Pazifik
PazifikEs war noch dunkel draußen, als Heinrich das erste Mal hochschreckte und sich verwirrt umsah. Im Traum war er durch ein Wäldchen geirrt, durch einen schmalen Pfad, der sich durch Meereskiefern schlängelte. Der Morgen dämmerte schon und er lief schneller und schneller, bis der Weg schließlich auf einer Lichtung endete. Unter ihm breitete sich in tiefem Blau der Pazifik aus, über den gesamten, weiten Horizont hinweg. Zwischen den schweren, dunklen Wolken blitzte die Sonne hervor und färbte den Himmel in zarten Rosatönen. Heinrich stockte der Atem. Die Schönheit dieser Morgenröte griff nach ihm und trieb ihm die Tränen in die Augen. Er stand ganz still und blinzelte in das goldene Licht.
Ein steiler Trampelpfad führte nach unten an den Strand. Er machte sich an den Abstieg, setzte vorsichtig Schritt um Schritt über steiniges Geröll. Der Salzgeruch intensivierte sich, als er sich dem Meer näherte. Möwen kreisten laut kreischend über den hohen Wellen, die sich donnernd am Strand brachen. Die Wolken am Horizont hatten sich verdichtet und vor die Sonne geschoben. Heinrich zog die Schuhe aus und trat näher an das Wasser. Wie lange war er nicht mehr am Meer gewesen? Es musste mindestens zwanzig Jahre her sein, dass er mit Martha an der italienischen Adria gewesen war.
Und dann sah er sie, seine Martha, in ihrem roten Badeanzug inmitten der hohen Wellen. Sie hob jauchzend die Arme und winkte ihm zu. Mit einem Schrei des Entzückens drehte sie sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Sie schaukelte auf den Wellen, die sie verschluckten und wieder ausspuckten. Heinrich lief den Strand entlang und rief nach ihr, doch sie entfernte sich immer weiter, ein leuchtend roter Punkt am Horizont, der schließlich ganz verschwand.
Heinrich blieb stehen und ließ die Arme sinken. Er wusste plötzlich, dass sie nicht zu ihm zurückkehren würde. Sein Gesicht war feucht von der Gischt und von seinen Tränen, als er erwachte.
Pazifik, dachte er, Pazifik.
Er wiederholte es leise wie ein Code-Wort, das er nicht vergessen durfte. Sein Herz hämmerte in der Brust, als er sich aufsetzte und vorsichtig seine steifen Beine streckte. Noch immer spürte er einen stechenden Schmerz im Rücken und bewegte vorsichtig die Schultern, rollte sie vor und zurück. Er drehte den Kopf und blickte auf das leere Kopfkissen neben sich, wie um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich allein war. Martha war nicht mehr da. Sie war jetzt in Sicherheit.
Steifbeinig erhob er sich vom Bett und schwankte. Er wartete ein paar Augenblicke, bevor er Socken und Hose vom Boden aufhob und sich langsam anzog. Die Hose musste er mit einem Gürtel festzurren und der graue Pullover hing weit über seine Hüften. Die letzten Monate hatten ihn ausgezehrt, er hatte einiges an Gewicht verloren.
Als er die Spiegeltür des alten Kleiderschranks schloss, erschrak er beim Anblick des hageren alten Mannes, der ihm hohlwangig entgegen starrte. Der Stoppelbart und die weißen Haare, die sich bereits im Nacken wellten, ließen ihn wie einen Landstreicher aussehen. Heinrich straffte die Schultern und beschloss, dass es nun an der Zeit war, einen Barbier aufzusuchen. Seit Tagen hatte er mit niemandem gesprochen und sein Kühlschrank war leer. Er zog seinen Parka über und machte sich auf den Weg ins Dorf. Es war kalt an diesem Morgen im April. Heinrich zog fröstelnd die Schultern hoch und beschleunigte seine Schritte.
Die letzten Tage waren wie ein einziger finsterer Alptraum gewesen, aus dem er nur langsam erwachte. Die Stille am Morgen war am schwersten zu ertragen, seit Martha nicht mehr bei ihm war. Dabei hatte er so lange durchgehalten. Als Martha die Diagnose erhielt, war keinem von beiden klar, was auf sie zukommen würde. Das würden sie schon gemeinsam durchstehen!
Doch Demenz ist eine tückische Krankheit, die viele Gesichter hat. Anfangs waren es nur kleine Dinge, die sie vergaß, Worte, an die sie sich nicht erinnerte. Fast unmerklich ergriff die Krankheit Besitz von seiner Frau, schien Marthas Persönlichkeit mehr und mehr zu zersplittern.
An manchen Tagen erkannte sie ihn nicht mehr. Ihre Gefühlsausbrüche stellten ihn auf harte Geduldsproben. Langsam, aber sicher, verwandelte sich Martha in eine Fremde, in ein launisches, jähzorniges Kind. Immer öfter war sie verschwunden, wenn er vom Einkaufen zurückkam. Bald konnte er sie nicht mehr allein lassen. Nach und nach wurde Heinrich zum Wächter seiner Frau. Ein 24-Stunden-Job, der ihn völlig beanspruchte.
Als Martha das letzte Mal verschwand, hatte er sie nach stundenlanger Suche im naheliegenden Wäldchen gefunden. Sie lag bäuchlings in einer Hecke, kläglich wimmernd. Bei ihrem Anblick wurde ihm schlagartig klar, dass es nun an der Zeit war, die Kontrolle abzugeben. Der Rettungswagen kam, Sanitäter versorgten die Schrammen und Wunden seiner Frau und nahmen sie mit ins Krankenhaus. Später kam der Anruf aus der Klinik und die Diagnose der behandelnden Ärzte: Oberschenkelhalsbruch rechts sowie ein akuter demenzieller Schub. Heinrich schwankte zwischen Erleichterung und Entsetzen.
Und dann kam die Leere, groß und gnädig und rabenschwarz.
Heinrich näherte sich dem Ortszentrum und schob die düsteren Gedanken beiseite. Es war Markttag auf dem Rathausplatz. Zwischen den Obst- und Gemüseständen spielten ein paar Kinder Fangen, während sich ihre Mütter am Bäckerstand bei einem Cappuccino unterhielten. Die Blumenhändlerin pries lautstark ihre Tulpensträuße an. Das dröhnende Lachen des Fischhändlers vermischte sich mit dem Geschrei der Kleinkinder.
Heinrich blieb stehen und sah sich zögernd um. Das bunte Treiben auf dem Markt überforderte ihn komplett. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt, er fühlte sich sehr erschöpft. Der Friseur gegenüber hatte noch geschlossen, er würde wohl warten müssen. Das Café am Markt jedoch hatte bereits geöffnet. Ein heißer Kaffee würde ihm jetzt sicher gut tun.
Heinrich hielt auf das Café zu. Die Sonne blendete ihn für einige Sekunden und erinnerte ihn an das Bild aus seinem Traum, die Morgenröte über dem Meer. Sein Blick fiel auf das Schild über dem Eingang und zu seinem Erstaunen las er: PAZIFIK. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte ungläubig den Kopf. Pazifik? Wann, in aller Welt, hatte das Marktcafé seinen Namen geändert? Wie lange war er nicht mehr hier gewesen? Was für ein seltsamer Zufall!
Benommen setzte er sich an einen Tisch, bestellte Kaffee und ein belegtes Brötchen. Er war so sehr in seine Gedanken versunken, dass er erschrak, als ihn plötzlich jemand ansprach.
„Heinrich, alter Knabe! Du hast dich ja schon ewig nicht mehr hier im Dorf blicken lassen!“
Johannes, sein Freund und langjähriger Kollege, stand vor ihm und sah ihn freudestrahlend an.
„Wie geht´s dir, alter Freund? Was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?“
Heinrich nickte und lächelte. Johannes setzte sich und winkte sogleich dem Kellner. Auch er war älter geworden. Die letzten Jahre hatten tiefe Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Als es Martha noch gut gegangen war, hatten sie sich regelmäßig mit Johannes und dessen Frau Gerda getroffen. An den Samstagen waren sie meist zum Kegeln im „Anker“ und saßen danach zusammen auf ein Bier oder zwei. Es kam ihm vor, als sei das alles erst gestern gewesen.
„Was für ein Zufall, Johannes! Es ist wirklich verdammt lange her."
Der Kellner brachte zwei Pils an den Tisch und die Männer prosteten sich zu.
Heinrich spürte den erwartungsvollen Blick seines Freundes und räusperte sich.
„Willst du die kurze oder die lange Version hören, Johannes?“
Vielleicht waren es die lang unterdrückten Tränen oder auch einfach nur tiefe Erschöpfung, die Heinrichs Stimme nun brechen ließen.
Johannes musterte ihn aufmerksam und sagte schließlich leise:
„Es sieht so aus, mein Lieber, als hättest du einiges mitgemacht in letzten Monaten."
Er beugte sich vor und legte seine Hand auf den Arm seines Freundes.
„Erzähl´s mir, Heinrich. Ich hab Zeit. Viel Zeit."
(C) Text und Bild: IntoTheWild63