Trauer Feiern.
Wir sitzen da also alle so rum, ganz viele alte Tanten und Onkel, Freunde und Verwandte von Fanny, meine Eltern Anda und Anna auf der Bank vor Sandra und mir, ein wenig Sicherheitslücke zwischen ihnen, aber immerhin. Dafür, daß sie nur ihre Anwälte miteinander reden lassen, ist das verdammt nah. Alle warten auf den Pastor, Lachen verboten oder zumindest irgendwie scheinbar fehl am Platz. Ich bin saugut gelaunt, die ganze Latte der Emotionen ist willkommen, und Weinen und Lachen sind ja nur zwei der vielen Enden.
Ich Trage mein versöhnlichstes Ego, eine Jeans, ein schickes Jackett und Cowboystiefel. Sandra an meiner Seite ist eine Quelle der Kraft, wir lieben uns, und ich habe noch kein Programm, stehe also auf, mir eins zu holen, da kommen Raimert, Neele, Tadeusz und Pina in die Kapelle getreten. Drei Jahre lang waren sie meine Familie. Drei Jahre ist das her. Die letzte Begegnung hatten wir auf der letzten Beerdigung. Ich grüße; Raimert und sein Sohn Tadeusz freuen sich zurück, Neele und ihre Mutter strafen mich mit dem Blick der Verachtung. Oh man, denke ich. Wie mir das doch abgeht, diese konservierte Kraft negativer Energien. Blöde Zicken. Wer nicht will ist selber Schuld.
Ich gehe zurück, setze mich wieder neben Sandra. Die hat die Szene beobachtet und meint direkt „Na, das war ja mal eine Begrüßung.“ Sandra bekommt alles mit. Sandra ist ein Seismograph für Inter- und Innermenschliches. Das hier hat aber sogar Fanny in ihrem Sarg mitbekommen. Eine tiefste Trauer tragende Frau mit getönten Haaren nickt mir von der anderen Seite des Ganges entgegen.
Frau Schoppmayer mit ihrem roten BMW. Fannys Vermieterin. Die sich so gerne bei Fanny als Malerin fühlte. Verdammt, ich bin zu gut gelaunt. Kunststück, denke ich, ich hatte mich ja auch schon vorab verabschieden können. Life und in Farbe an Fannys Sterbebett. Ich erwidere ihren Wunsch nach geteilter Betroffenheit, indem ich traurig nicke, die Augenbrauen hochziehe und den Mund zusammenpresse.
Dann schleicht der Pastor an. Bleibt vor einem Sarg stehen (ach, und da ist jetzt Fanny drin, wie seltsam), ist andächtig und bekreuzigt sich. Er denkt wohl, wie um alles in der Welt er seinen Beruf so verfehlen konnte, denke ich. Es ist die Aura seiner Gesten, die ihn verraten, seine Heuchelei steckt in jeder kleinsten seiner künstlichen Bewegungen, und erst recht in dem dazwischen. Und als er dann den Mund aufmacht, höre ich, wie Fanny in ihrem Sarg leise „So ein Schurke, so ein Scharlatan“ murmelt. Ich höre, wie sie sich energisch auf die Seite dreht, dabei die Knie am Sarg stößt, „Scheiß Kiste“ flucht, sich das Kopfkissen zurechtknautscht und für den Rest der Veranstaltung lieber tot stellt.
Der Pastor indes säuselt in einem ausdruckslos geleiert-gelangweilten Ton von Vergebung der Sünden, die ganze Litanei. Zuerst traue ich meinen Ohren nicht. Jeden Moment wird er kollabieren. Immer wieder spricht er über Sünden und Schuld und natürlich Vergebung, und wieder Sünden, aber so energielos wie der ist, entsteht da gleich ein Schwarzes Loch. Nein, es ist eine Parodie! Sandra schaut mich von der Seite an und flüstert „Das könnte man fast blasphemisch nennen“. Ich beiße mir auf einen weichen Zipfel meiner Unterlippe. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Sandra mich jetzt skeptisch anguckt. Dabei ist auch sie am grinsen. Jetzt schmecke ich die Süße meines Blutes. Guck sie nicht an, guck sie bloß nicht an. Ich gucke sie an.
Zwei Sekunden lang fliegen Funken zwischen unseren Augen, ohne daß die Bombe zündet. Dann prusten wir beide los. Der Pastor stockt und schaut uns erblichen an. Ich reiße mich zusammen, hinter mir kichert es unterdrückt. Es ist Tadeusz, mein einstiger Bruder, mittlerweile langhaariger Blackmetaller, der das Primitive mag. Sofort pruste ich wieder los, Sandra neben mir schafft es auch nicht, und Tadeusz lässt es jetzt ganz raus. Ich drehe mich um, da trifft mich der Blick der Mutter, und ich erstarre zur Salzsäule. Im letzten Moment sehe ich noch, das auch Neele in sich reingrinst. Der Pastor indes löst sich aus seiner Erstarrung und setzt an zu neuem Wort. Alle drei beißen wir uns nun auf die Zungen und gucken auf den Boden. „Es ist der Pfad der Tugend, den auch Fanny...“
Diesmal explodieren wir. Alle drei auf einmal, und wir sind nicht mehr allein. Aus allen Reihen höre ich es Tränen lachen, die nicht mehr unterdrückt werden können. Ein Virus, alle sind wir infiziert. Lachend schaue ich mich um, die ganze Trauergemeinde brüllt, eine verstockte alte Dame mit lila Halstuch haut ihrem haltlosen Mann den Ellenbogen in die Rippen, aber ich sehe, daß auch ihre Mundwinkel grinsend verkniffen sind. Fannys Sarg rüttelt und schüttelt sich, ich halte meinen Atem an um vielleicht ihr Lachen aus dem Gebrüll herauszuhören. Aber zu lautstark, wild und ausgelassen grölt die ganze Bande.
Zu schön um wahr zu sein. Als ich zum Pult aufschaue, ist der Pastor doch noch da. Er leiert immer noch vor sich hin, vereinzeltes Schniefen von hier und da, einmal ein Schluchzen von Frau Schoppmayer. Ich schaue zu Fannys Schwester Irmgard in der vordersten Reihe und verweile ein wenig bei ihr, da schwappt ihre Traurigkeit auf mich über. Endlich kann ich die Zähne von meiner Unterlippe lösen. Ich versuche dem Pastor zuzuhören und den Worten Bedeutung zu geben, indem ich sie für mich uminterpretiere.
Es wird gesungen, Richard und Veronika spielen wunderbar authentisch auf ihren Geigen und Bratschen. Ich komme sofort wieder in mein inneres Lachen, so schief quietschen die beiden zwischendurch. Welch fabelhafter Kontrast zur Verdorbenheit des Pastors. Und dann ist da eine Pause, in der ich einfach nach oben schaue. Und plötzlich ist sie da. Sie springt mich von oben an wie ein Panther von seinem Baum. Fanny ist da und berührt mich. Die Tränen schießen in meine Augen. Scheiße, daran hatte ich nicht geglaubt. Mein Kopf versucht es noch zu leugnen, rationale Erklärungen zu bemühen, aber mein Herz spricht es schon aus. „Fanny ist da.“ sage ich zu Sandra.
Anda spricht es ein paar Minuten später mit den ersten Worten seiner Trauerrede an. „Liebe, liebe Fanny – ich bin überzeugt, daß Deine Seele jetzt bei uns ist – liebe Verwandte und Freunde!“ leitet er ein. Wenn der wüßte, denke ich. Eine schöne, warme Rede hält er, herzliche Anekdoten, die ans Wesentliche rühren. Ein bisschen zuviel kulturpessimistischer Kunstdünkel, aber das sei ihm vergönnt. Es ist seine Berufung. „Als ich zu Hause diese „Stoffskulptur“ – Anda holt eine von Fannys bekannten Stoffkatzen aus einer Plastiktüte – „meinem Kater zeigte, schlug dieser zwei mal mit herausgefahrenen Krallen nach diesem vermeintlichen Konkurrenten!” Ein vergnügliches Lachen löst sich in den Reihen, diesmal wirklich.
Der Pastor ist wieder dran und liest das Vaterunser ab. Ich traue meinen Augen nicht. Der Pastor – immer noch derselbe verdammte Heuchler, niemand hat ihn ausgetauscht, auf das er aufhöre, falsch Zeugnis abzulegen – liest es tatsächlich ab, Wort für Wort. Selbst ich kann es auswendig. Ich übe mich im Synchronübersetzen:
Liebe Natur und Kraft und Energie,
du bist echt was Einzigartiges.
Gut, daß du bereits da bist.
Toll, daß du wirkst, wie ich es ebenso will,
in allem was ich kenne und nicht kenne.
Toll, das wir dich auch futtern können.
Doof, daß wir oft auch gegen dich ankämpfen;
wird nicht einfach, daß alles wieder grade zu biegen.
Führst uns aber auch ganz schön in Versuchung, du!
Na, wird schon schiefgehen.
Bist ja irgendwie immer da, und setzt dich am Ende auch immer wieder durch.
Toll.
Beim Rausgehen fällt mir auf, was die Rede des Pastors und die Rede Andas gemeinsam hatten, und was sie trennt. Raimert pflichtet mir lachend bei, er hatte das Gleiche gedacht. Beide benutzen die Gelegenheit, um zu missionieren, aber im Gegensatz zum Pastor ist Anda von seiner Mission überzeugt.
Dann sitzen wir wieder alle, diesmal gibt es Futter beim Griechen. Da ist sie wieder, diese Natur und Kraft und Energie. Und jetzt ist sie entfesselt. Richard macht es vor und bestellt sich Retsina, da mache ich mit. Als ich begreife, daß es Weißwein ist, und kein Schnaps, bestelle ich mir Ouzo dazu. Essen kann ich nichts. Richard und ich sitzen nebeneinander und ich bringe ihm bei, daß er schief gespielt hat, indem ich die Echtheit seines Spiels mit der Echtheit des Pastors vergleiche. Was wären wir ohne die Kontraste. Ich mache Richard auf die Schönheit meiner Mutter aufmerksam. Die trägt mit 70 noch Kreolen, und ihre Falten bringen die erst so richtig zur Geltung. Richard findet, daß meine Mutter eine ganz scharfe Braut ist. Ich finde das auch. Essen kann ich immer noch nichts, und ich raffe, daß es nicht an der Abwesenheit Fannys, sondern der Anwesenheit Neeles liegt.
Ich bin dann immer da, wo Neele nicht ist. Aber das liegt nicht an mir, denn ich scher mich jetzt ganz bewußt einen feuchten Kehricht. Aber Sandra kotzt es an. „Sie hat das charmanteste Lachen, ein hübsches Engelsgesicht, die Unschuldsmiene in Person, mauert aber eine Wand zwischen dich und alle, mit denen sie spricht“, sagt sie. Das stimmt, denke ich. Sandra, mein Survivalseismograph. Ich hatte ihr nichts erzählt, außer, daß ich Schiss hatte, ihr zu begegnen, weil ich befürchtete, doch wieder hin- und weg zu sein. „Neele macht es mir richtig einfach“, sage ich zu Sandra.
Mittlerweile bin ich betrunken. Essen kann ich immer noch keinen Happen. Tadeusz, Sandra und ich rauchen vor der Tür lecker Nelkenzigaretten und mir klappern die Zähne. Ich bin etwas traurig, daß Sandra Fanny nicht mehr kennenlernen konnte. Aber froh bin ich, daß sie meine vergnügliche Familie mag. Was auf Gegenseitigkeit beruht.