Das neunundzwanzigste Türchen
Mist, die Zeit vergeht immer so schnell!
Also, gestern war es
@*******ush , die uns die Geschichte von der Adventsbäckerei geschenkt hat, die heutige Geschichte geht um Veronika und ist dann auch die vermutlich letzte, wenn sich nicht noch eine in einer Ecke meines Mailpostfaches anfindet.
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Weihnachten, das pralle Leben
"Eine gute Frau muss kräftige Beine haben." Das waren die Worte meines Vaters und ich werde sie wohl nie vergessen. "Und sie muss kleine Augen haben", merkte er dann immer an, "wenn sie große Augen hat, kann sie damit das Unheil einfangen." Oh, ich konnte seine Weisheiten und die Bauernschläue, die darin steckte, oftmals nicht ertragen. Er hatte in jeder Situation einen passenden Spruch auf Lager. Die Gefühle anderer Menschen waren ihm fremd und auch gleichgültig. Und niemals schien die Begeisterung, die er für sich selbst empfand, enden zu wollen. Dennoch wollte ich lange Zeit so sein wie er, so ganz ohne Selbstzweifel, ohne lästige Fragen zu debattieren und ohne jemals Schwäche zu zeigen. Dabei verspürte ich weder Neid noch Missgunst, meine Beweggründe lagen vielmehr in der mangelnden Lebenserfahrung und der Hilflosigkeit, in der ich mich befand. Umgekehrt empfand ich aber auch keinerlei Form der Wertschätzung für ihn. Ich war anders. Ich war einfach anders als er.
Ich war nicht, wie ich dachte sein zu müssen, um so zu sein, wie er. Es dauerte sehr lange, bis ich diese Worte begriffen hatte und ich verstünde jeden, der daran zerbräche.
Es waren unzählige Tränen, die ich auf dem steinigen Weg dorthin vergossen hatte. An eine Art Rückendeckung seitens meiner Mutter war nicht zu denken, kämpfte sie doch selbst mit den andauernden Vorwürfen, hinter seinen Erwartungen zurückzuliegen und weit entfernt ihrer Möglichkeiten zurückgeblieben zu sein.
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"Ein pralles Leben muss das Ziel sein", sagte er immer, wenn er mich ein weiteres Mal nötigte, in seine Fußstapfen zu treten und dabei nicht wahrhaben wollte, dass ich nicht so war, wie er es erwartete. Es gab nicht einen einzigen Moment, in dem er an sich zweifelte oder Zweifel an seiner Sichtweise zuließ. Zweifel existierten nicht in seiner Welt. "Wie kann ein Mensch so frei von Zweifeln sein?", eine Frage, auf die ich bis zum heutigen Tag keine Antwort gefunden habe. "Welche Zweifel?", waren seine Worte, als ich ihn eines Tages damit konfrontierte.
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Weihnachten wurde bei uns im engsten Familienkreis gefeiert. Man hatte voller Vorfreude zu sein, sich von seiner besten Seite aus zu geben und sich loyal im Sinne eines familiären Zusammenhalts zu verhalten. Das Drehbuch dazu entsprach -wie konnte es anders sein- alleine den Vorstellungen und dem Willen meines Vaters. Auf jeden einzelnen von uns war darin eine Rolle zugeschnitten, die der Betreffende anschließend in Perfektion zu spielen hatte. So wurde auch mir jedes Jahr ein Part zuteil. Zuerst waren es altbekannte Weihnachtslieder, die ich zur allgemeinen Belustigung aller auf meiner Blockflöte trällern musste. Später musste ich ohne zu stolpern himmlische Gedichte vortragen. Mit zunehmendem Alter ließ er meine Hosen runter und sorgte durch Erzählungen aus meinem zurückliegenden und verkorksten Lebensjahr für Lern- und Diskussionsstoff im Kreis der Familie. Die Geschichte, als Frau Willkening, meine Grundschullehrerin, mich auf dem Schulklo beim Onanieren erwischte, kam zu meiner großen Verwunderung niemals auf den Gabentisch.
Diese weihnachtlichen Offenbarungseide ließen mein Selbstwertgefühl so sehr wachsen und gedeihen dass ich mir an meinem 25. Geburtstag einen schicken Elfer anschaffte, der meinem Unterbewusstsein dabei half, die Defizite meines Nicht-ok-Kind-Ichs zu kompensieren. Im drauffolgenden Herbst dann wickelte ich den Luxusschlitten um eine Leitplanke. So war der fröhlichen Stimmung am nachfolgenden Weihnachtsfest immerhin kein Abbruch getan. Mit einem herablassenden "The show must go on, da ist Hopfen und Malz verloren, er wird es nie kapieren", und einem zynischen "Very good for Hollywood" war die Sache dann vorerst auch wieder vom Tisch.
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Was auch immer ich mir einfallen ließ, um in den Genuss seiner Wertschätzung zu kommen, scheiterte kläglich; denn so sehr ich mich auch mühte, ich konnte es ihm zu keinem Zeitpunkt recht machen. Selbst meine Versuche, ihn mithilfe einiger mutmaßlich seinen Vorstellungen entsprechenden Frauen zu überlisten und ihn so zu vom Gegenteil zu überzeugen, erwiesen sich als Reinfall.
Als ich eines Tages allerdings Veronika begegnete, änderte sich mein Leben. In ihr wohnte etwas Besonderes. Neben ihrem liebreizenden Antlitz, ihrem betörenden Blick und diesem strahlenden Lächeln, dem man alles verzieh, war es die unendliche Schönheit ihres Wesens, mit dem sie mich seit unserer ersten Begegnung in ihren Bann gezogen hatte. Sie war die Richtige, daran hatte ich nie auch nur einen einzigen Zweifel gehegt. Neben ihr erschien der Himmel blauer, schien die Sonne kräftiger und funkelten die Sterne heller als je zuvor. Sie war es, die mich lehrte, die Liebe zu mir selbst zu entdecken und dadurch die Tore zu öffnen, durch die die Liebe der anderen auch zu mir vordringen konnte. Was folgte, war die wohl schönste, intensivste und gleichzeitig unbeschwerlichste Zeit meines Lebens, bis hin zu dem Moment, als sie mir eines Tages offenbarte, das bevorstehende Weihnachtsfest gemeinsam mit meiner Familie und mir verbringen zu wollen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Natürlich hatte ich sie vorgewarnt, sie über all die Befindlichkeiten der zurückliegenden Jahre in Kenntnis gesetzt und auch aus dem zerworfenen Verhältnis zu meinem Vater keinen Hehl gemacht.
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Dann war es soweit, Heiligabend war gekommen. Kurz vorm Eintreffen am elterlichen Haus nahm sie meine Hand, drückte dieselbe und lächelte mich an: "Du wirst es gut machen, ich glaube an dich!"
Wir betraten die weihnachtlich geschmückte Diele, von deren Decke aus wie immer ein großer Mistelzweig über unseren Köpfen schwebte. Die Mutter hatte den Kaminofen, der eine wohlige und einladende Wärme verströmte, ordentlich angeschürt.
Freudestrahlend begrüßte sie meine Begleitung: "Schon viel von Ihnen gehört, Veronika. Endlich weiß er, wo er hingehört. Schön, dass Sie mitgekommen sind. Fühlen Sie sich ganz wie zuhause. Darf ich 'du' zu Ihnen sagen?"
Im Gegensatz zu meinem Vater, verstand es meine Mutter zu jeder Zeit, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen und diese auf eine mütterliche Art liebevoll zum Ausdruck zu bringen. Veronika, sichtlich geschmeichelt von dieser warmherzigen Begrüßung, war gerade im Begriff abzulegen, als mein Vater von der Wohnstube aus kommend zu uns stieß. Augenblicklich war die Diele in ein Schweigen gehüllt. Bis in ihren kleinsten Winkel hinein war seine dominante Aura zu spüren. Der Blick, mit dem er Veronika musterte, glich dem eines Kommandanten beim Morgenappell. "Aha, Veronika, nett, haben Sie kein Zuhause?" Anscheinend war er guter Laune.
Veronika blieb ruhig und gelassen: "Fröhliche Weihnachten, Herr Blaustein. Meine Eltern sind leider verstorben, mein Zuhause ist nun bei Ihrem Sohn und vielleicht, pardon, vielleicht ja auch eines Tages hier bei Ihnen und Ihrer lieben Familie?"
Diese Antwort imponierte ihm. Er mochte Menschen, die geradeheraus waren. "Klare Ansagen, Frau Veronika, sehr gut", fuhr er fort, bevor er sich anschickte, sich mir zuzuwenden. "Wie es scheint, hattest du einmal in deinem Leben einen Lichtblick, mein Sohn!" Nahtlos folgte dann der dritte und letzte Teil seiner Trilogie, den er patriarchalisch an meine Mutter richtete. "Inge, dein Sohn wird gescheit!"
Das Gefühl der Freude und der Erleichterung machte sich in meinem Herzen breit. Mit allem hatte ich gerechnet, nicht jedoch mit solch einer wertschätzenden Äußerung seitens meines Vaters, der inzwischen wieder in die Stube zurückgekehrt war. Mit einem bestimmenden "Inge, es ist Zeit für ein Glas Sekt", tönte es alsbald durch das elterliche Haus. Sie tat, wie ihr befohlen, worauf er die Feierlichkeiten für eröffnet erklärte. Ich weiß nicht, was ihn an jenem Abend geritten hatte, wie durch Wunder beherrschte er sich ab diesem Moment und bescherte uns allen ein friedvolles Weihnachtsfest.
Die Beweggründe für diesen Sinneswandel behielt er für sich, nahm dieses Geheimnis mit in sein Grab, als er ein paar Monate später von uns ging. Als hätte er es jedoch geahnt, hatte er gerade noch rechtzeitig diesen Schritt in Richtung eines besseren Miteinanders gemacht.
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Veronika und ich denken oft an diesen besonderen Abend zurück, jetzt, wo sie längst nicht mehr unter uns weilen und wir in das Haus der Eltern eingezogen sind. Der Mistelzweig hängt noch immer an seinem gewohnten Platz. Das Pfeifen der Blockflöten allerdings ist verstummt, ebenso, wie es auch um die alten Weihnachtsgedichte still geworden ist. "Was zählt, mein Schatz, ist die Liebe und was bleibt, ist das Gute", himmele ich sie liebevoll an, während die alten Drehbücher knisternd im Feuer des Kaminofens verglühen.