Deutschland im Winter. Ein Protokoll
Beteiligte:Verschneite Dezembernacht (-5 Grad); die Bundes-Verspätungsbahn; Weihnachten, das Fest der Liebe; 4 Christen-Polizisten und die Dienstvorschrift; ein reisender Sohn; eine alleinerziehende Mutter; eine Freundin.
Der Sohn, 16 Jahre reist von K., wo er auf einem Schul-Symposion war, am Sonntag abend nach A. mit Regionalzügen. Verpasst wegen Verspätung (Personenschaden) in Tr. den Zug nach A., es ist 23.30h. Der Bahnhof ist verlassen von Personal; kein Warteraum. Nächste Weiterfahrt nach A., (mehr als 80km, Anm. d. Verf), erst um 5.30h. Er ruft ratlos seine Mutter an. Sie rät ihm, die naheliegende Polizeistation aufzusuchen, und zu bitten, die Wartezeit in den geheizten Räumen dort sicher zu überbrücken. Die Freunde und Helfer bestätigen ihm zwar die Fahrplanauskunft, bitten ihn aber desweiteren, die Polzeistation zu verlassen, sie könnten ihm weder helfen noch ihn beherbergen.
Die Mutter fragt telefonisch bei dem Sohn nach, der schon wieder frierend am Bahnhof steht und dabei hofft, dass ihn die Bahnpolizei nicht vertreibt, womit die Kollegen der Bundespolizei noch beim Abschied gedroht haben.
Die Mutter hat kein Auto. Es ist inzwischen 0.30h. Züge fahren nicht mehr, Autos kann man auch nicht mieten. Bleibt also nur, eine Freundin zu wecken und sie um ihr Auto zu bitten.
Die Freundin sagt schlaftrunken zu. Die Mutter verständigt den Sohn, kocht eine Thermoskanne Tee, schreibt den schlafenden Geschwistern eine Notiz, und ist zehn Minuten später vor der Haustür der Freundin, die schon das Auto enteist. Eine schnelle Umarmung und Gute-Fahrt-Wunsch. Freie Straßen und ein Navigationsgerät lassen die Mutter gegen 2h am Bahnhof in Tr. den Sohn glücklich in die Arme schließen.
Sie hält an der Polizeistation. Drinnen sind 4 Männer, es ist warm, aus den Tassen dampft der Kaffee, ein kleiner Christbaum funkelt auf einem Schreibtisch. Sie stellt sich vor. Und fragt, ob es im Sinne von Polizisten, Christen und wahrscheinlich Vätern ist, dass ein junger Mensch in einer kalten Winternacht alleine an einem verlassenen Bahnhof steht. Nur einer wagt ihr betroffen in die Augen zu sehen, die anderen verschwinden in Nebenräumen. Er antwortet:
„Wir haben eine Dienstvorschrift. Wir können hier niemand beherbergen. Wäre ihr Sohn betrunken, käme er in die Ausnüchterungszelle (beheizt, Anm. d. Verf.). Würde er randalieren, nähmen wir ihn fest (beheizt, Anm. d. Verf.). So ist das nun mal.“
Sie blickt auf die Stühle, die Tassen, die abgewendeten Gesichter und geht.
In Deutschland, einem Land, so stolz auf seine christlichen Werte, so bereit großmäulig andere Kulturen barbarisch zu nennen, so zivilisiert und infrastrukturiert, kann man doch leichter als vermutet an kalten Sackbahnhöfen stranden und an kalten Herzen erfrieren.
„Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“Heinrich Heine
©tangocleo 2009