Einst war der Schlaf mein Freund
Einst war der Schlaf mein Freund. Aber das ist lange her. Heute ist das anders. Denn der Schlaf ist gefährlich. Hat er doch seine Kumpane im Schlepptau, die mich einfangen wollen.Sie lauern darauf, mich zu quälen. Oder vielleicht auch Schlimmeres. Ich weiß es nicht genau. Bisher konnte ich ihnen noch immer entkommen.
Sie zeigen sich in vielen Verkleidungen. Manchmal skurril, wie Capt. Jack Sparrow oder Bernd, das Brot, dessen Kopf gerne mal in Flammen aufgeht. Manchmal anrührend, in der Maske eines traurigen jungen Mädchens mit verschmierter Wimperntusche, das am Strassenrand sitzt und auf den nächsten Schuss wartet. Aber immer spüre ich die Kälte und die Gefahr, die von ihnen ausgeht.
Dem chinesischen Suppenkoch, der mich mit unverständlichen Worttiraden und ekligen Hühnerfüßen bewarf, konnte ich mit Mühe noch entkommen.
Der Tod ist unser ständiger Begleiter im Leben. Es gibt Menschen, die nennen ihn „Es“. Und sie glauben, er wäre ein freundlicher Erlöser. Mag sein, dass er das sein kann. Aber er hat auch eine teuflische Fratze. Er lockt. Er ruft. Er verführt. Er ist immer in der Nähe und lauert auf uns. Besonders, wenn wir schlafen. Denn dann, so glaubt er wohl, hat er leichtes Spiel mit uns.
Aber es gibt auch Wesen, die helfen, uns zu schützen. Sie erscheinen, wie aus dem Nichts – wohin sie auch wieder verschwinden. Wir nehmen sie kaum wahr. Aber sie sind da. Sind wirklich, auch wenn andere sie nicht sehen können. Ich habe sie einmal gesehen. Seitdem ist nichts mehr so, wie es vorher schien. Davon will ich heute erzählen.
Damals war ich sehr krank. Man hat mir später erzählt, ich hätte im Koma gelegen und um’s Überleben gekämpft. Davon weiß ich nicht viel. Ich weiß nur, dass ich keine Luft mehr bekam und erinnere mich an die Stimmen von Ärzten, die mir sagten, man wolle mir helfen. Woran ich mich erinnere sind die Träume. Jedenfalls sagte man mir, ich hätte nur geträumt.
Ich erwache in tiefer Nacht. Von der Notbeleuchtung tropft Licht, das die Dunkelheit nicht weit durchdringen kann. Schatten lauern überall. Sie machen mir Angst. Irgendetwas scheint mich aus der Dunkelheit zu beobachten. Einfache, alltägliche Dinge wie ein Stuhl oder ein Tisch verlieren ihre Konturen und werden zu bedrohlichen Monstern, die nach mir greifen könnten. Das einzige Geräusch, das ich wahrnehme, ist das Summen der Beatmungsmaschine, die mein kleines Leben irgendwie auf dieser Seite der Welt hält.
Die Tür zu meinem Zimmer steht offen und ich kann von meinem Bett aus den Schreibtisch der Stationsschwester sehen, der von oben beleuchtet ist.
Vor dem Tresen stehen ein Mann und eine Frau. Sie tragen merkwürdige Gewänder aus braunem Leder und haben beide langes, dunkles Haar. Völlig durchnässt sind sie und durchgefroren, denn draußen herrscht klirrende Kälte. Der große hagere Mann stützt sich auf etwas, das wie ein Speer aussieht und mit Federn geschmückt ist. Seinen freien Arm hat er um die Frau gelegt, die ein Bündel im Arm trägt. Sie sehen sehr ratlos und verlassen aus und warten mit beinah stoischer Geduld. Von dem Fellbündel im Arm der Frau geht ein klägliches Wimmern aus, das langsam verstummt, als sie es sanft wiegt.
Eine Schwester erscheint, mustert die beiden von Kopf bis Fuß und schüttelt abweisend den Kopf. Man könne nichts für sie tun. Sie sollten wieder gehen. Für jemand wie die beiden sei kein Platz hier. Sie tut das ohne Worte, aber unmissverständlich. Die Verzweiflung der beiden Indianer ist fast greifbar. Doch die Szene bleibt weiterhin stumm. Ein stilles Kräftemessen.
Ich fühle mich sehr schwach, kann die Spannung, die im Raum steht nicht ertragen und entziehe mich ihr in einen Dämmerschlaf.
Ich erwache von dem durchdringenden Geruch nasser Schaffelle, der vom Stuhl neben meinem Bett ausgeht. Das leise Wimmern des Babys ertönt aus diesem Bündel, das so nah ist und nach dem ich, kraftlos wie ich bin, nicht greifen kann. Das Grauen packt mich, als ich spüre, wie schwarze Dunkelheit nach dem Kind tastet. Ich will rufen, will aufstehen, kann das immer leiser werdende Wimmern nicht ertragen. Warum hilft denn niemand? Wo bleiben die Schwestern, die Ärzte, die Betriebsamkeit und das helle Licht, das in einem Krankenhaus herrschen sollte?
Als das Weinen schon nahezu unhörbar geworden ist, habe ich meine Muskeln so weit unter Kontrolle, dass ich nach der Klingel greifen und so die Schwester rufen kann.
Wie eine Ewigkeit fühlt sich die Zeit an, in der ich auf die Schwester warte. Der Geruch der feuchten Felle legt sich wie eine Decke über mich, die mir den Atem nimmt. Die fiebrige Hitze des Babys dringt bis zu mir herüber. Inzwischen scheint es zu kraftlos zu sein, um überhaupt noch wimmern zu können. Tränen laufen über mein Gesicht, als ich wieder und wieder die Klingel drücke. Ich darf nicht zulassen, dass dieses kleine Wesen stirbt, das doch noch gar keine Zeit hatte, wirklich zu leben!
Später erzählte man mir, dass ich nie wach gewesen sei.
Aber an dem Abend, als all das sich ereignet hatte, war die Schwester außer der Reihe in mein Zimmer gekommen und hatte bemerkt, dass ich mir die Infusionsnadeln aus dem Hals gezogen hatte. An das Paar mit dem Kind muss ich noch heute immer denken, wenn mir der Geruch von nassen Schaffellen in die Nase steigt.
Einst war der der Schlaf mein Freund…