Hexen, und wie sie sich nicht verstehen
Manche kennen Teile der Geschichte schon aus dem Geschichtenspiel, dort hat sie einen etwas anderen Titel. Mein Sohn hat heute so gejammert, weil er nicht warten will bis die nächsten Worte eine Fortsetzung möglich machen. Also, was soll ich sagen, haben wir zusammen weiter gemacht. (Mein Kind kann schon sehr hartnäckig sein) Dafür hat er aber das Haus des Juvelius Jungfrau von Gutenbrunn gezeichnet.
Da kommt sie jetzt mal, so weit sie bisher steht.
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Hexen und wie sie sich nicht verstehen
„Verdammter Besen noch mal! Verflixtes Ding! Verdammt und zugenäht! Starte endlich!“, rief die Hexe ärgerlich. Sie lief wütend mit ihrem Besen hin und her, versuchte es mit allen möglichen Flüchen, dann warf sie das gute Ding in eine Ecke und ging wieder ins Hexenhaus. So würde sie es nie pünktlich zum Höhepunkt des Jahrmarkts schaffen, den sie bildete.
„Hexe Imelda Ohnehut, die ohne Kristallkugel die Zukunft vorhersagen kann, ein Blick in die Augen genügt.“
So stand es auf den Plakaten und jetzt saß sie hier fest, weil dieser vermaledeite Hexenbesen nicht und nicht starten wollte!
In der Küche lief sie wütend herum und ließ die Töpfe scheppern und die Türen knallen. Jeden nur erdenklichen Zauberspruch spulte sie vor ihrem inneren Auge ab. Sie begann mit Liebeszauber, den sie als zu absurd verwarf, dann versuchte sie es mit den Sprüchen für eitle Kühe, die keine Milch geben wollten, bis sie endlich bei hohlwangigen, magersüchtigen Mägden anlangte, die vergeblich nach einer Schwiegermutter suchten. Alles tat sie als ungeeignet ab. Aber ihr Hirn war bei einem Wort hängen geblieben: Schwiegermutter. Ihr Besen war ja so etwas in der Art. Zumindest benahm er sich zeitweise so.
Sie raffte die Röcke, ging wieder vor die Haustür, nahm den Besen energisch in die Hand und murmelte vor sich hin.
„Guter Besen, du bist doch wirklich der Beste“, sagte sie, als er sich endlich in die Lüfte hob und mit stotternden Borsten Richtung Dorf flog. Imelda krallte sich am Stiel fest und jauchzte vor freudiger Erwartung. Der Besen war also doch empfänglich für ihre guten Wünsche gewesen. Sie flog über Wälder, Wiesen und kleine Bauernhöfe.
Kinder winkten von unten hoch, als sie auf den Marktplatz steuerte und gekonnt vor dem großen Zelt landete.
Dort würde sie ihre Schau liefern.
Aber was war das?
Imelda war entsetzt!
Vor dem Zelt standen überhaupt keine Leute!
Niemand wollte sie, die Attraktion, bestaunen!
Alle Leute standen vor einem anderen Zelt. Sie lehnte den Besen vorsichtig an den Zelteingang und schaute, was dort los war.
Ein Plakatständer war ihr im Weg. Schon wollte sie ihn energisch zur Seite stoßen, als sie die Zeilen darauf erblickte. Ihr Gesicht wurde rot vor Zorn, das Furunkel auf der Nase bebte, ihre struppigen Haare sträubten sich und raschelten.
Da stand in großen hellblauen Lettern geschrieben: „Bestaunen Sie den herausragenden Hexer! Den Hexer unter den Hexen! Juvelius Jungfrau von Gutenbrunn!“
„Dieser armselige Knilch? Was will der hier?“, brummelte sie und schob sich weiter nach vorne zum Zelteingang.
Als sie endlich im Inneren war und sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, schrie sie: „He Juvelius, du Versager! Komm raus! Seit wann bist du ein „Von“?“ Ihre Stimme klang verächtlich. Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Der Teppich unter ihr war sehr weich, wie ihr dabei auffiel.
Endlich trat ein Mann mittleren Alters nach vorne.
„Tagchen, Imeldaschatz. Na, hast du es auch bis hierher geschafft“, sagte er in betont munterem Ton.
„Ich bin nicht dein Schatz, du Betrüger.“
„Ach, sei doch nicht so. Ich bin was ich bin.“
„Pah!“
„Doch, oder ist etwa heute dein Besen angesprungen?“ Juvelius bog sich vor lachen, als er ihren erstaunten Gesichtsausdruck bemerkte.
„Du verdammter Hund du, das hast du mir eingebrockt!“
„Nun, das war doch eine gute Revanche für damals, oder etwa nicht?“
Imelda setzte sich jetzt auf einen der unbequemen Holzstühle und grübelte. Dann begann es in ihrem Inneren zu lachen. Das Lachen breitete sich im Bauch aus, kroch hoch über die Brust bis hin zum Kopf, bis es mit einem lauten Schall aus ihrem Mund floss.
„Nun sind wird quitt, Schätzchen“, sagte er, als sich die Hexe wieder beruhig hatte.
„Na ja.“ Imelda zog die Nase kraus, das Furunkel zuckte kurz, eine Haarsträhne verzog sich in die Luft und sie begann erneut zu lachen.
„Oh nein, Imelda!“, war das letzte, was Juvelius an diesem Tag sagte. Er quakte und das bis es Abend wurde.
Leider blieben aufgrund des Vorfalls beide Attraktionen nichts mehr als Ankündigungen. Der Hexer konnte nicht mehr wahrsagen und vor der Hexe fürchteten sich plötzlich alle.
Als Juvelius wieder zu Juvelius wurde, begann er an seinem Racheplan zu arbeiten
Aufgeregt lief er in seiner Hütte herum. Er hatte ewig gebraucht, nicht mehr hüpfen zu wollen und seine Gelüste nach Fliegen und anderen Insekten hatte er noch immer nicht völlig ablegen können. Er war wütend, so richtig zornig auf diese hässliche alte Vettel. Da brachte es auch nichts, dass sie ihm einen Kuchen geschickt hatte. Der stand jetzt auf dem Küchentisch und gammelte vor sich hin. Diese Einschleimerei sah Imelda so ganz und gar nicht ähnlich. Es kam ihm sonderbar vor. Sie hatte eine Karte beigelegt. Diese las er jetzt noch einmal laut. Vielleicht wollte ja auch der große Kupferkessel wissen, was Imelda schrieb? Wer weiß, in einem Hexenhaus sind sogar die Töpfe neugierig und nicht nur die Katzen. Juvelius hatte keine Katze, er hielt sich einen Hahn und eine Ratte.
Also, Imelda schrieb folgende Zeilen:
Weerter Juvelius, dümmster Hekser ahler Zaihtenm,
wen wir unz weiterhyn bekricken than haben wir nicht fiel dafon. Du hast selbigst bemärckt, das tu mir nicht ebenbürtigt byst. Schau einfach zu, das tu mirselbigst aus dem Wäge bleibigst, tu fauler Zauberer. Zieh dich in deinen vernen Winkel zurück und pleib mir vern, sonstigst wird sich unserige Feder (gemeint war Fehde) niemaligst Enten.
Mit Grützen
Imelda Ohnehut, krößte Hekse der ganzen Gegend
Pong! Der Kupferkessel hatte seinen Senf dazugegeben. Wie ein Donner hallte es in der Küche und Juvelius begann teuflisch zu grinsen. Seine Gedanken bildeten eine Spirale, die sich immer schneller zu drehen begann. Der Kupferkessel pongte den Rhythmus dazu. Endlich wurden die Gedanken langsamer und in der Küche kehrte wieder Ruhe ein.
Sicher, die Idee war hanebüchen.
Sicher, die Idee war teuflisch.
Sicher, die Idee konnte verdammt in die Hose gehen.
Sicher, …
die Idee würde durchgeführt werden.
„Aber erst werfen wir den Kuchen auf den Misthaufen, nicht war Imelda“, sagte der Hexer und streichelte der Ratte zärtlich über den Kopf.
Imelda Ohnehut saß unterdessen in der Küche. Die Idee mit dem Kuchen war ihr ganz spontan gekommen. Sie war mit Schwiegermutter, so nannte sie neuerdings ihren Besen, der die Namensgebung mehr als freudig zur Kenntnis genommen hatte, über die verwinkelten Bergzüge der näheren Umgebung geflogen. Tannwald war eine sehr sonderbare Gegend und noch sonderbarer war es dort, wo sie wohnte. Man sagte sich, dass die Findlinge in der Nähe ihres Hauses sprechen konnten. Imelda fragte sich dann, warum die Leute das eigenartig fanden. Eine Gruppe von Steinen hatte sich sicher im Laufe der Jahre viel zu erzählen. Irgendetwas gab es immer zu sagen. Während sie so durch die Wolken flog und Spiralen drehte, kam ihr diese hanebüchene Idee. Sie war zwar keine großartige Bäckerin, aber mit etwas Hexerei war es zu schaffen.
Jetzt saß sie in der Küche und befragte den Kaffeesud, genauer gesagt, ihr Spiegelbild im letzten Rest kalten Kaffees. Dort erkannte sie, dass Juvelius, die Torte nicht gegessen hatte. Das Furunkel auf der Nase begann zu glühen und die Haare sträubten sich, knisterten wie elektrisch geladen und –
mit einem leisen „Plpp“ landete ein Papierkranich auf dem Küchentisch. Imelda griff nach dem Produkt eines Origamikünstlers und entfaltete es.
„Was für ein waschechter Unsinn!“, rief sie, warf das Papier auf den Tisch, griff nach Schwiegermutter und flog eine Runde über die Berge um sich abzukühlen.
Wieder zuhause nahm sie erneut den entfalteten Kranich und begann zu lesen:
Wehrteste Hekse Ohnehutt,
in Anbetracht der Tatsache, dass du mirigst antauernd Steine in den Wege wirvst, lassige dir gesagt seyn – nicht mit mir. Streitige mit dir selbigst und lass deine Kuchen bei diro in deyner Hütte. Wy du selbigst geschriben hast, byn ich diro nicht ebenbürtig, du alte Hekse.
Ich bringe diro nun noch eyn Lobeslied:
Eteltste Imelda, sink auf die Knie ich nicht byn deyn Schüller meer. Ähmmäh.
In Hultikung deyn erkebendster Schüller
JJ von Gutenbrunn
PS.: Weerteste das Lied bitte ich dich, nicht laut zu singen.
Kaum gelesen, das ging bei ihr immer schnell und den Sinn so mancher Sache verstand sie erst eine Stunde später, sang sie schon munter vor sich hin. Es gab einen grollenden Donner, ein Blitz zuckte und die Hexe sank auf die Knie und machte „Mäh!“ Bevor sie aber der Zauberspruch ins Land der Grasfresser befördert hatte, schickte sie geschwind ein Murmeln auf den Weg und damit einen Teil des Fluchs retour. So kam es, dass sie noch ein Menschbewusstsein hatte und nicht vollends zum Schaf wurde.
„Dieser elende Schleimbeutel, soll selber als Hammel enden – mähhähähä“, dachte sie, marschierte in den Vorgarten und begann Gras zu fressen. Es hatte eben auch seine Vorteile, ein Schaf zu sein.
Wie immer würde auch dieser Zauber keine Ewigkeit anhalten, und Imelda dachte beim Wiederkäuen über alle möglichen Hexereien nach, die sie dem elenden Kretin – sie dachte Gratö – vor die stinkenden Füße werfen würde.
„Mähhähähähä“
Erst als es draußen schon dunkel war, kehrte sich die Wirkung des Zauberspruchs wieder um. Juvelius fand sich mit einem maulvoll Gras auf der Wiese vor seinem Haus wieder. Zornig spuckte er die Bündel aus und stapfte hinein.
„So geht das nicht weiter“, schimpfte er. Der Kupferkessel und die Ratte hörten aufmerksam zu. Mit einem Blinzeln entzündete er das Feuer im Kamin und gleichzeitig gingen auch die Kerzen an. Ein freundliches Licht breitete sich in der Hexenküche aus, obwohl man ja besser Hexerküche sagen sollte. Darauf legte Juvelius großen Wert, er war keine Hexe und auch kein Zauberer, sondern ein Hexer – großgeschrieben!
Er setzte sich an den großen, blank geschrubbten Tisch und dachte nach. Kupferkessel blinkte ihn strahlend an. Das Feuer spiegelte sich auf seinem Bauch und der Raum wirkte noch hexerischer. Imelda, die Ratte, sprang auf seinen Schoß und er kraulte sie gedankenverloren.
Auf dem Tisch lag ein altes Hexenmagazin, es war die Ausgabe vom letzten Frühjahr. Eine Erinnerung regte sich in ihm und er griff danach. Langsam blätterte er es durch und kam sich noch immer etwas blöd vor.
„Ich sollte dann wohl in die Wanne steigen“, sagte er zur Ratte. Diese nickte leicht mit dem Köpfchen, ringelte den Schwanz um sein Handgelenk und zeigte ihm ein paar wunderbare Schneidezähne. Imelda grinste.
„Ich weiß, dass ich stinke. Du brauchst es mir nicht unter die Nase zu reiben, Schätzchen. Aber vorher will ich diesen Artikel noch finden. Es war etwas mit einem Rat. Da muss es eine Beschwerdestelle für Gleichbehandlungsfragen geben.“ Er murmelte weiter vor sich hin während er das Heftchen durchblätterte. Sorgfältig las er jeden Beitrag. Das dauert seine Zeit, wenn man mit dem geschriebenen Wort nicht so vertraut ist, wie vielleicht andere Menschen. Endlich fand er was er suchte. Juvelius las den Artikel laut vor und das gleich mehrmals.
„Da es jetzt auch Hexer in unserer wehrten altbewährten Zunft gäbet, müssigen wir uns mit den Tatsachen der Ungleichbehandlung herumschlagen. Wehrte Hexen, nehmet keinen Anstoß daran, wenn ihr einen Hexer sehet. Behandelt ihn wie jede andere Hexe – ignoriert ihn. Für alle Fragen zur Gleichbehandlung hat der Hexenrat die Gleichbehandlungsstelle ‚Hexen für Hexer’ eingerichtet. Schicket ruhigst Bootschaften, es iset noch leise in der Redanktion.“
Der Kessel pongte laut vor sich hin. „Was musst du jetzt deinen Senf dazu geben, Kupferkessel?“ (Auch Hexenkessel lieben es, mit Namen angesprochen zu werden.)
Dann pfiff er einmal kurz und ein Bogen rosafarbenes Papier kam angeflogen. Darauf schrieb er mühsam eine Nachricht. Gekonnt faltete er einen Kranich und schickte ihn auf den Weg zur Gleichbehandlungsstelle.
Imelda fiepte und sprang an ihm hoch, was soviel bedeutete, dass er sich endlich den Schafgestank abwaschen sollte. Die Ratte war empathisch, wenn auch nur latent und bevorzugt dann, wenn es ihr klug erschien. Ansonsten war sie eine normale Ratte.
„Ich geh ja schon“, beeilte sich der Hexer zu sagen und bald saß er in einer Wanne mit dampfend heißem Wasser. Er tat sich selbst sehr leid, weil er es mit dieser arroganten Ziege Ohnehut zu tun bekommen hatte. „Warum wurde nur sie mir als Lehrmeisterin zugewiesen? Vielleicht hätte ich doch lieber Zauberer werden sollen?“, überlegte er laut. Die Dinge rund um ihn schienen ihn zu beobachten. Gekonnt ignorierte er das Gestarre.
Er kannte auf beide Fragen die Antworten.
Auf die erste Frage lautete sie: „Damit du von der besten lernst – und möglichst rasch aufgibst, weil die alte Ziege rechthaberisch, arrogant, verbohrt und außerdem eine saugute Hexe ist.“
Die zweite Antwort war: „Ein Zauberer sitzt fast ausschließlich in staubigen Kammern und studiert irgendwelche astronomischen Zahlen und Zeichen. Ein sehr blutleerer, langweiliger Beruf, wo man selten an die frische Luft kommt. Das weißt du, hättest es ja fast geschafft. Also halt die Klappe.“
Juvelius war der erste Hexer in den Bergen rund um Himmelschrei und Tannwald. Im Umkreis von mehreren hundert Kilometern gab es nur Hexen. Seinen Standort hatte er mit Bedacht in Himmelschrei gewählt. Hier hatten sie schon seit Ewigkeiten keine Hexe mehr gehabt und die Leute waren froh, überhaupt jemanden zu bekommen, der sich mit Kräutern auskannte und den einen oder anderen Zauberspruch drauf hatte. Das einzige, womit die Leute anfangs ein Problem hatten war, wenn er zu Geburten gerufen wurde. Als Hebamme war er aber ausgezeichnet. Er hatte immer seine empathische Ratte mit, die den Gebärenden schöne Gefühle sandte und einen Teil der Geburtsschmerzen abnahm.
Nach und nach hatten sich die Bauern an die seltsame Hebamme und ihr Haustier gewöhnt und sein Können sprach sich herum. Er half außerdem auch Kälbern, Schweinen und Eseln auf die Welt. Ab und zu war auch ein Schaf dabei, das von ihm geholt werden wollte. Die Ziegen schafften das ganz alleine oder krepierten lieber in irgendeiner Schlucht, eigensinnig wie sie nun mal sind.
Wie er so in der Wanne lag, erinnerte er sich daran, als er im Sommer von den dörflichen Jungfrauen einen Kranz bekommen hatte. Beklommen hatte er das Gebinde genommen und mit hochrotem Gesicht gefragt: „Wieso gebt ihr mir den Jungfernkranz? Wäre etwas anderes nicht treffender?“
Die Mädchen waren rot geworden und kicherten, verlegen scharrten sie mit den Füßen. Seit dieser Zeit war er ‚Juvelius Jungfrau von Gutenbrunn’ Gutenbrunn hieß die Quelle in der Nähe seiner Hütte.
Jetzt fand er, dass es ein guter Name war und die Hexe Imelda sollte sich etwas zurückhalten, sie konnte nicht mit so einem großartigen Namen aufwarten.
Er lag noch immer im kälter werdenden Wasser und dachte an vergangene Streiche, die er der Ohnehut gespielt hatte. Die Strafe hatte leider nie lange auf sich warten lassen, aber nur deshalb war er so gut geworden. Imelda hätte ihm von sich aus nichts beigebracht. So halfen ihm die Streiche zu einer Ausbildung.
Einmal hatte er einen Strauß Giftwurzenblüten gepflückt und sie auf dem Esstisch platziert. Wutschnaubend hatte Imelda die giftigen Pflanzen, mit den Worten, verschwinden lassen: „Ja, bist du denn ganz dämlich? Du bist der größte Vollidiot, der mir je unter die Augen gekommen ist. Das ist Giftwurze! Es darf nur im zerriebenen Zustand in einen geschlossenen Raum kommen und man darf nur homöopathische Dosen verwenden! Du weißt wahrscheinlich gar nicht, wozu man das braucht?!“
Juvelius hatte betreten zu Boden geblickt und sich seine Freude über die folgende Information nicht anmerken lassen.
„Dann werde ich dir das mal sagen, Bürschchen! Das nimmt man um Visionen zu erzeugen, es macht den Geist weit. Also, lass die Finger das nächste Mal davon. Wenn du mir eine Freude machen willst, dann hol eine Blüte, damit ich dir zeigen kann, wie man das richtig macht.“
Und Juvelius war davon geeilt. Erst als das Präparat fertig gestellt war, kam Imelda dahinter, dass er sie ausgetrickst hatte. Ihr Zorn war immens.
„Das nächste Mal werde ich dich zerreiben, dich als Getreidekorn unter das Mühlrad legen! Du wirst nie und nimmer eine Hexe!“
„Ganz bestimmt nicht, Meisterhexe“, hatte er geantwortet. „Ich werde ein Hexer.“ Dabei hatte er sie strahlend angeblickt, aus unschuldig blauen Augen.
Endlich stieg er aus der Wanne, zog sich an und setzte sich mit der Pfeife vor die Hütte. Hinter dem Zaun begann der Hohe Wald, ein uralter Eichenwald, mit hohen Buchen am Rand, deshalb der Name. Ganz am Saum rankten sich Brombeeren an den Bäumen hoch, wie schwarz gepunktete Girlanden wirkten sie aus seinem Blickwinkel.
Geduld gehörte seit der Ausbildung zu seinen Stärken, also erstaunte es ihn, dass er nervös in den dunkler werdenden Himmel blickte.
Während er wartete und immer nervöser wurde, wurde er vom Dorfrat zur Jungfrau des Jahres gewählt. Nun, einerseits war es eine Ehre, zumindest wenn man ein junges Mädchen unter zwanzig war, andererseits natürlich – zählte er beinahe dreißig Lenze und war ein Mann, zwar kein gewöhnlicher, aber eben – immerhin.
Der größte Bauer, dessen Frau er vor einer Woche von ihrem fünften Sohn entbunden hatte, richtete das Fest aus. Es war teils ein Dankbarkeitsfest und teils sollten Beziehungen geknüpft werden. Es war üblich bei solchen Feierlichkeiten Hochzeiten zu arrangieren und die jungen Leute aufeinander zu hetzen. Der Hof war mit Girlanden geschmückt und auf dem Ehrenplatz war ein Strauß schöner jungfräulich weißer Lilien platziert. Es waren die Lieblingsblumen der ältesten Tochter des Hauses, die selber Lillian hieß. Ihre Vorliebe für diese Blumen kam also nicht von ungefähr und außerdem hatte sie ein Auge auf den Hexer geworfen.
Ängstlich wartete Lillian auf ihren Schwarm. Sie hatte den Anstoß dazu gegeben, diesmal das Fest zur Brautschau auszurichten und gleichzeitig Juvelius zu ehren. Ihr Vater hatte zuerst gebrummelt, von wegen für diesen Laffen ein Fest zu veranstalten, nachdem aber seine Frau bei der Niederkunft fast gestorben wäre und Juvelius sie und das Kind hatte retten können, musste er zustimmen.
Während sich Juvelius nun abwechselnd auf das Fest freute und es gleichzeitig hasste und dabei nervös auf die Antwort des Hexenrates wartete, stand Imelda vor einem anderen Problem. Sie hatte von ihrer Freundin, Jaguar Waldschrat, einer ausgezeichneten Hexe, aber nicht so ausgezeichnet wie sie selber, erfahren, dass sich Juvelius beim Hexenrat beschwert hatte. Das gefiel ihr ganz und gar nicht. Außerdem war sie eigentlich die Vorsitzende des Rats. Sie suchte das alte Hexenmagazin heraus und fand, genauso wie Juvelius einige Tage vorher, den besagten Artikel. „Hm“, machte sie und ließ das Furunkel auf der Nase funkeln. Dann wieder: „Hm“, dem ein längeres Gebrummel folgte. Sie war zwar nicht mit viel Einfühlungsvermögen gesegnet, aber etwas regte sich in ihr.
„Schwiegermutter, komm, wir fliegen eine Runde“, sagte sie in trüber Stimmung und sauste auch schon durch das offene Küchenfenster hinaus.
Die Fliegerei beruhigte sie immer und klärte ihre Gedanken. Es schien so, als ob die frische, kalte Luft beim einen Ohr reinbrauste, ihr Gehirn durchputzte und beim anderen Ohr den ganzen Dreck wieder raus blies. Imelda ließ Schwiegermutter frei Borste fliegen, was bedeutete, dass sie in Ruhe nachdenken konnte, aber auch dass es verdammt kalt werden würde. Schwiegermutter liebte die sehr luftigen Höhen und wie jedes Kind weiß, je höher oben, desto kälter wird es.
Imelda flog also ihre Runden über Tannwald, während sich auf dem Festplatz in Himmelschrei schon die ersten geladenen Gäste tummelten. Es wurde auch viele Ungeladene erwartet, wie immer bei diesen Veranstaltungen, diese würden aber erst nach Mitternacht erscheinen, wenn der teure Wein schon getrunken und die ersten auf Most umgestiegen waren.
Lillian stand strahlend inmitten des Platzes und fühlte sich, als würde dieses Fest ihr zu Ehren stattfinden. Sie hielt noch ein Döschen mit zerriebenen Senfkörnern in der Hand, das fehlte noch auf dem Beistelltisch, manche Leute mochten das Zeug, andere fanden es schlichtweg scheußlich. Wie sie so dastand landete Juvelius, er hatte den Besen extra geputzt und neu lackiert und die Borsten frisiert, dann schickte er ihn wieder nachhause. Vor Schreck ließ Lillian die Dose fallen.
„Ups“, sagte sie und eine sanfte Röte überzog ihre Wangen. Entschlossen schritt sie auf den Hexer zu und sagte: „Hallo Juvelius, ich freue mich, dich zu sehen und möchte dich endlich fragen, ob du mein Freund sein willst.“ Zumindest wollte sie es sagen, aber sie sagte nur: „Verehrter Hexer, willkommen …“
Und Juvelius antwortete: „Es ist mir eine Ehre …“
Auch er verstummte schüchtern und sagte nicht gerade das, was er wollte. Das wäre nämlich gewesen: „Lass dich Küssen, Mädchen. Wann heiraten wir endlich?“ Leider hatte er gegen seine Schüchternheit dem anderen Geschlecht gegenüber noch keinen Hexspruch gefunden.
Juvelius wollte gerade nach ihrer Hand greifen, als der Bauer rief: „Hände weg von meinem Mädel, sonst werd ich dich zerreiben, Bürschchen!“ Dann wurde ihm bewusst, dass er gerade den Hexer beleidigt hatte und er sagte: „Uuuuups.“
Die Nacht war schon weit fortgeschritten, als sich Imelda endlich entschloss zu handeln. Wieder suchte sie nach Papier und Feder. Als sie alles Nötige gefunden hatte, setzte sie sich an den Eichentisch in der Küche und begann zu schreiben. Schwiegermutter raschelte in seiner Ecke, er wollte unbedingt hoch einmal hinaus. Die Hexe verstand nicht, warum gerade ihr Besen sich in den Kopf gesetzt hatte, stubenrein zu sein und trotzdem nicht von alleine durch den Kamin hinaus zu fliegen. Nein! Er stand vor der Tür, presste die Borsten fest gegeneinander und hopste hin und her. Imelda seufzte resigniert und ließ ihn raus. „Aber nur eine Viertelstunde, dann kommst du wieder rein, sonst musst du draußen bleiben, Miststück.“ Schwiegermutter sauste in einem Hurra hinaus.
Imelda nahm wieder am Tisch Platz und mühte sich mit Feder, Papier und den ungewohnten Worten ab. Mündlich war sie ein As, aber beim Schreiben hatte sie das eine oder andere Problem.
„Weerter Gutenbrunn,
eemaliger Schüller von mir. Weilig du dich als Angsthase entpuppigst hast und den Raad einberufigen musstigst, see ich unserige Feder (gemeint war Fehde, Anm. des Erzählers) als beendigt an. Werkige du ruhigst in Himelsschrei dahin, aber kommige miro niemalls wieder mit irkendwelchen Pechschwerden daher. Ich binigst die peste Hekse weit und breit – erwartige aber keine Hülfe von meinerseitz.
Pleib wo du bist, kib Friden und so.
Deine eemalige Leer Lehrerin Operheksenmeisterin
Imelda Ohnehut
Peste Hekse
Damit so hoffte sie, wäre der Kampf mit ihrem Schüler, dem einzigen Hexer weit und breit, beendet und gewonnen.
Sie ließ Schwiegermutter wieder ins Haus und schlurfte zufrieden zu Bett.
Juvelius war noch immer auf dem Fest und fühlte sich unbehaglich. Lilian hatte ihm schon sehr eindeutige Avancen gemacht, die er schüchtern erwiderte. Hinter einer mit Girlanden behängten Glaswand hatte er sie zuletzt gesehen. Wenn er sie sah, vergaß er den verdammten Ärger mit der Hexe Ohnehut.
Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht merkte, wie sich Bauer Geldnieschenk neben ihm niederließ. Der Stuhl ächzte unter seinem Gewicht, der Bauer war nicht mehr als dick zu bezeichnen und fett traf es auch nicht ganz, alles wäre untertrieben gewesen. Er sah aus wie eine Mastsau, wie er da neben dem schlanken, eher schlaksig wirkenden Hexer saß.
„Herr Juvelius“, begann der Bauer. „Ich habe natürlich gemerkt, dass mein Töchterl ein Auge auf dich geworfen hat.“ Der junge Hexer hob scheinbar erstaunt eine Augenbraue, sagte aber nichts dazu. Schweigen zu können, war eine gute Eigenschaft als Hexer, die Leute redeten dann automatisch weiter. „Ja“, fuhr der Bauer fort, räusperte sich und stotterte: „Ich habe natürlich auch bemerkt, dass ihre Avanzen bei dir nicht auf taube Ohren stoßen. Ähm, ups, äh, wie sind nun deine Absichten, bezüglich meiner Lillian? Ups, ähm, ja genau, das wollte ich dich fragen, verehrter Hexer, der du meine Alte, äh Frau, gerettet hast, sozusagen.“
Juvelius musste innerlich lachen. Aber er behielt einen neutralen Gesichtsausdruck, schaute dem Bauern tief in die Augen und sagte – nichts. Stattdessen stand er auf und ging. Der Bauer starrte ihm entgeistert hinterher. Damit hatte er nicht gerechnet.
Juvelius aber machte sich auf die Suche nach Lillian. Er fand sie schließlich hinter einer frisch beschnittenen Buchsbaumhecke. Sie saß inmitten des trockenen Beschnitts und betrachtete eine Holzfigur.
„Äh – entschuldige, Lilian“, begann der Hexer.
Während die Hexen (und der Hexer) über die mangelnde Gleichberechtigung nachdachten, sich verzauberten und Juvelius versuchte sich seiner Angebeteten zu nähern, saß in einer feuchten Kellerstube ein Zauberer über ein verkehrtes Pentagramm gebeugt.
Gerade vor fünf Wochen war er mit seiner Lehre fertig geworden und sehr stolz auf den neuen Umhang und den spitzen schwarzen Hut, den er nicht einmal zum Schlafen abnahm. Der Hut eines Zauberers ist sein Leben und wird genauso vehement verteidigt.
Die Kerze am Tisch spendete gerade genug Licht, um die Zeichen entziffern zu können. Seine spitze, lange Nase warf einen strichförmigen Schatten auf das Pergament mit den eigenartigen Symbolen. Eigentlich waren sie normal, wenn man das Pergament von der richtigen Seite anschaute. Dieser Zauberer hieß Flash (nein, nicht Gordon) Putzer. Zauberer ersten Ranges Flash Putzer, Sohn von Myriam und Samuel Putzer, beides Stiefelputzer in der Niemandgasse in der Stadt Semmelweis. Samuel Putzer konnte unbändig fluchen, spucken und hatte eine Nase fürs Geschäft wie eine Sau für Trüffel, genauso schnüffelte er auch an den Scheinen und Münzen, die man ihm für seine Dienste überreichte.
Flash (nein, nicht Gordon) war von einem anderen Kaliber. Er war treuherzig, gutgläubig und er schielte zum Gotterbarmen. Wie er es fertigbrachte die geheimen Schriften der Zauberer zu lesen, war ebenso ein Geheimnis und sagenumwoben wie Juvelius es geschafft hatte, sich Lillian zu nähern. Dieses Schielen hatte Flash (nein, nicht Gordon) den Beinamen, lies deine Nase, eingebracht. Die Kommilitonen fanden das recht lustig, Flash wünschte sich eine Brille.
Dennoch hatte er die Prüfungen bestanden und zwar gleich beim ersten Anlauf, was vielen anderen nicht gelungen war und ebenso zu den Weltwundern gerechnet werden durfte, wie der Koloss von Springrein, dem Land mit Tiefgang. Die Stadt befand sich etwa zweihundert Meter unter dem Meeresspiegel und vom Koloss konnte man nur die Hutspitze sehen, wenn man sich vom Meer her näherte.
Flash saß also über dem Pentagramm, schielte es an und versuchte die Zukunft daraus zu lesen, was schon schwer genug war, weil es auf dem Kopf stand, und er nur die Nasenspitze erkennen konnte.
So deutete er die Nachricht aus den okkulten Sphären falsch.
Entschlossen, sich seiner vermeintlichen Zukunft zu stellen, stand er auf, schnürte ein Bündel, löschte die Kerze, zahlte die Miete (das nahm er sehr genau) und machte sich auf den Weg in die Berge. Noch nie war er außerhalb der sicheren Stadtmauern von Semmelweis gewesen und jetzt führte ihn die Zukunft in das sagenhafte Land der Schreier.
„Äh – Lillian“, sagte Juvelius schüchtern. „Darf ich mich einen Moment zu dir setzen?“
Sie nickte zaghaft und versteckte die Holzfigur in der Schürze. Dann schaute sie ihm erwartungsvoll ins Gesicht. Juvelius wurde vor Verlegenheit rot.
„Weißt du“, begann er, stockte und versuchte es noch einmal von vorne. „Äh, weißt du, dein äh, Vater, äh …“ Weiter kam er nicht. Sie erriet seine Worte, oder glaubte es zumindest, denn sie unterbrach ihn, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn auf den Mund.
Erschrocken fuhr der Hexer zurück, dann dachte er: ‚Mh, lecker, sie hat Zwiebel gegessen.’ Dann presste er seinen Mund auf ihren und atmete ihren scharfen Duft ein.
Imelda Ohnehut schlief tief und fest in ihrem Bett, das auch als Land mit Tiefgang bezeichnet werden könnte, wenn man der Matratze gerecht werden wollte. Schwiegermutter sauste durch den Schornstein ins Freie und steuerte auf Himmelschrei zu, dem Land der neuen, untreuen Liebenden.
Schwiegermutter flitzte über die dunklen Tannen und raschelte unbändig mit den Borsten. Er konnte es kaum erwarten, sich seinem Ziel zu nähern. Da witterte er auch schon die alte Hütte an der Quelle zu Gutenbrunn und senkte den Stiel. Die Öffnung in den Schornstein riet er mehr, als dass er ihn mit den magischen Sinnen wahrnahm.
Mit einer Rußwolke landete er im Kamin, genau auf Kupferkessel, der einmal laut pongte. Kesser Feger, der magische Besen des Hexers, erwachte in einer Ecke. Ihre Borsten begannen nun zu zittern. Noch nie hatte der Besen Besuch von einem anderen bekommen. Schwiegermutter übermittelte eine holzische Botschaft, dann erhoben sich beide Besen und rauschten über Kupferkessel hinweg, den engen Schornstein hinauf in den Nachthimmel.
Flash (nein, nicht Gordon) Putzer hatte sich unterdessen ebenfalls Himmelsschrei genähert. Das Dorf kam ihm recht nett vor. Er betrachtete es aus schielenden Augen und hoffte, dass ihm eine der Hexen, die es in diesen Landstrichen zuhauf geben sollte, bei dem Problem helfen konnte. Ja, er hatte es satt zu schielen und immer nur die Nasenspitze zu sehen. Zugegeben, es war eine schöne Nasenspitze, aber auf Dauer doch etwas langweilig, wenn es interessantere Dinge zu betrachten gab.
Von Weitem hörte er schon den Lärm des Jungfern-Festes. Darauf steuerte er zu. Außerdem verkündete ihm die Nase, dass es hier etwas zu essen gab. Es roch nach Braten und warmen Wein, den mochte er sehr gerne, wenn nicht zu viele Gewürze beigemengt waren. Bald stand er im Hof des Bauern Geldnieschenk, vulgo Giersaubauer.
Die Musiker bemerkten den ungebetenen Gast als erste. Sie erkannten in dem jungen Mann sofort einen Zauberer, der spitze Hut und der mit magischen Symbolen bestickte Mantel waren unschwer zu übersehen. Sie stellten die Musik ein. Daraufhin erhob sich ein ärgerliches Raunen, das beim Anblick des Fremden sofort verstummte.
Der Giersaubauer kam mit raschen Schritten auf Flash zu, reichte ihm ehrfürchtig die Hand und lud ihn herzlich ein, sein Gast auf dem Fest zu sein. Noch nie war Flash so herzlich begrüßt worden. Es gefiel ihm hier auf Anhieb. Aber noch wusste er nicht, was der alte Bauer mit ihm vorhatte. Gemessenen Schritts, wie es sich für einen Zauberer ziemt, folgte er dem Älteren zu den Tischen. Dort stellte er sich höflich vor: „Guten Abend, verehrte Herrschaften, ich bin Zauberer ersten Rangs Flash Putzer. Es ist mir ein Vergnügen, an eurem Fest teilzunehmen. Und – äh – hoppladopp ein Segen in den Dopp.“ Auf die Schnelle war ihm kein besserer Zauberersegen eingefallen, aber der kam bei den Leuten scheinbar gut an. Sie applaudierten und gratulierten für diesen einfallsreichen Spruch.
Gerade als er sich setzen wollte, sah er sie. Ihr Anblick ließ seine Augäpfel auseinander fahren und sich auf die Gestalt des Fräuleins heften. Er brauchte keine Hexe mehr, um sein Problem zu lösen, jetzt wusste er auch, warum ihn das Schicksal in dieses ferne Land geführt hatte.
Lillian kam mit Juvelius am Arm zum Festplatz zurück. Als sie Flash erblickte, ließ sie Juvelius stehen und schwebte auf den Fremden mit dem spitzen Hut zu.
Juvelius kam sich vor wie ein ausrangiertes Trüffelschwein vor oder wie schimmeliges Brot, das auf den Abfall geworfen wurde.
Gerade zu dieser Zeit flogen zwei Besen auf den Festplatz zu und landeten mit zitternden Borsten vor dem Hexer.
„Was wollt ihr denn hier? Und wieso bist du bei Kesser Feger, Schwiegermutter?“, fragte er erstaunt. Die Besen raschelten und redeten auf holzisch das nur Juvelius verstand.
„Das kann ich kaum glauben“, erwiderte er erstaunt. „Nein, was ihr nicht sagt. Ich komme sofort.“
Er hörte noch, wie der Zauberer mit seiner Lillian ein Gespräch begann.
‚Der Typ hat Tiefgang, aber von der negativen Sorte’, dachte der Hexer grimmig, stapfte zum Gastgeber und sprach in lautem, zornigen Ton: „Giersaubauer, leider muss ich dein Fest früher als geplant verlassen. Es gibt dringende Hexenangelegenheiten zu erledigen.“
Er drehte sich um und wollte sich noch von Lillian verabschieden, doch diese war in ein Gespräch mit dem Zauberer verwickelt, der auf dem Ehrenplatz saß.
„Ihr könnt ja den Schwarzrock da auf meinen Platz setzen“, fügte er lautstark hinzu, schwang sich auf Kesser Feger und flog davon.
„Ein sonderbarer Kauz“, sagte Flash, als der Hexer weg war.
„Wer denn?“, fragte Lillian und schaute dem Zauberer gebannt in die feucht glänzenden Augen.
Mit einem Wimpernschlag, so schien es Juvelius, standen er und beide Besen vor Imeldas Haus. Er fragte sich noch immer, was die Warnung der Borstenstiele zu bedeuten hatte. Schwiegermutter flog ein kurzes Stück ums Haus herum, kehrte wieder um, raschelte mit den Borsten und raste um die Ecke. Juvelius und Kesser Feger folgten langsamer.
Im Hinterhof erkannte er nun, was Schwiegermutter so aufgeregt hatte.
Er pfiff leise durch die Zähne und kaute dann versonnen auf der Unterlippe herum.
„Und was machen wir jetzt?“
Die Besen gaben keine Antwort. Sie drückten sich an die Hintertür und waren mucksmäuschenstill.
„Hm. Da muss ich mir was überlegen. Es hat wohl keinen Sinn, jetzt das Haus zu betreten. Imelda ist außer Gefecht gesetzt, so wie ich das sehe.“ Er rieb sich übers Kinn.
‚Mann, eine Rasur hast du auch schon wieder bitter nötig“, dachte er noch. Da kam ihm blitzartig eine Idee. Er bückte sich nach einem Stock und malte Schriftzeichen in die taufeuchte Erde. Der Morgen nahte und wenn nicht bald etwas geschah, war es um Imelda geschehen. So sehr er sie manchmal auch hasste, eher nicht gut leiden konnte, umso mehr hasste er die Wesen des Untergrunds.
Er kramte in seinem Gedächtnis, wie eine Dame in ihrer Handtasche nach einem Lippenstift. Genauso sorgsam, wie diese Dame ihre Lippen färbt, zeichnete er nun einen Halbmond in die Erde, streute verschiedenfarbige Kiesel darauf und wartete.
Nichts geschah.
„Hm“, machte er wieder und rieb erneut das Stoppelkinn.
Der Himmel über den Tannen begann bereits heller zu werden. Die Zeit wurde knapp.
Er kramte tiefer in seinem Gedächtnis und fand was er suchte, zumindest hoffte er es. In erster Ausbildung war er Zauberer ersten Grades ohne Abschlussprüfung, das wollte er sich jetzt zunutze machen.
„Hört auf so zu rascheln ihr beiden“, knurrte er zur Hintertür. Aber die Besen standen still und machten kein Geräusch. Sie waren weiß wie Birkenrinde und stumm wie Moos.
Das Geräusch kam von unter der Erde. Der Hexer verbannte die aufkommende Panik und das Geraschel und Gemurmel in den Hintergrund. Dann ließ er sich auf dem Boden nieder und begann vor sich hinzumurmeln.
Währenddessen begab sich auf dem Jungfern-Fest folgendes:
Lillian war ganz versunken in den Anblick des Zauberers. Sie schien in dessen Augen und Stimme zu ertrinken. Da holte sie der Bauer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Lill komm her und sieh zu, dass die ersten Besoffenen den Weg nachhause finden, nutzloses Gör.“
Lillian sprang von ihrem Sitz, Flash erhob sich ebenfalls. Dann fiel er wie vom Blitz getroffen zu Boden, die Augen weit aufgerissen, stammelte er: „Die Wächter, die Wächter.“ Das wiederholte er in einem fort. Solange, bis der Bauer ihn mit einem Kübel Schmutzwasser zur Besinnung brachte.
„Der komische Kauz, wo ist er?“, fragte der Zauberer und wollte sich sofort auf den Weg machen.
„Hä?“
„Na, dieser Typ, der vorhin mit den Besen geredet hat und dann wie von Furien gehetzt losgedüst ist.“
„Aha!“
„Ja, wo ist der?“
„Keine Ahnung. Wen interessiert’s?“ Der Bauer nahm den Zauberer am Ellbogen und führte ihn ins Haus hinein, in die gute Stube sogar. Dort kredenzte er ihm noch mehr warmen Wein und redete über sein braves Mädel. Er wollte unbedingt Lillian mit dem Zauberer verheiraten, diese waren ihm weniger suspekt als der Hexer. Zauberer war wenigstens ein männlicher Beruf. Und es war gut zu wissen, jemandem im Haus zu haben, der einen hilfreichen Segen über dem Bier sprechen konnte oder auch über dem Weizen und der Gerste.
So kam es, dass Flash, der mehr als Willens war, in der nächsten Woche Lillian heiratete und nicht mitbekam, wie der beinahe Zauberer und examinierte Hexer Juvelius Jungfrau von Gutenbrunn eine Heldentat vollbrachte, die aber von keinem bemerkt wurde. Wäre sie bemerkt worden, dann hätte er versagt und keiner hätte jemals wieder etwas bemerkt, sondern wäre zu Asche verbrannt auf einem Haufen gelegen und die Welt drumherum.
Juvelius war tief in Gedanken versunken. Sein Oberkörper machte sonderbare, kreisförmige Bewegungen. Er kreierte eine neue Form der Hexerei, sozusagen den Prototyp eines neuen Hexenzaubers.
Er griff nach dem Stück Holz und malte wieder Striche in die Erde. Diesmal waren es Zeichen aus der Hexensymbolik und Zauberergekritzel.
Schweißperlen tanzten auf seinen Wimpern und die Morgensonne brachte sie zum Glänzen. Noch immer war keine Veränderung zu bemerken. Er bewegte sich schneller, immer schneller und schneller, bis er mit einem lauten Aufschrei nach hinten fiel und reglos liegen blieb.
Schwiegermutter fasste sich als erster. Er tat einen zaghaften Hopser, dann noch einen und noch einen. Als nichts geschah, hob er ab und flog durch den Kamin ins Haus. Kesser Feger wartete unterdessen bei ihrem bewusstlosen Hexenmeister.
Im Bett regte sich etwas. Stundenlang war sie reglos gewesen, nun taten ihr alle Knochen weh, von den Muskeln brauchen wir gar nicht erst zu berichten, die hatten sich verknotet und mussten erst wieder in die richtige Faserrichtung gebracht werden.
So fand Schwiegermutter die Hexe. Er beobachtete eine zeitlang wie sie sich dehnte und streckte. Dann berichtete er von den Geschehnissen.
„Was?“, empörte sich Imelda und sprang in die Stiefel, sie hätte mit dieser Akrobatik jedem Feuerwehrmann Ehre gemacht. Dann polterte sie hinab und hinaus auf den Hinterhof. Dort lag noch immer Juvelius, bleich wie der Vollmond.
„Scheiße“, sagte sie gedämpft und als sie das missbilligende Rascheln des Besens hörte: „Verdammter Mist auch.“
Mit zuckendem Nasenfurunkel umrundete sie den Hexer einmal, dann noch einmal. Nachdenklich rieb sie über das spitze Kinn und machte: „Hm.“
Gründlich betrachtete sie den jungen Mann und spürte zum ersten Mal so etwas wie Lehrerstolz in sich aufsteigen. Sie durfte ihn nicht einfach seinem Schicksal überlassen.
„Irgendwie müssen wir ihn ins Haus schaffen. So ist er zu Nahe am Untergrund. Hast du den Wächter gesehen, Schwiegermutter? Nein? Und du Kesser Feger? Auch nicht, hab ich mir gedacht. Ihr seid wirklich Feiglinge, habt den Kleinen ganz alleine die Drecksarbeit machen lassen. Nun gut, mich hat der Unterweltarsch auch gründlich überrascht.“
Dann spuckte sie in die Hände und griff Juvelius unter die Arme. Es war ein mühsames Unterfangen und wäre sie keine Hexe gewesen, hätte sie den Mann niemals von der Stelle bewegen können. Mit vielen Beschwörungen, die mit zahlreichen Flüchen gespickt waren, verfrachtete sie ihn ins Haus und schubste ihn auf einen uralten staubigen Diwan im Wohnzimmer. (Man glaubt es kaum, aber so etwas gab es in diesem Hexenhaus. Es wurde zwar selten gebraucht, aber ab und zu kamen andere Hexen zu Besuch und da war es wichtig zu imponieren.)
Endlich war es geschafft und Imelda genehmigte sich eine Tasse Kamillentee. Das Feuer im Kamin prasselte eifrig und beleuchtete das fahle Gesicht des Bewusstlosen. Es gab sein bestes, der kalten Gestalt Wärme einzuhauchen. Aber dazu hätte es aufstehen und ihn nahezu bedecken müssen. Das wiederum traute sich Feuerchen nicht, aus Angst, dass die Hexe es dann erlöschen lassen würde. So mühte es sich mit seinen bescheidenen Verhältnissen, was ja auch nicht schlecht war.
Etwas regte sich in der linken Jackentasche, streckte ein Näschen raus und begann an Juvelius hochzuklettern. Immer wieder hielt es inne, schnupperte, hustete, würgte und war endlich am Kopf angekommen. Dort begann sie rhythmisch auf die Stirn des Hexers zu klopfen.
Nach einiger Zeit öffnete dieser die Augen und setzte sich erstaunt auf.
„Hallo Imeldaschätzchen. So ein Glück, dass du da bist.“ Dann fiel er wieder um.
„Was hast du gesagt“, kam ein Brüllen aus der Küche.
„Nichts“, flüsterte der Hexer.
Doch schon stürmte eine erstaunte Imelda das Wohnzimmer, die nur schlecht ihre Freude über das Erwachen des ehemaligen Schülers verbergen konnte.
„Du bist wach, wie herrlich.“ Sie stockte, räusperte sich und fuhr fort: „Ähm, ich meine, herrlich, dass das Feuer so schön prasselt. Du hast eine Ratte auf dem Kopf sitzen.“
Sie drehte sich um und marschierte wieder raus. Nach kurzer Zeit kam sie mit einem Becher heißen Tee zurück.
„Trink das. Ist kein Gift drin. Brauchst gar nicht so blöd zu schauen, du Dämlack. Aber gut gemacht.“
Juvelius setzte sich wieder auf, nahm den Becher und schnupperte argwöhnisch. Imelda, die Ratte, kicherte verächtlich.
„Weidenrindentee. Gut, ich hab höllische Kopfschmerzen.“
„Das denk ich mir. So und wenn du das getrunken hast, dann müssen wir uns auf die Suche nach einer dritten Hexe machen. Es ist wichtig, dass wir das zu dritt machen. Äh, weißt du, welche von uns ein Kind hat?“
Juvelius verschluckte sich beinahe am Tee, als er die Worte der Hexe begriff. Sie hatte ihn nun endlich in den erlauchten Kreis aufgenommen.
„Du willst einen Zirkel bilden?“, fragte er vorsichtig. „Und ich soll die Jungfrau sein?“
Imelda grinste verlegen.
„Nun, Junge, ich bin schon zu alt dafür, das nimmt mir sowieso keiner mehr ab. Du bist noch jung genug. Wenn du ein Mädchen wärst, würde man es dir ohne weiteres glauben, glaub mir.“ Sie nickte dabei bekräftigend mit dem Kopf und schlug ermunternd auf seine Schulter.
„Mist“, war alles, was er dazu sagte.
Imelda, die Ratte, kicherte fies. Dann kroch sie wieder in die linke Jackentasche und rollte sich zusammen.
Jetzt begann das schwierigste Unterfangen. Nämlich einen Hexenzirkel zu bilden. Alles, was dann noch kommen würde, wäre ein Klacks dagegen.
Herta 12/2009