Ich bin für jede Auseinandersetzung, die mich und andere weiterbringt. Wenn es dann noch mit Respekt zugeht, habe ich keine Wünsche offen. Allerdings stellt sich mein Hang zu Genauigkeit als Hemmschuh heraus. Den habe ich mir nun endgültig angezogen. Sieht zwar bescheiden aus, passt aber wie für mich gemacht. Ich werde erstmal eine Weile damit herumlaufen, bis er eingetragen. Derweil verlege ich mich auf’s Amusement. Vor ein paar Wochen hatte ich mich bereits in’s Parkett gesetzt, aber das war nur halbherzig. Jetzt ist mein Herz voll. Wenn ich freundlich um eine Stellungnahme gebeten werde, gebe ich sie gerne ab. Ich steige aus, weil das inhaltliche Gespräch mich nicht weiterbringt. Es kostet mich Zeit und Arbeit. Das ist auch in Ordnung, doch will ich dafür ein bisschen gute Laune zurückhaben. Das ist meine persönliche Angelegenheit und Konsequenz, die ich aufgrund eines eigenen Missverständnisses ziehe.
Wenn es keine schlechteren und besseren, sondern nur verschiedene Sichtweisen gibt, hat nur ein einfacher Meinungsaustausch einen Sinn. Bei Auseinandersetzungen setzt man sich mit und anhand von Argumenten auseinander, und dabei geht es um das bessere Argument, die zutreffendere Aussage und die plausiblere Annahme. Und es geht um angemessene, bildhafte Beispiele, die das Gemeinte möglichst unmittelbar illustrieren. Wenn es gut läuft, kann man auch aneinandergeraten, und es ist dann tatsächlich „von Vorteil …, sehr erhellend, vielleicht sogar bereichernd, die jeweils andere Weltsicht und das jeweils andere Menschenbild etwas genauer kennen zu lernen und vielleicht sogar ein Stück weit zu verstehen.“ Man kann daraufhin einen neuen Blickwinkel übermehmen, eine Überzeugung überdenken, eine andere sich aneignen und im Wortsinn bereichert sein. Es würde über das bloße Beklagen des Laufs der Welt und das leichtfertige Ausmachen von Akteuren hinausgehen.
Ich will nicht das Gefühl haben, erneut mit der Diskussion einer kleinen Erzählung wie „Deutschland im Winter. Ein Protokoll“ eine Chance dahingehen zu sehen, einen etwas erhellenden, neuen Blick auf eben diesen Lauf zu werfen. Ich will das Gefühl haben, etwas tiefer hineingeschaut und etwas besser verstanden zu haben, dem Grund der Dinge etwas näher gekommen zu sein. Nur ein Stück. Welchen Grund hätte ich, morgens aufzustehn und zur Arbeit zu gehen, wenn ich mir ständig neue Beweise für die Schlechtigkeit der Menschen aufschulterte?
Du bleibst mit deinen Klagen und Urteilen an der Oberfläche. Es scheint, die Kälte und Herzlosigkeit der Welt sind Fetische, an denen du dich abarbeitest, ohne zu fragen, woher diese Erscheinungen eigentlich kommen. Deine Antwort lautet immer: Die Menschen sind einfach zu schwach. Der Junge, der beim Fußball nicht mitspielen darf, ist zu schwach. Die Eltern, die einen Anwalt bemühen, sind schwach, und der Mann, der sich gegen seine Ehefrau nicht positioniert, ist schwach und feige. Von Angst willst du nichts wissen, es sei denn, sie käme aus der Schwäche und ist eigentlich Feigheit. Wer da nicht von Feigheit spricht, will eben die Dinge nicht beim Namen nennen.
Es ist aber umgekehrt; die Schwäche ist eine Folge von Angst, sowie vieles Andere eine Folge von Angst ist. Die Angst, nicht zu genügen, nicht geliebt zu werden, es sowieso nicht zu schaffen und zu versagen, nicht glücklich zu werden, die Angst, allein zu sein und zu bleiben. Die Angst vor sozialem Abstieg, vor Gewalt, Betrug und Lüge ... Das ist ein Grund für Schwäche, wenn man mit diesem Wort überhaupt arbeiten will. Es ist auch ein Grund für Gewalt. Angst ist der Grund vieler Erscheinungen, die den Gesellschaften einen menschenunwürdigen und -feindlichen Charakter verleihen. Das ist Legion.
Ich will gerne glauben, daß du einem kleinen Mädchen oder einer jungen Frau nichts zuleide tätest, und ihre Mutter würde das auch sehr gerne glauben. Sie will es aber wissen, und das kann sie nicht. (Wenn es sich bei deinem Beispiel um eine volljährige Klientin handelt, bleibt immer noch die komplizierte Beziehungsstruktur, die für das Mitnehmen im eigenen Auto eine klare Vereinbarung erfordert. Ein Therapeut ist kein guter Bekannter oder Freund, auch wenn das oftmals so gesehen wird.) Deine Frage, wieso du denn nicht einfach dieses Mädchen mitnehmen könnest; das sei doch die selbstverständlichste Sache der Welt, muss deshalb in den Ohren der Mutter und in meinen seltsam weltfremd klingen, auch wenn wir davon ausgehen können, daß du nur eine Kritik an den Zuständen formulieren wolltest. Das ist aber nichts weiter als ein am Gartenzaun kopfschüttelnd in den Dornbusch geseufzter Gemeinplatz, mit dem keiner etwas anfangen kann, außer vielleicht ein ebenso ratloses „Ja, so is das wohl.“ hinterherzuseufzen. Es ist nicht falsch, die teils bizarren Erscheinungen auf diesem Gebiet zu beklagen. Es ist aber nicht richtig, Eltern, Lehrer oder Feministinnen für bescheuert zu erklären und ihnen die Schuld für eine Entwicklung zu Kälte, Herzlosigkeit und Regelungswahn anzulasten. Das meine ich mit Oberfläche. So kommt man den Dingen nicht auf den Grund.
Deine Beipiele mit dem Fußballjungen und den Verkehrstoten helfen nicht weiter. Es sind Gestze und Verordnungen, die die Zahl der Verkehrstoten von einem Rekordtief zum nächsten treiben. Würden alle immer beachtet, gäbe es keine. Aber das ist auch nur ein technisches Beispiel; Menschen sind nicht mit Autos vergleichbar. Das mit dem Fußballjungen ist ein anderes. Ich sage nicht, daß Lehrer, Eltern oder Betreuer sich vor den Jungen stellen sollen, um ihm einen Platz in der Mannschaft zu sichern, indem sie die Stärkeren beugen. Der Junge braucht erst dann eine Unterstützung, wenn diese Fußballszene beispielhaft für eine sich entwickelnde oder bestehende Loserrolle ist, aus der er selbst nicht herauskäme. Daß seine Eltern möglicherweise auf die Barrikaden gehen, weil sie es zufällig beobachten oder er ihnen sein Leid klagt, mag ja sein. Das ist aber eine Erscheinung für sich, die ihre Grundlage und Herkunft hat. Es wäre doch rasend interessant, allein dieses Phänomen zu besprechen und zu fragen: Wie kommen Eltern dazu, so zu handeln? Ist es vielleicht so, daß sich die Auffassung breit macht, ein Kind sei eine Art Projekt der Eltern, das sie mit allen Mitteln zum Erfolg führen und alle Hindernisse aus dem Weg räumen wollen? Ist es ein Zeichen einer allgemeinen Psychologisierung des Alltags? Nur zwei Fragen, die man stellen könnte und die zeigen, daß es nicht diese Eltern sind, die aus sich heraus solche Annahmen und Auffassungen entwickeln. Diese Ideen müssen sich zwangsläufig aus den Bedingungen entwickeln, unter denen diese Eltern leben. Es ist sehr leicht einzusehen, daß die Gründe für das, was du Herzlosigkeit und Kälte nennst, unüberschaubar vielschichtig und Zuschreibungen wie
Feministinnen wollen alles Lebendige verbieten. banal und absurd sind. Daß du mir die Auffassung zuschreibst, eine Mutter solle ihr Kind tunlichst nicht mehr stillen, kann ich mir allerdings nicht mit Oberflächlichkeit erklären. Da ist schon ein anderes Kaliber am Werk. Ich stehe zwar hier wie andere auch als Projektionsfläche, aber nicht als Zielscheibe, auf die mit solchem Kaliber banale Schwarzweißbilder abgefeuert werden.
Wie gesagt; alles das hat nur mit meinem Missverständnis im Zusammenhang mit Genauigkeit und Auseinandersetzung zu tun, die hier gar nicht angemessen ist. Und deshalb beherzige ich lieber tangos Rat.