Ein Ge-Danke-n zur Nacht
Schon seit Stunden sitze ich hier und lausche dem Atmen der Großstadt bei Nacht. Ich kann nicht schlafen. Der Geschirrspüler läuft, und die Waschmaschine pumpt Wasser ab. Aus dem Nachbarhaus, schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite, erklingt Klaviermusik. Eins der Fenster ist angeklappt, und in deren Gaube steht noch immer ein Schwibbogen, der den Raum dahinter mit seinen Teelichtern schummrig erleuchtet. Ich kann den Klavierspieler nicht sehen, aber ich spüre sein beseeltes Lächeln auf meiner Haut. Und ich fühle, wie seine Fingerkuppen, über die Kirschzweige wandern, die in meiner bauchigen Vase aus Glas, deren Oberfläche mit Mosaiksteinen belegt ist, stehen und meinen Ort der Stille und Wünsche mit dem bald nahenden Frühling beseelen.
An den Knospen-Spitzen der Zweige schimmert schon etwas grün hindurch und bald werden daraus junge Blätter erwachsen und vielleicht auch Blüten ... Ähnlich wie mein Ansinnen auf ein inneres Zuhause, dass sich im Äußeren zeigt. Oder vielleicht auch umgekehrt.
Barfuß laufe ich durch die kerzenbeschienene Wohnung. Das Laminat knarrt immer an ganz bestimmten Stellen, wenn ich darüber hinweggehe und nicht stehen bleibe, um mich in meiner Sache zu vertiefen.
Ich könnte wetten, dass niemand im Haus daran gedacht hat, dass die Sohlen unserer Füße und die Böden, auf denen sie laufen, auch Eigenliebe benötigen, wenn wir wurzeln wollen, um nicht im Sturm der ratlosen Sinnfragen umzuknicken, wenn irgendein selbsternannter Guru nach uns ruft und wir an seinen Worten festkleben bleiben, nur um nicht selbst nachdenken zu müssen. Und falls wir es schließlich doch wollen, ist es dafür dann oft zu spät …?
Und ich denke über das Mysterium des Lebens nach. Nämlich heute hier zu stehen, an diesem Wohnzimmerfenster und den leuchtenden Schwibbogen, in der Gaube, auf der anderen Straßenseite, zu betrachten, ist für mich nicht so selbstverständlich, wie es vielleicht sein könnte, wenn dieses, jenes oder Sell nicht gewesen wäre.
Ergo ist es auch ein kleines Wunder.
Ein Kuriosum darüber, dass mir in meiner Vergangenheit so oft Menschen begegnet sind, die mir wohlgesonnen waren und die mich ein stückweit begleitet haben, und das obwohl ich es damals oft nicht verstanden und auch nicht wertgeschätzt habe. Nicht aus tiefstem Herzen. Denn ich habe ihnen oft nicht aufmerksam zugehört, sondern in diesen Fällen nur meine Lauscher auf ihren hungrigen Durchzugsempfang gestellt und bin nie davon satt geworden.
Soll heißen: Ich habe zu jenen Zeiten anderen Menschen nicht viel zurückgegeben, mir selbst auch nicht, obwohl ich immer bemüht gewesen bin. Damals bin ich fest davon überzeugt gewesen, dass auf meinem Grabstein mal stehen würde: „Und er hatte sich stets bemüht …“
Heute denke ich noch nicht über Grabsteine nach. Heute gestalte ich mir meine kleinen Wunder selbst und sehe sie wachen Auges in meiner Umgebung. Heute lache ich mein Leben und die Menschen darin an, nicht aus und male mir meine Welt, auch die Ungeheuer darin, bunt an.
Heute bin ich mein Macher und schiebe nicht andere Leute vors Loch. Heute nehme ich dich an die Hand und gehe ein Stück des Weges mit dir. Ich glaube an dich und an mich, aber nicht an den Wunderheiler von nebenan.
© CRK, LE, 01/2022