Die fehlenden Stücke
Immer wieder hatte sie denselben Traum:SIe kniet über einem Reliefmuster in Sandstein, an manchen Stellen noch deutlich erhaben und für das Auge gut zu erkennen, an anderen schon stark verwittert und lückenhaft. Es waren konzentrische Kreise, angefüllt mit Ornamenten wie Spiralen, Zweigen mit Blättern und verwobenen Äste, die sich wie Schlangen durch das Muster ringelten. Ihr Finger fuhr die Linien entlang, zögerte an den Lücken und suchte den fehlenden Verlauf. Dabei fragte sie sich: Wie sollte sie von einem Bild zum anderen kommen? War es ein gerader Weg oder ein verzweigter? Wo setzte sich das Muster fort, und wo endete der Zeichenweg in einem Blatt oder verlor sich in einer Spirale? Wie sollte sie zur Mitte gelangen, wo ein Baum in einem Herzen wurzelte?
Wenn sie erwachte, war sie wieder auf den Schlachtfeldern ihres Lebens. Denn sie war eine Kriegerin – kämpfen, siegen oder verlieren, das war ihr Alltag, den sie lange Jahre klaglos ertragen hatte. Bis sie die eine Wunde geschlagen bekam, tief und mitten ins Herz. Da hatte sie einen Schmerz gefühlt, der größer war als alles, was sie gewohnt war und den sie nicht ertragen konnte. Und eine Schwäche, die ihr das Leben hatte egal werden lassen. Sie war bereit zu sterben.
Aber sie hatten sie nicht aufgegeben und ihr eine Heilerin geschickt.
Die war wochenlang an ihrem Lager gesessen, murmelnd, beschwörend und ihre Hand haltend. Dann hatte sie begonnen mit ihr zu sprechen:
„Es wird Zeit, dass du jetzt etwas anderes tust als kämpfen. Über dem Kämpfen hast du das Schaffen aufgegeben. Über dem Essen und Satthaben bist du fast verhungert. Über all dem Gebenmüssen hast du das Nehmenkönnen verlernt. Und vor lauter Liebenwollen verging dir das Liebenkönnen.
Du brauchst eine Auszeit.
Ich habe dein wundes Herz genommen und an einen sicheren Ort gebracht. Sieh!...“
Und dabei hatte sie vor ihrem geistigen Auge eine glänzende Truhe erstehen lassen, deren Deckel sich hob und ein rotes, pochendes Herz zeigte. Dann schloss der Deckel sich wieder. Das Bild verschwand.
„Das ist dein Herz. Es ist jetzt bei uns, da kann es nicht mehr verwundet werden und schmerzt nicht mehr. Dort kann es still werden und heilen. Wenn du es wieder brauchst, werde ich es dir wieder geben.
Jetzt aber musst du aufstehen und dich auf die Suche machen.“
„Und was soll ich suchen?“ hatte sie mit schwacher Stimme geantwortet.
„Das kann ich dir nicht sagen – das ist der erste Schritt deines Weges.“
So war sie aufgestanden.
Zuerst war sie dankbar gewesen, dass sie keinen Schmerz mehr fühlte. Sie war wie befreit und unverletzbar. Das machte sie wieder stark.
Sie lief durch Städte und Wälder, zu Flüssen und Meeren, in Hitze und Kälte. Lange Zeiten von Einsamkeit wurden von Zeiten der Begegnung abgelöst. Sie traf viele Menschen, sprach mit ihnen, arbeitete mit ihnen, war Gast in ihrem Leben und lernte sie näher kennen. Aber sie konnte für niemanden etwas empfinden.
Sie fühlte nur eine Leere in der Brust und eine Kälte, die niemand wärmen konnte. Ihr Herz begann ihr zu fehlen.
So zog sie weiter, mit ihrem Traum als einzigen Begleiter. Und suchte jede Nacht die fehlenden Stücke im Ornament zu erkennen.
Beim Wandern dachte sie oft an ihr früheres Leben. Dann wünschte sie sich manchmal wieder einen Feind, gegen den sie kämpfen konnte. Damals war es so einfach gewesen: auf der einen Seite der Feind, auf der anderen sie und in der Mitte der Kampf. Am Ende ein Sieger.
Jetzt gab es nur sie und die Leere.
Das machte sie müde. Zu müde um zu gehen, zu müde um zu suchen.
Auf einer weiten, staubigen Ebene setzte sie sich hin. Sie würde nicht mehr weitergehen. Keinen Schritt mehr. Was sollte sie suchen, wenn es nichts zu finden gab?
In dieser Nacht sah sie in ihrem Traum zum ersten Mal Spuren. Die fehlenden Stücke hatten feine Umrisse ihrer Form hinterlassen und sie konnte an manchen Stellen erkennen, was früher einmal da gewesen sein musste. Mit hungrigen Augen und bebenden Fingern tastete sie über das Relief.
Noch bevor sie die Augen am Morgen öffnete, fühlte sie etwas anderes als Leere. Es war Freude. Freude über den Traum. Als sie die Augen dann aufschlug, stand die Heilerin neben ihr.
„Ich habe gehört, dass du dein Herz wieder brauchst und habe es dir gebracht. Nun bewahre und nähre es gut. Dann wirst du eines Tages alle fehlenden Stücke deutlich sehen können. Und nicht mehr einem Feind begegnen, sondern einem Gefährten. Und dein Herz wird die Wurzel für einen mächtigen Baum sein.“
©tangocleo 2009