vorsitzende des Landfrau*innenvereins "Mann*heimer Umland", an. Die Anfrage wird abschlägig beschieden, da T. selbst backen werde.
9 Uhr 22: Inge T. greift zum Handrührgerät und schlägt mehrere Eiweiße schaumig. Ihr Sohn Leonhard, 14, wird vom Lärm aus der Küche geweckt und entflieht dem geschäftigen Treiben in der elterlichen Etagenwohnung in Richtung evangelisches Gemeindezentrum. Dort allerdings wird ebenfalls gebacken: Pastor Eberhard R., 61, leitet den Seniorensingkreis "Neckar-Nachtigallen" bei der Zubereitung des klassischen Marzipangebäcks "Bethmännchen" im Großformat an. Eine Jury des "Guinnesbuch der Rekorde" ist für den frühen Nachmittag avisiert. Der pubertierende Leonhard T. schließt sich der Gruppe nicht an, sondern zieht weiter Richtung Innenstadt.
10 Uhr 17: In Ermangelung eines Keksteigportionierers nutzt Kiliane D. eine bei der Badezimmersanierung übriggebliebene Silikonspritze, um eine konstante Größe ihrer Backwaren zu gewährleisten. Kurz darauf zieht der Duft der ersten fetiggestellten Kokosmakronen durch das Mehrparteienmietshaus, was Emanuel S., 42, stellvertretender Kassenwart der "Vereinigung bi-sexueller Freizeit-KFZ-Monteur*innen" und Mieter im dritten Stockwerk, dazu veranlasst, das von seiner Großmutter väterlicherseits ererbte Standardwerk der Backwarenfachliteratur "Weihnachtsbäckerei mit Natursauerteig" zu konsultieren und sich an die Herstellung eines veganen Biskuitbodens für eine vorweihnachtliche Buttercremetorte zu wagen. Während S. ein Wannenbad nimmt, verhindert die Fehlfunktion eines schadhaften Backofentimers die rechtzeitige Beendigung des Backvorgangs.
11 Uhr 2: Unter den Duft von silikonhaltigen Kokosmakronen aus dem ersten Stock mischt sich der Geruch einer unerwartet ausgeprägten Maillard-Reaktion aus dem dritten Stock. Gesine K., 28, Diplom-Kindergärtnerin im örtlichen Kinderladen und wohnhaft im fünften Stockwerk des Mehrparteienmietshauses, nimmt die olfaktorischen Stimuli als Inspiration und beginnt sofort mit den Vorbereitungen für einen ökologisch abbaubaren Vanillekipferlteig für die morgige Koch- und Backstunde im Rahmen der Tagesstruktur für die Schnabeltier-Gruppe, in der die drei- und vierjährigen Kinderladeninsassen ihren Beschäftigungsmaßnahmen nachgehen. Als sie das erste Probeblech mit ordnungsgemäß gen Süden ausgerichteten Vanillekipferln in den Ofen schiebt, wird sie von ihrem Mobiltelefon daran erinnert, die Weihnachtsbeleuchtung im Kinderladen für die für den Nachmittag geplante Illuminationsfeier vorzubereiten. Umgehend verlässt sie ihre Wohnung.
12 Uhr 29: Die Röstaromen aus verschiedenen Wohneinheiten des Mehrparteienmietshauses sind nun in der ganzen Straße deutlich wahrnehmbar. Aus einem Fenster im fünften Stock dringt schwarzer Rauch, was Renter Diethelm O., 83, zu der Aussage verleitet: "Die haben noch keinen Papst gefunden!". Volkshochschuldozentin Luzie G., 58, Trägerin des Bettina-Schliephake-Burchardt-Gedächtnisordens am Bande und unmittelbare Nachbarin von Gerald und Marina U., reagiert auf die Provokation aus dem Mehrparteienmietshaus mit der Anfertigung eines 1:3-Modells der Kölner Lanxess-Arena aus Schüttellebkuchen.
15 Uhr 7: Deeskalationsversuche durch die örtliche Feuerwehr schlagen fehl und führen zu einer Protest-Sternfahrt des Motorradclubs "Hell's Bakers", die am Gemeindezentrum ihren Höhepunkt findet, wo die Motorradclubmitglieder die angereiste Guinnesbuch-Jury in den örtlichen Adventsbrauch des "Räuchermännchens" einführen, auf den angeblich das nordamerikanische "Burning Man"-Festival zurückgeht. Gemeinsam mit den Neckar-Nachtigallen wird der dazugehörige Schlachtruf "Räuchern im Advent bis die Hütte brennt" skandiert, gefolgt vom mehrstimmigen Choral "Jesus, deine Kekse".
16 Uhr 28: Die obersten drei Stockwerke des Mehrparteienmietshauses stehen in Flammen und illuminieren in der anbrechenden Abenddämmerung des ersten Adventssonntages die Straßen der Siedlung Schwetzenhecke. Im dichten Rauch bewegen sich, Weihnachtslieder hustend und medizinballgroße Bethmännchen verzehrend, verstörte Menschen. Menschen wie du und ich, die bei der Weihnachtsbäckerei nicht auf Multitasking verzichten wollten.