Im Zweifel für das Leben
Es stand auf des Messers Schneide. Die Frau lag noch immer reglos. Gleichmäßige Geräusche neben ihr zeigten den Herzschlag, noch schlug es von alleine, aber das konnte sich jederzeit ändern.Neben dem Bett stand eine Schwester und kontrollierte die Maschinen und die Sauerstoffsättigung. Alles schien in bester Ordnung zu sein, zumindest was die Geräte betraf, alles funktionierte einwandfrei. Das Leben im Bett funktionierte auch noch – auf eine gewisse Art und Weise.
Der Raum, wenn man die Nische als solchen bezeichnen konnte, wirkte kalt und leer, so als würde er Leben aussaugen und nicht dazu dienen, Leben zu erhalten, zu retten. Aber so war es immer, wenn ES anwesend war. ES stand am Vorhang. Die Schwester ging durch ES hindurch. Sie schauderte kurz, ohne zu wissen warum. ES hatte oft diese Auswirkung auf die Menschen. ES störte sich nicht daran.
Solange der Muskel in der Brust schlug, solange musste ES warten, ES hatte Geduld. Der blaue Vorhang schmolz mit der Wesenheit, das der Tod sein mochte oder auch nicht. Wer von den Lebenden könnte das sagen? Und die es wissen, verraten es nicht.
ES kam nun auf die Frau zu und sank in sie. „Bist du bereit?“, fragte es sanft.
„Noch nicht“, antwortete der wache Geist der Frau.
„Dann musst du dich entscheiden – willst du leben oder sterben?“
„Lass mich nachdenken.“
„Ich hab Zeit, nimm dir soviel du brauchst und dein Herz dir noch zu lässt.“
Der Geist der Frau schlief wieder ein, aber im Hintergrund arbeitete er und versuchte zu einer Entscheidung zu kommen.
Was war wichtig?
War die Familie wichtig?
War es notwendig, dass immer sie alles richtete und zuhause schaltete und waltete?
War sie für andere Menschen wichtig? Oder war das bloß ein illusorischer, selbstverliebter Gedanke?
Was hielt das Leben noch für sie bereit?
Würde sie alle Probleme meistern können?
Was ist wichtig? Gibt es wichtigeres im Leben als das Leben selber?
Alle Fragen der Erde zerfielen zu Staub und machten dem Licht platz, das sie schon einmal gesehen hatte. Damals als ihr Herz zu schlagen aufhörte und einen gewaltigen Satz machte, bevor es wieder ansprang.
Tage verstrichen und der Geist der Frau überlegte noch immer. ES wartete geduldig, verschmolz mit dem Vorhang. Nur für die Frau war ES da. ES würde warten, solange es dauerte, solange bis der Muskel entweder aufhörte zu arbeiten oder die Frau eine Entscheidung traf. So oder so – irgendwann löste sich alles auf. ES wusste das. ES war immer dabei, wenn etwas aufhörte, bevor etwas anderes begann.
„Ah“, hörte ES endlich.
„Du hast dich entschieden?“
„Ja.“
„Im Zweifel für das Leben. Ich werde auf dich warten.“
Und die Maschinerie, die man gemeinhin Leben nennt, sprang mit lautem Getöse an.
(c) Herta 12/2009