Guter oder böser Bauer
„Oh, du min Eulenuhl“, brummte Maul, als er sich durch seinen Berg an unerledigten Dingen gewühlt hatte und sein sonnenbebrilltes Gesicht gen Licht der Kerzen und Schwibbögen reckte, um etwas Heimelichkeit und Wärme zu erhaschen. Er war in diesen Tagen ein schwer beschäftigter Maul, der die liebe lange Zeit damit zu tun hatte, vergilbte To-Do-Listen umzugraben, um dabei deren Nullen und Einsen im binären Code an den rechten Ort zu rücken. Sin Eulenuhl allerdings hockte am Fenster und schuhuhte ihm die Minuten und Sekunden, ja sogar die Stunden und Tage vor, weil der Maul mal wieder etwas blass um die Nase herum aussah und das Eulenuhl sich desterwegen etwas Sorgen machte.
Alle Rauhen im Ort waren dieser Tage auf den Beinen und qualmten in jeder Straße und Gasse, auf jedem Platz und in jedem Winkel, auch in den Schankstuben, auf den Dächern und in den Kemenaten eines jeden braven und weniger braven Ortsbewohners, um das Alte in Frieden zu verabschieden und das Neue willkommen zu heißen.
Allerdings wagte sich keine von ihnen an den großen Maul heran, weil er nur allzu oft mit Geschimpften um sich warf und nie damit zufrieden war, was er und wie er es gerade tat.
Alle, bis auf eine. Die Aga, die wie eine Kröte auf dem Misthaufen des Ortes saß und sich am frischen Dung der Kühe, Schafe und Ziegen erwärmte.
Die Aga war eine der Anführerinnen der Rauhen. Eine – fast aufs Wort genau – weiße Frau, die vieles, aber nicht alles, wusste. Und dennoch war fast alles an ihr weiß, sogar die Zunge und das Blut in ihrem Inneren. Die Aga mochte Menschen wie Maul, weil sie sich blind wähnten und gut leiten, aber auch so manches Mal – wohin auch immer – verleiten ließen. Und die Aga mochte es, wenn man ihren Sinnrätseln folgte. Am Revers ihres ansonsten schneeweißen Mantels prangten und bangten lauter Pins von ehemaligen Weltenreisenden. Meist hat sie diese geschenkt bekommen, sich manchmal allerdings auch einfach einen genommen.
Maul mochte die Aga, verstand allerdings nicht, warum sie sich mit ihm abgab. Er war ansonsten nicht so gut dauerhaft mit Menschen, außer mit sinem Eulenuhl. Das war sein Ein und Alles. Auch wenn sie sich eigentlich immer Wortgefechte lieferten und manchmal mehr Nadelkissen zueinander waren, als einander freundlich gesonnen.
Aga hingegen wurde von Maul angebetet, und er ließ zu Zeiten kein böses Wort auf sie kommen. Selbst wenn die anderen Rauhen sich laut kritisch über sie äußerten, hörte er weg und ließ nichts an sein Bild über sie herankommen. Er war ihr folgsamster Jünger, wohingegen er die anderen ihres Bundes nicht sonderlich beachtete und sie das eine oder andere Mal auch mit Unfreundlichkeit beseelte. Keine von ihnen, außer Aga, wollte näher mit Maul zu tun haben.
Bis eines Tages zur Stunde der ersten Nacht im neuen Jahr eine Fremde im Ort erschien. Eine Unbekannte aus dem Morgenland der Sorgen. Eine mit Regencape aus lauter Prismen über dem Patchwork-Kleid aus lauter Mäusefällen. Eine, die Maul in die Augen sah und ihm mit Riechsalz seine sieben Sinne kitzelte.
„Magst du ein guter oder ein böser Bauer sein?“, fragte sie ihn und hielt sich seine rauen Handinnenflächen vors Gesicht.
Maul, „Hmte“, während die Fremde mal seine Linke und dann wiederum seine Rechte von sich wegschob, um ihn abwechselnd mit ihrem linken und dann mit ihrem rechten Auge anzublinzeln.
„Bist du Rechts- oder Linkshänder?“, fragte sie weiter, während sie seine Hände mit ihrer feuchten Atemluft anhauchte und seine Fingerkuppen, eine nach der anderen, mit ihrer Zunge anleckten.
Maul brummte verlegen: „Weiß nicht“
Dann, nach einer Weile des Schweigens, während die Fremde weiterhin seine Hände sich abwechselnd vor das Gesicht hielt, sagte Maul: „Ich bin weder das Eine noch das andere. Ich bin einfach nur ich.“
Die Fremde lachte, ließ ihn los und entgegnete ihm: „Klatsch jetzt in die Hände!“, und er tat, wie ihm geheißen. Mehrfach, wie ein kleines Kind, dass sich an der Geburtstagstorte erfreute.
Dann fragte die Fremde ihn: „Pflegst du deine rissigen Füße bei den zerlederten Schuhen, die du oft trägst?
Maul erstarrte, sah die Fremde an und schüttelte den Kopf, gleichzeitig allerdings versuchte er auch mit ihm zu nicken.
Da lachte die Fremde erneut und strich dem Maul mit ihrer Linken sanft über die spröden Lippen.
Maul spürte ein Prickeln im Nacken und seine kurzen Lockenhaare stellten sich auf. Er zog die Stirn kraus und murmelte vor sich hin, als ob er sin Eulenuhl rufen würde.
„Siehst du“, sagte die Fremde. „Du hast doch einen Freund deines Herzens. Solltest öfters auf ihn hören, mein Lieber“, fuhr sie fort und lächelte.
Maul schluckte, seine Hände waren trocken, als er das Eulenuhl umarmte und damit schließlich auch sich selbst. Klar, er würde wohl nie den charmanten Galan abgeben, aber immerhin könnte er sich jetzt einen Kakao gönnen, wo er doch in sich den eigenen Freund und Helfer erkannt hatte.
© CRK, BS, 12/2021