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Vergeuden wir es nicht ...

Vergeuden wir es nicht ...
Einen Tag später jagte mich - anders kann ich es kaum bezeichnen – Doktor, aber offenbar doch vorrangig Major, Brost aus seiner Abteilung. Müller bestand auf einem Gutachten von mir, obwohl ich nicht mehr zu Christian Oldenburg durfte. Ich nehme an, Müller wollte wenigstens irgendetwas in seinen Akten haben. Drei Wochen später wurde Christian Oldenburg in aller Stille und in Unehren aus der Armee in die Freiheit entlassen. Man hatte andere Sorgen. Die Menschen der DDR waren auf die Straße gegangen und brachten das Gebäude, das Parteisoldaten wie Oberst Bernard Müller errichtet hatten, zum Einsturz. Die DDR brach zusammen und die Nationale Volksarmee bereitete sich auf ihre Auflösung vor.

Ich sah Christian Oldenburg ein letztes Mal an der Bushaltestelle vor dem Lazarett. Zwei Männer und eine Frau warteten unter dem Überdach auf den Bus. Er stand davor, mitten im grauen Regen, hatte einen Seesack über der Schulter hängen, stützte sich auf eine Krücke und obwohl es nur drei Grad waren, machte er keine Anstalten, sich unterzustellen. Er stand einfach nur da, ließ den Regen auf sich herabprasseln und blickte über die Kronen der Bäume auf der anderen Straßenseite hinweg.

Als ich von hinten kam und mich neben ihn stellte, sagte er: „Erzählen Sie mir nicht, dass das ein Zufall ist, Doc.“

Natürlich war es kein Zufall. Ich hatte mich, so gut es ging, über seinen Zustand auf dem Laufenden gehalten und seinen Entlassungstermin zu erfahren, hatte mich nur ein freundliches Lächeln für eine Schwester gekostet. „Haben Sie Augen im Hinterkopf? Da war noch ein Danke offen und außerdem mag ich keine Verbote. Nicht einmal, wenn sie nicht ausgesprochen werden“, sagte ich.

„Ts, ts ... das ist aber nicht gut für Ihre Karriere. Das Danke geht übrigens zurück. Ihre Beurteilung hat geholfen.“

„Das freut mich.“

„Mich nicht. Sie haben gelogen und ich habe Sie dazu angestiftet.“

„Wenn es ein Problem wäre, könnte ich ganz gut damit leben“, meinte ich leichthin.

„Ja, wahrscheinlich“, sagte er, doch ich merkte, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Noch immer hatte er sich nicht bewegt, stützte sich auf seine Krücke und blickte über die Bäume hinweg. Er wurde mir fast ein bisschen unheimlich. Kein Mensch kann wirklich stillstehen, etwas ist immer in Bewegung. An einer Unterhaltung schien er nicht interessiert. Wenn ich bedachte, was er erlebt hatte, konnte ich es zumindest verstehen.

„Was werden Sie jetzt tun?“, fragte ich.

„Tanzen im Regen“, antwortete er.

„Es regnet.“

Er blickte zum Himmel und es war die erste Bewegung, die ich an ihm wahrnahm, seit ich gekommen war. „Tatsächlich.“

Er beugte sich zu mir herab und seine Augen waren wieder so dunkel, wie in dem Moment, in dem er mir vom Tod in der Ostsee erzählt hatte. „Ich hatte nicht gerade ein vorbildliches Leben. Aber ich will mich nicht beschweren, denn ich hatte wenigstens eins. Es mag Milliarden geben, die das nicht sagen können und wenn meins nicht so war, wie es hätte sein können, ist das weder die Schuld meines Vaters, meiner Mutter, noch die von diesem Müller oder irgendjemand anderem. Wenn, dann ist es ganz allein meine. Mein Körper ist eine defekte Waffe, mein Kopf eine Bibliothek, vollgestopft mit Wissen über Kunst, Literatur, Wissenschaft, Mordmethoden und ein paar verstaubte Träume sind auch noch dabei, ganz hinten, in irgendwelchen Gehirnwindungen, die ich lange nicht mehr benutzt habe. Heißt: Mir stehen alle Wege offen. Für welchen würden Sie sich entscheiden, Doc?“

Ich musste keine Sekunde nachdenken. „Für die Träume“, antwortete ich.

„Meinen Sie?“ Er kam mir noch näher, blickte mir aus nächster Nähe in die Augen, dann sagte er: „Halten Sie mal kurz.“ Er ließ seinen Seesack von der Schulter gleiten und reichte ihn mir. „Nich runterfallen lassen!“

Er stützte sich fester auf seine Krücke, beugte den Oberkörper ein wenig darüber und dann ... dann begann er zu tanzen. Langsam, zwei Schritte vor, einen zurück, wechselte die Hand auf der Krücke, hinkte um sie im Kreis herum und alles in tiefem Ernst. Den Leuten in der Bushaltestelle klappte die Kinnlade nach unten und ich sah wahrscheinlich auch nicht viel intelligenter aus.

Er hörte erst auf damit, als der Bus kam und hupte. Als sei nichts geschehen, nahm er mir schwer atmend seinen Seesack von der Schulter. Er wartete, bis die anderen eingestiegen war, dann sagte er, schon mit einem Fuß im Einstieg: „Machen Sie nich so ein Gesicht, Doc. So is das Leben, meins, ihres und wenn ich‘s genau bedenke, das von jedem Menschen auf der Kugel. Jeder Tag zählt, jeder ist einmalig und unwiederbringlich, jeder Tag will gelebt werden ohne Angst. Heute schon eine Frau glücklich gemacht? Irgendjemanden oder wenigsten sich selbst? Kindern Schokolade geschenkt, dass sie verschmierte Gesichter haben? Morgen können Sie es vielleicht nich mehr. Vielleicht sind Sie da nur noch ein feuchter Fleck auf der Diele. Jeder einzelne Tag ist ein Geschenk, Mann. Vergeuden wir’s nich.“

Die Türen schlossen sich, der Bus fuhr ab und ich wusste, dass ich dieses Bild niemals mehr vergessen würde. Der Krüppel, der im Regen tanzt ...
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