Human Patent
Zur Zeit schreibe ich beinahe täglich kurze Dystropien. Nicht, weil ich depressiv bin, mir gefällt es einfach. Folgendes ist mir mal wieder spontan eingefallen und ich musste es niederschreiben.„Wollen wir heute einmal ausgehen?“, fragt Isabell ihren Tom. Der schaut nur skeptisch. „Ausgehen?“ Kurz überlegt er, antwortet dann: „Klar muss nur schauen, ob meine ID grün ist.“ „Stimmt“, erwidert Isabell und holt sogleich ihr Mobiltelefon hervor. „Gut, dass die das gleich als App entwickelt haben“, meint Tom beiläufig, während er die MedGlobal-App öffnet. „Bei mir passt es. Alles grün“, packt er sein Handy zurück in seine Gesäßtasche und wartet darauf, dass auch Isabell grünes Licht gibt. In diesem Fall sogar im wahrsten Sinne des Wortes, denn ist das Update nicht aktuell, wird das mit dem Ausgehen nichts. „Schöne Idee, aber ich bin nicht aktuell“, zieht Isabell die Mundwinkel nach unten. „Echt?“, fragt Tom erstaunt nach? „Ich muss wohl das letzte Update verpasst haben“, ist Isabell traurig. „Dann mach doch schnell noch einen Termin, vielleicht kommst Du heute noch dran“, versucht ihr Freund ihr einen Ausweg aus der Trauer aufzuzeigen. „Heute? Es ist Freitag und wir haben es schon 16 Uhr. Da hat kein MedGlobal-Center und kein Akkreditierter mehr offen“, bleibt Isabell realistisch. „Naja, wenigstens können wir spazieren gehen. Wollen wir an der Friedens-Brücke“ angeln? Raus darfst Du ja noch bis 24 Uhr und Angeln waren wir schon eine ganze Weile nicht mehr.“ Isabell hatte sich so auf das Ausgehen und auf den Club in der Wismarer Straße gefreut. Dort, wo ein lange leerstehendes, ehemaliges Mehrfamilienhaus zu einem Club auf vier Etagen umgebaut wurde. Jede Etage ein eigener Bereich mit unterschiedlichen Musikstilen und im Keller die Bar für schnell Entschlossene. Sie liebt diese Bar. Nicht wegen der grünen Theke und den runden Barhockern. Nein, ihre heimliche Liebe gilt den alten Bildern an den Wänden, auf denen die Welt so anders scheint. Daraus wird erst einmal nichts. Bis sie ihr Update nicht bekommen hat, ist Ausgehen für sie nicht erlaubt. Ein Trost ist ihr, dass sie mit dieser Situation nicht allein ist und es heute noch Typen gibt, denen es viel schlechter geht. Die Lizenzverletzer. Sie ist froh, nicht zu denen zu gehören. Die ewigen Kontrollen in den Vorstädten, die ständigen Bußgelder und Gefängnisstrafen für die, die sich weigern, das Patent anzunehmen. Nein, sie ist selig damit, sich schon früh entschieden zu haben, wenn sie auch nicht wusste, wozu. Die neue Gesellschaft, die im Jahr 2130 begann. Das neue Zeitalter, wie es genannt wird, hat die Menschen aus ihren Nationen aus ihren Kulturen gelöst. Der Weg dorthin kostete Millionen das Leben. Die, die starben, die, die sich das Leben nahmen und die, die zwar noch am Leben sind, aber es nicht mehr leben können, sie sind zu bedauern oder zu verachten.
Der Umbruch kam im Jahr 2119. Dem Jahr, als den Menschen erklärt wurde, dass sie über eine Impfung zum Eigentum von MedGlobal geworden sind. Die Entrüstung und folgenden Aufstände wurden aber schnell unterdrückt. Einige wenige, die Lizenzverletzer kämpfen noch heute. Mehr als zehn Jahre später gegen die neue Ordnung. Sie wollen niemanden gehören. Für Tom und Isabell ist dieser Kampf unnötig. Er zerstört und beeinflusst ihr Leben an manchen Tagen negativ. Eben dann, wenn irgendwo in der Stadt mal wieder ein Anschlag verübt wurde und das Viertel abgeriegelt ist. Als Patente leben sie wie vorher auch. Sie können besitzen, was sie möchten, können heiraten und Kinder bekommen. Nur immer geupdatet sein, wenn MedGlobal auf eine Anpassung ihres Patentes besteht.
Was haben die Lizenzverletzer in den Jahren nach dem Umbruch geklagt und welche Prozesse wurden da geführt. Am Ende war alles so überzeugend, so klar.
Das höchste internationale Gericht hatte entschieden und erklärt:
„Das Gericht kommt nach Prüfung aller Sachverhalte und Argumente zu folgendem Urtei:
1. Mit der Patentierung der vollständigen TGA-Sequenz für das Produkt „PHV-N7“ besteht eine Schutzklassifizierung, derer MedGlobal alleinig bemächtigt ist, über deren Verwendung zu entscheiden. Durch die Verabreichung des Wirkstoffes „Globalpan“ wurde ein Teil dieser TGA-Sequenzierung an Personen ausgereicht, deren Organismen diese Sequenzierung über eine Translation in wesentliche Teile ihrer DNA übernommen haben. Damit wurden diese Personen selbst zur Patenteigenschaft, zum Human Patent vom MedGlobal. MedGlobal kann, um den Schutz seines Human Patentes zu bewahren, daher von Personen mit Translationseigenschaften verlangen, diesen Schutz aufrecht zu erhalten, indem die Personen Updates in Form von MedGlobal-Produkten akzeptieren. Daraus ergibt sich, dass Personen, die auf Updates verzichten, Patenteigenschaften irregulär übernehmen.
2. Ferner hatte sich das Gericht mit der Thematik derer zu beschäftigen, die sich nicht für die Verabreichung des Wirkstoffes „Globalpan“ entschieden, die aber über eine Infektion mit dem Produkt „PHV-N7“ in Kontakt gekommen und zerstörende Antikörper gebildet haben.
Das Gericht kommt übereinstimmend zu dem Urteil, dass diese Personen Lizenzrechte verletzen und fortwährend Eigentum vom MedGlobal zerstören. MedGlobal hat daher das Recht, Schadenersatz einzufordern und einzuklagen, wenn eine Infektion mit dem Produkt „PHV-N7“ bei einer Person festgestellt wird, die nicht über das Produkt „Globalpan“ eine DNA-Translation erfahren hat. Das Gericht bestätigt die Ansichten des Klägers, MedGlobal, wonach es sein Produkt „PHV-N7“ schützen kann. Daher müssen Staaten, in denen sich Personen ohne DNA-Translation aufhalten, dafür Sorge tragen, dass Lizenzverletzungen durch Infektionen mit dem Produkt „PHV-N7“ nicht stattfinden.“
Bei Isabell und Tom, die sich den Wirkstoff „Globalpan“ hatten gleich vier Mal verabreichen lassen, wurde nach diesem Urteil, wie bei allen, die es ihnen gleichtaten, eine Blutentnahme angeordnet. Bei beiden fanden sich die vom obersten internationalen Gericht beschriebenen DNA-Translationen. Für Isabell begann damit eine schwere Zeit. Sie verfiel in eine Depression, hatte Albträumen. Vor allem solche, in denen sie sexuellen Übergriffen durch MedGlobal-Mitarbeiter hilflos ausgeliefert war. Für sie stand damals fest: „Wenn ich ein Patent einer Firma bin, dann kann diese Firma mit mir machen, was sie will.“ Das MedGlobal gar keinen Anreiz darin sah, ihre Patente zu beschädigen oder zu zerstören, sondern über die jeweiligen Updates, die ihre Patente selbst finanzieren mussten, ein viel einträglicheres Geschäft machte, darüber dachte sie damals nicht nach.
Tom hingegen war wütend. Seine Wut fand in Protestaktionen eine Bahn. Er ging demonstrieren monatelang. Erst als er Restriktionen von Seiten MedGlobal erfuhr, indem sein Führerschein eingezogen und sein Arbeitsverhältnis gekündigt wurde, da brach er ein. Er war ein Teil eines Patentes. Er hatte selbst kein Eigentum mehr, nur Besitz. Alles, was er hatte, hatte MedGlobal. Sie konnten über ihn verfügen. Konnten seine fehlenden Updates zu einem Sicherheitsrisiko erklären. Konnten darlegen, dass er ohne diese physisch und psychisch so beeinträchtigt war, dass er nicht mehr zum Führen eines Fahrzeuges, ja zur Ausübung seiner Arbeit fähig war. MedGlobal ließ sich vor drei Jahren über einem Musterverfahren bestätigen, dass alle Personen, die über eine DNA-Translation verfügten, weiterhin durch die DNA-Translation unentwegt TGA-Sequenzen des Wirkstoffes „Globalpan“ produzieren. Ein Leben lang. In einem weiteren Prozess wurde dann anerkannt, dass diese Personen eine Art Produktionsmittel, eine Maschine sind.
Aus dem Menschen wurde damit ganz Offiziell das Etwas.
Als Tom Isabell schließlich bei einer der vielen MedGlobal-Interventionsveranstaltungen kennenlernte, in denen MedGlobal die Verunsicherten aufklärte, da waren ihm all die Urteile und sein juristischer Status egal. Ihm war egal, wie er bezeichnet wurde. Für ihn zählte nur das er lebte und Isabell. Immer wieder trafen sie sich bei den regelmäßigen Veranstaltungen. Setzten sie nebeneinander, unterhielten sich. Gingen aus und zogen schließlich zusammen. Sie brauchten dafür keine Genehmigung. Sie richteten sich ein und Isabell überwand dank Tom ihre Depressionen und Ängste. Der Staat zahlte ihr sogar einen Therapeuten, den sie vier Jahre lang regelmäßig besuchte und mit dem sie ihr neues Sein aufarbeitete.
Heute nun stand die Entscheidung an: Angel oder zu Hause bleiben?
Sie entschieden sich für das Angeln. Auf der Brücke angekommen, zogen die beiden mit ihren leichten Ruten die Blinker durch das trübe Wasser des Flusses. Die Sonne stand bereits tief und der Himmel färbte sich in dieses verträumte Blau, das zu Beginn einer jeden Nacht aufzieht. Die Straßenlampen zeichneten den Weg des Flusses durch die Stadt bis zur nächsten Brücke nach. Tom und Isabell waren zufrieden. Zufrieden sich zu haben. Zufrieden auf der Brücke zu stehen und Zeit miteinander zu verbringen. An ihnen rauschten Fahrzeuge, Bahnen, Roller, Fahrräder und Passanten vorbei, ohne dass es sie interessierte oder sie all das wahrnahmen. Nichts machte den Eindruck, als würde die Welt eine andere sein. Als würde sie sich heute anders drehen als gestern oder vor zehn Jahren. Im Gegenteil. Trotz der fehlenden grünen ID hatte Isabell Glück. An ihren Köder hatte sich ein großer Fisch verbissen. In drei Metern Tiefe, da im Wasser, kämpfte er um sein Leben, darum weiter er, weiter Fisch sein zu können. Oben auf der Brücke da standen Isabell und Tom, die ihm dies nicht zugestanden. Weiter und weiter drehte Isabell an der Rolle. Spannte die Sehne und bog die Rute. Mehr und mehr entschwanden dem Fisch die Kräfte und sein Leben. Bevor er jedoch aufgab, kurz bevor er aus dem Wasser gehoben werden sollte, da vibrierte die Sehne und der Haken, dann war die Gewalt, die ihn zwingen wollte, vorüber. Der Fisch schwamm davon. Froh seines Lebens. Tom und Isabell aber waren im Rauch des Schuttes, der in das Wasser fiel, nicht mehr zu finden. Die Brücke war eingestürzt. Eine Explosion hatte ihre Widerlager zu beiden Seiten des Flusses zerstört.
Wie nur kurze Zeit später in den Nachrichten vermeldet wurde, war es ein Anschlag der Lizenzverletzer. Sie hätte sich dazu bekannt, die Welt von den Patente und von MedGlobal zu befreien. In dem Bekennerschreiben, das in kurzen Auszügen verlesen wurde, hieß es:
„Wir reißen die Brücken ein, die den Menschen zum Objekt machen. Wir lassen die Macht der Patente in den Fluss des Lebens stürzen und mit ihr jene, die selbst nicht mehr zu den Menschen gehören.“
Isabell und Tom galten viele Tage als vermisste. Ihre Körper wurden in einiger Entfernung von dort gefunden, wo sie bis zu ihrer letzten Sekunde um die Hoheit über das Leben gestritten hatten. Für die restlichen Personen, jene, die nicht zu den 32 Toten dieses Tages zählten, jene, die zu den Akkreditierten oder in die MedGlobal-Centren gingen, wenn sie kein aktuelles Update mehr hatten, ging der Alltag weiter. Ebenso wie für die, die nicht zu ihnen gehören. Jenen, die als Lizenzverletzer galten.