2. Kapitel Erinnerungen
Erinnerungen
Warum habe ich keine Vergangenheit?
Alles scheint ausgelöscht, so als hätte es mich vor der Mine nicht gegeben.
Warum bin ich hier in dieser Zelle und nicht tot?
So viele Fragen und keine Antworten – nur Angst. Unbeschreibliche Angst, vor einer unbekannten Vergangenheit und einer eben solchen Zukunft.
Ich weiß nicht, wie ich mich legen soll. Mein Körper brennt wie Feuer. Ich spüre, wie die Haut in Fetzen runter hängt. Jeder Knochen, jeder Muskel, ja jede Faser schmerzt. Nur mit Mühe kann ich mich bewegen. Stöhne immerzu. Fühle mich wie ein Tier auf der Schlachtbank.
Ich warte. Worauf?
Starre die Metalltür an.
Vielleicht geht sie auf und sie holen mich endlich, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Nein, das werden sie nicht, nicht nachdem sie mich desinfiziert haben.
Wer zum Kuckuck sind „sie“?
Wer bin ich?
Dieser Name, an den ich mich erinnert habe, ist das meiner?
Es ist zum Verzweifeln.
Ich merke, wie sich mein Verstand verabschiedet. Ich werde irre. Schreie, lache, tobe, weine – alles gleichzeitig. Dann liege ich nur noch da und starre auf die Metalltür.
Haben die mich vergessen?
Das hier ist für mich schlimmer als die Mine. Dort waren wenigstens Leute um mich. Ich fühlte Leben, auch wenn ich geschlagen wurde.
Hier ist nichts. Ich bin ganz alleine. Immer das helle Licht und diese erdrückende Stille.
Jeder Laut, den ich von mir gebe, jedes Stöhnen kommt mir unendlich laut vor. Ich bin wahnsinnig vor Angst.
Was wird geschehen?
Kommt irgendwann jemand?
Ich bin so durstig. Warum darf ich nichts trinken?
Wollen die mich verdursten lassen?
Ich falle in Dämmerschlaf und träume von riesigen Raumschiffen.
Ich sehe Sterne.
Ein Feuergefecht jagt das andere. Schiffe explodieren, enden als Staub und Schrott in den Weiten des Alls. Eines entfernt sich von den anderen und – ich erwache.
Finde mich schreiend auf dem Boden wieder.
Mein Magen dreht sich um. Ich würge und spucke. Es kommt nichts. Die Angst lässt sich nicht auskotzen. Mit tränenverklebten Augen schaue ich auf und sehe Stiefel.
Ich hebe den Blick – Hose, Jacke, verschleiertes Gesicht.
‚Scheiße’, denke ich und weiß nicht, warum ich plötzlich Panik fühle.
Irrational.
Jetzt stehen die Stiefel genau vor mir. Sie glänzen im Licht.
„Aufstehen!“, befiehlt der Soldat.
Ich versuche es, komme aber nicht hoch, falle wieder um. Behandschuhte Hände packen mich an jeder Seite und bringen mich weg.
„Was wollt ihr?“, frage ich voller Angst. Ein Schlag ins Gesicht ist die Antwort. Er lässt mich aufschreien.
Sie schleifen mich einen langen Gang entlang. Immer wieder versuche ich die Füße auf den Boden zu bringen. Es gelingt nicht.
Sie bringen mich in ein Verhörzimmer. Der Raum wird von einem klobigen Schreibtisch dominiert. Dahinter sitzt ein Mann mittleren Alters, der mir bekannt vorkommt. Seine Uniform ist mit Orden behängt. Die beiden Soldaten neben mir nehmen Haltung an, wobei sie den Griff an meinen Armen lösen. Ich sacke zusammen, habe keine Kraft in mir. Brutal zerren sie mich in die Höhe, halten mich eisern fest.
Der Colonell (woher weiß ich seinen Rang?) wirft einen kurzen Blick auf mich. Dann sieht er an mir vorbei, während er spricht: „Dir ist wohl nicht klar, dass der Angriff auf einen Wächter mit dem Tod bestraft wird?“
„Dann mach dem ein Ende“, unterbreche ich ihn müde. Ich will nicht mehr. Es ist genug. Ein Soldat rammt mir den Schlagstock in den Magen. Ich krümme mich, wimmere.
„Schweig! Ich sage dir jetzt, warum du noch lebst und wieder in Militärgewahrsam bist.“
Wieder im Militärgefängnis? Ich war also schon einmal hier.
„Deine Erinnerungen kommen zurück. Das ist Pech. Hier bist du trotzdem namenlos. Im Übrigen kann die Regierung auf einen Märtyrer verzichten.“
Plötzlich weiß ich, dass ich nicht Silvo bin. Ich war sein Erster Offizier. Wir befanden, oder befinden wir uns noch immer, im Krieg – irgendetwas ist damals geschehen. Was? Die Erkenntnis und die Fragen lassen mich schwindeln.
Wie ist mein Name? Warum bin ich ein Gefangener?
Ich weiß jetzt, dass ich bei meinem Volk bin. Warum also?
„Denk gar nicht erst darüber nach. Du bist ein verdammter Verräter und als solcher wirst du behandelt. Karmin hatte wenigstens soviel Schneid, sich selbst zu töten. Aber du warst schon immer ein Feigling. Deshalb lebst du noch.“
„Weshalb bin ich hier? Wer bin ich?“ Ich kann jetzt nicht schweigen.
„Das möchtest du wohl gerne wissen, du elender Verräter, du!“
Plötzlich schießen Erinnerungsfetzen auf mich ein. Kapitän Karmin und ich hatten einen Befehl verweigert. Es ging um den Beschuss irgendeines unterentwickelten Planeten.
„Wir hatten Recht“, sage ich heiser. „Ich würde es wieder tun! Was bringt es, eine Galaxie zu beherrschen, wenn dann niemand in Frieden und Freiheit leben kann?“
Kaum habe ich zu Ende geredet, trifft mich auch schon eine Faust im Gesicht.
Ich spucke Blut und einen Zahn.
„So wirst du deine Frau nie wieder sehen. Kehre zurück zu uns, und ihr seid beide frei.“
Der Colonell blickt mich feindselig an. Woher kenne ich den Typen? Warum ist er so erpicht darauf, mir dieses und jenes zu sagen?
Dann fällt mir ein Name ein.
Stella!
„Wo ist sie?“
Aber er lacht nur.
Dann zerren mich die Soldaten in die Zelle zurück.
Was sollte das?
Wollte er mir Angst machen? Es ist ihm gelungen.
Ich habe panische Angst – um Stella.
Ich denke an sie und schreie meine Frustration laut heraus.
Ihr Gesicht ist nur ein Schemen. Die Erinnerung an eine Erinnerung. Ich weiß nur, dass sie ein liebevoller, friedfertiger Mensch ist, und dass ich sie liebe.
Stella! Liebes, wo bist du?
Du hast mir den anderen Weg gezeigt. Liebe ist besser als Hass. Immer nur nehmen macht auf Dauer alles kaputt. Du hast mich gelehrt, auch zu geben.
Plötzlich fällt mir mein Name ein! Ich weiß wer und was ich bin.
„Sevin Libertas! Erster Offizier der Alpha-Star!“
Das brülle ich in die leere Zelle. So laut, dass es hallt.
Dann denke ich an Stella. Unsere Eheschließung fällt mir ein. Ich habe sie nach Art ihres Volkes geheiratet und ihren Namen angenommen. Es war eine wundervolle Zeremonie. Zuerst wollte ich mich nicht darauf einlassen, aber Tunkasila meinte, die Uniform würde mich so streng erscheinen lassen. „Tunkasila du weißt, dass ich nur diese Sachen habe“, erwiderte ich belustigt. „Und ihr seid ja alle kleiner als ich, also wird wohl nichts passendes dabei sein.“ Der alte Mann lachte, nahm mich an der Hand und führte mich in sein Haus. Dort überreichte er mir einen wunderschönen weißen Wildlederanzug.
„Probier ihn an, Sevin“, drängte er, als ich ablehnen wollte. „Er gehört dir. Nimm ihn.“
Tunkasila drückte mir die Sachen in die Hände und fing bereits an, mir die Uniform auszuziehen. Lachend gab ich nach. Der alte Mann war mir an Sturheit mehr als überlegen. Der Anzug passte wie angegossen, dabei war er nicht neu, was seiner Schönheit keinen Abbruch tat, im Gegenteil. Ich betrachtete mich im Spiegel und war erstaunt. Den Mann der mir da entgegenlachte, kannte ich nicht.
„Du siehst aus, wie der Tokahe auf unseren alten Bildern“, sagte eines der Kinder, die mich abholten. Ich tat, als hätte ich das nicht gehört, es war mir peinlich. Vielen Leuten schien das gleiche im Kopf rumzugehen, denn sie starrten mich mit offenen Mündern an.
„Stella, ich glaube, du hast dir den richtigen ausgesucht. Er ist zwar etwas blass um die Nase, aber er scheint schon zu passen“, sagte ihre Mutter lachend und führte sie auf den Platz.
Jetzt war es an mir, mit offenem Mund zu starren. Ich konnte nur staunen, so reich behängt war sie, meine wunderschöne Braut. Ihre Augen strahlten noch mehr als alle Juwelen und Glasperlen mit denen sie geschmückt war. Ihr weißes Kleid hob sich elegant von ihrer dunklen Haut ab.
‚Oh, was für eine schöne Frau und sie will mich’, dachte ich gerührt und fühlte mich geehrt.
Wie in Trance führte ich alles aus, was zu der Zeremonie gehörte. Ich konnte meine Augen nicht von Stella wenden.
Nach der Trauung gab es das übliche Fest. Es wurde gelacht und gesungen. Ich tanzte sogar mit den Männern einen Gruppentanz.
Dann trat Tunkasila vor und sprach: „Leute, meine liebe Sippe und alle Verwandten, die ihr heute hierher gekommen seid, seht wir haben ein neues Mitglied in unserer Gemeinschaft. Sevin, komm einmal her zu mir.“ Er reichte mir die Hand und ich trat zögernd vor. Ich fühlte mich unbehaglich so im Mittelpunkt des Geschehens.
„Vor euch allen hier adoptiere ich Sevin als Mitglied meiner Sippe. Fortan wird er Sevin Libertas sein – unser Sohn.“
Damit hatte ich nicht gerechnet und ich umarmte den alten Mann spontan. „Ich werde versuchen, dir ein guter Sohn zu sein“, nuschelte ich in sein Haar. Er lachte nur und meinte ich solle Stella ein guter Gatte sein, mehr würde er von mir noch nicht verlangen.
Diese Worte kamen mir rätselhaft vor und ich wollte ihn schon danach fragen, aber ich bekam keine Gelegenheit dazu und später vergas ich es. Alle wollten mir die Hand schütteln und gratulierten mir und Stella zu unserer Zusammengabe. Dann wurde wieder getanzt, gesungen und leider auch gesoffen. Ich denke, ich trank zuviel von dem gegorenen Beerensaft und Stella hatte nicht mehr viel von mir.
Auf jeden Fall tat mir am nächsten Tag der Kopf höllisch weh. Stella lachte mich aus und schallt mich einen Dummkopf, womit sie recht hatte. Ich vertrage einfach keinen Alkohol.
Kurze Zeit später wurde ich degradiert und meines Kommandos enthoben. Erst als mich Silvo Karmin anforderte, bekam ich wieder eine Kommandofunktion.
Jetzt fällt mir auch der Streit mit meinen Eltern wieder ein. Er muss schrecklich gewesen sein, denn sie verwiesen mich des Hauses. Warum sehe ich meine Eltern nicht?
Ich höre sie toben und mich beschimpfen, aber ich sehe nichts. Wer seid ihr?
Krampfhaft suche ich nach der Erinnerung und finde nichts weiter als dumpfe dunkle Leere.
O Stella, hoffentlich haben sie dir nichts getan.
Sippenhaftung, fällt mir jetzt ein. Das ist bei uns übliche Verfahrensweise. Die ganze Familie wird verhaftet, selbst Kinder.
Ich werde wahnsinnig vor Angst um sie und bin gleichzeitig froh, dass wir keine Kinder haben. Immer wieder rufe ich ihren Namen, heule und schluchze.
„Stella!“ Meine Schreie springen von den Zellenwänden zurück, treffen mich mit eiserner Faust, zerquetschen den Hörsinn und lassen mich taub zurück.
Dann trommelt jemand gegen die Zellentür und brüllt: „Ruhe, du Schwein, sonst komm ich rein und zieh dir eins über!“
Angst vor neuerlichen Schlägen lässt mich schweigen. Die Stille fasst nach mir und schüttelt mich, erstickt mich mit ihrer Dichte.
Ich versuche endlich zu schlafen. Doch Schmerzen, Angst und Durst lassen mich nicht zur Ruhe kommen.
Stunden später, in denen mich der Gedanke an Wasser quält, öffnet sich eine Luke in der Tür und eine schwarz behandschuhte Hand schiebt ein Tablett herein. ‚Wasser’, denke ich und stürze mich darauf. Es ist warm. Das macht mir nichts. Ich fühle mich so ausgetrocknet, dass ich sogar Schmutzwasser getrunken hätte. Langsam esse ich den eigentümlichen Brei. Ich muss mit den Fingern essen. Aus Angst vor Selbstmorden wird den Gefangenen Besteck und Bettzeug vorenthalten.
„Ich bin Leutnant Sevin Libertas, Erster Offizier der Alpha-Star, verheiratet mit Stella Libertas, Priesterin auf Trebis!“, rufe ich, als das Tablett wieder abgeholt wird. Ich will, dass alle wissen, wer und was ich bin.
Vom ungewohnten Essen habe ich Magenschmerzen bekommen. Ich lege mich auf die Pritsche und denke an Stella. Diese wunderbare, schöne, liebreizende Person. Ganz deutlich sehe ich ihr Gesicht vor mir: hohe Wangenknochen, leicht schräg stehende blaue Augen, ein sinnlicher Mund, die kleine Stupsnase und alles eingerahmt von dunklem seidig glänzendem, langen Haar.
Stella, meine Liebe. Ihre Augen strahlen Licht, Wärme, Leben und Liebe aus.
Sie hat mich vom harten Soldaten zu einem liebevolleren Menschen geführt.
Woher komme ich?
Ich weine um unsere Liebe, um meinen toten Freund und um die vielen Toten, die in einem grausamen, unnötigen Krieg getötet wurden – hingemetzelt von einem Feind, der sich nie zeigte.
„Warum bin ich hier?“, grüble ich. Den Märtyrerscheiß glaube ich keine Sekunde lang. Da muss noch etwas anderes dahinter stecken.
Tagelang bin ich alleine, sehe nur die schwarze Hand, die das Essen bringt und das Tablett wieder abholt. Ich warte und warte. Mein Leben scheint nur noch aus warten und starren zu bestehen. Die grauen Wände der Zelle beginnen sich um mich zu schließen. Ich fühle mich erdrückt davon, bekomme Atemnot. Klaustrophobie, fällt mir dazu ein. Wieder ein Wort aus der Vergangenheit. Ein Raumfahrer darf nicht darunter leiden.
Warum fühle ich es jetzt?
Ist es die Enge?
Die Gleichförmigkeit?
Das Nichtstun?
Alles zusammen?
Erinnerungsfragmente beginnen sich zu einem Ganzen zu formen. Durch die Untätigkeit bin ich gezwungen, mich mit den Gedanken zu beschäftigen. Ich möchte nicht verrückt werden. Ich möchte nicht verrückt werden, sage ich mir vor.
Warum lebe ich noch?
Macht das überhaupt Sinn?
Ich möchte mich bewegen können. Jede Anstrengung lässt eine andere, fast verheilte Wunde aufbrechen, dann blute ich wie ein abgestochenes Schwein. Also lasse ich es sein und konzentriere mich auf den Geist.
Ich denke an Stella. Unsere schöne gemeinsame Zeit in ihrer Heimat, nein unserer. Ich hätte den Dienst quittieren und dort bleiben sollen aber sie sagte immer: „Sevin, du bist genau dort, wo du hingehörst.“ Das höre ich sie sagen, wenn ich mir Vorwürfe mache und ich verstehe es heute ebenso wenig wie damals. Wo immer sie auch sein mag, ich liebe sie wie am ersten Tag. Wir hatten uns auf eine sonderbare Art und Weise kennen gelernt. In Erinnerung daran muss ich lachen. Es war wirklich zu komisch. Wir sollten Trebis erkunden. Es war so ziemlich meine einzige Forschungsmission. Der Erkundungstrupp bestand neben den üblichen Soldaten aus einem Botaniker und einem Geologen, auf einen Anthropologen hatte ich verzichtet, das wollte ich selbst erledigen. So hatte ich Gelegenheit den Planeten kennen zu lernen.
Als wir aus dem Shuttle stiegen stand sie da wie angewurzelt. Ich ging als erster raus und blieb im offenen Schot stehen, die anderen drängten nach vor und schoben mich auf sie zu. Dann drängten noch die Soldaten nach. Schließlich landete ich in ihren Armen und verdeckte sie ganz. Sie schlang haltsuchend ihre Arme um mich. So standen wir stocksteif in einer unerwarteten Umarmung und ich versuchte, sie nicht umzuwerfen. Als ich das Gleichgewicht wieder gefunden hatte sagte ich in verschiedenen Sprachen: „Tut mir Leid, dass ich dich umgerannt habe.“ Als sie nur dastand und lächelte sagte ich weiter: „Du scheinst nicht erstaunt zu sein, dass wir aus einem fliegenden Fahrzeug steigen.“
„Nein“, sagte sie, schob mich von sich und starrte mir weiterhin ins Gesicht. Ich dachte schon, dass ich vielleicht einen Ausschlag oder so etwas bekommen hatte und drehte mich verlegen um. Meine Mannschaft grinste dämlich.
„An die Arbeit. Sie wissen was Sie zu tun haben!“, kommandierte ich überlaut, um meine Verlegenheit zu kaschieren.
„Ähm. Ich bin Sevin und leite diese Erkundungstruppe“, sagte ich kurz angebunden.
„Ich bin Stella und ich bin hier zuhause“, antwortete sie ebenso knapp und lächelte schelmisch.
Noch nie im Leben hatte ich eine so schöne Frau gesehen, ich konnte die Augen nicht von ihr lassen. Ich denke, ich war sehr unhöflich, weil ich nur gestarrt habe.
„Sevin“, murmelte sie und nickte als würde sie etwas verstehen, das sie vorher nicht verstanden hatte.
„Ich bringe dich ins Dorf. Tunkasila wird dich kennen lernen wollen. Ich glaube, er hat dich erwartet.“
Jetzt staunte ich noch mehr. Wie konnte es sein, dass sie uns erwartet hatten? Das alles erfuhr ich später im Dorf.
Ich befahl den Soldaten auf die Wissenschafter zu achten und das Shuttle zu bewachen. Dann folgte ich Stella, mehr als neugierig geworden. Ihre Sprache war nicht schwierig und ähnelte einer mir bereits bekannten, so war die Verständigung kein Problem.
Das Dorf kam mir seltsam vertraut vor. Es war erschreckend. Der alte Mann trat auf mich zu, umarmte mich und sagte: „Ich wusste, dass du kommen würdest, mein Junge.“
Diese Worte ließen mich erstarren. Woher sollte er wissen, dass ich kommen würde? Aber ich wollte mehr darüber wissen und so unterhielten wir uns bis Sonnenuntergang. Als ich gehen musste verabredeten wir uns für den nächsten Tag.
Zum Glück brauchten der Botaniker und der Geologe noch etwas Zeit für ihre Untersuchungen und ich konnte mich ganz offiziell an Stella ranmachen. Nichts anderes war es. Die Anthropologie war nur mehr ein Vorwand, um sie zu treffen. Wir saßen stundenlang am Fluss und schauten dem Wasser zu. Sie konnte vortrefflich schweigen – es war ein geselliges Schweigen. Nie habe ich mit jemandem mein Leben so genossen.
Als ich wieder weg musste, wussten wir beide, dass wir uns wieder sehen mussten. Fortan verbrachte ich meine gesamte Freizeit auf Trebis.
Die angenehmen Erinnerungen werden von der Angst um sie verdrängt. Ich hoffe, dass sie in Sicherheit ist. Aber die Hoffnung ist sehr gering, nicht mehr als ein Funke.
Warum kann ich mich plötzlich an so viele Details aus meinem Leben erinnern?
Plötzlich steht mir was anders vor Augen. Es ist, als wäre es gerade erst geschehen. So deutlich sind die Bilder.
Der Kapitän ließ mich holen. Er war ärgerlich, nein zornig ist der bessere Ausdruck. Silvo stand am Fenster, die Hände hinter dem Rücken. Ich konnte sein Gesicht als Spiegelung erkennen. Seine helle Gesichtshaut wirkte fast durchsichtig, die braunen Augen schienen sich durch die Dunkelheit des Alls zu bohren. Als ich salutierte drehte er sich um. Kurz erhellte ein Lächeln sein Gesicht, dann wurde er wieder ernst.
„Setz dich Sevin“, sagte er, bot mir Kaffee an, den ich ablehnte. Dann reichte er mir einen schriftlichen Befehl. Ich las und war sprachlos, endlich fragte ich: „Was gedenkst du zu tun, Silvo?“ Untereinander waren wir per „du“, so gut waren wir befreundet. Vor der Mannschaft immer mit Rang, das war uns wichtig.
Er schien darüber nachzudenken. Dann meinte er zögernd: „Auch, wenn du mich jetzt für einen kompletten Vollidioten hältst, Sevin, dieser Befehl wandert in die Rubrik: „nie gelesen“. Was bilden die sich ein?“ Er sprang auf und lief im Büro herum während er weiterredete: „Wir sollen da so einen unterentwickelten Planeten entvölkern, nur weil er strategisch günstig liegt. Da hol mich doch der Teufel, oder wer auch immer, das ist sogar mir zuviel! Die Leute wissen nicht was mit ihnen geschieht, geschweige denn dass es uns gibt. Wir sollen einfach so drauflos ballern und gut ist. Das geht nicht. Das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Ich kämpfe gegen jeden ehrbaren Feind, der sich wehren kann, da scheue ich mich nicht, ein persönliches Risiko einzugehen, aber das da …“ Fassungslos verstummte er und nahm wieder am Schreibtisch platz.
„Du lehnst dich ganz schön weit aus dem Fenster, wenn du so redest“, sagte ich, aber ich nickte dabei. Silvo wusste, dass ich seine Ansicht teilte.
Ich halte unsere Entscheidung bis heute für richtig, ganz gleich, was es mich kosten mag. Ich werde nichts zurücknehmen!
Wir diskutierten eine Weile darüber, wie wir am besten vorgehen sollten, damit die Mannschaft nicht unsere Entscheidung zu büßen hätte und wir halbwegs glimpflich aus der Sache hervorgehen könnten. Aber alle Gedanken daran waren verschwendet.
Plötzlich glitt das Schot auf und Edwyn Lop’art trat ein. Er war der Zweite Offizier. Ein Mann mit Ambitionen. Hinter ihm standen, sich auf die Füße blickend, fünf Sicherheitsleute. Lop’art brüllte: „Sie sind Ihres Kommandos enthoben!“
Silvo lachte. Dann sagte er todernst: „Sie wissen, dass das Meuterei ist, Commander? Für diese Tat brauchen Sie einen triftigen Grund.“
Er nickte selbstgefällig, bevor er sagte: „Ja Kapitän, den hab ich. Mir ist bekannt, dass Sie den Befehl des Flottenkommandos nicht befolgen werden. Ich habe den Auftrag, Sie in Gewahrsam zu nehmen und jeden, der sich bei Ihnen befindet. Und genau das werde ich jetzt machen. – Mitkommen!“
Seine Stimme war schneidend, eiskalt, berechnend.
„Seit wann werde ich abgehört?“, verlangte Silvo zu wissen. Darauf bekam er nie eine Antwort. Die Sicherheitsleute nahmen uns in die Mitte und brachten uns in den Arrestbereich. Von Silvo sah ich ab diesem Zeitpunkt nie wieder etwas, hörte auch kein Lebenszeichen von ihm. Erst seit ich hier bin, weiß ich, dass er tot ist.
Dann fällt mir noch etwas ein. Lop’art sagte, nachdem der Planet beschossen worden war: „Libertas, deine Frau werden wir auch bald kriegen. Du kommst auf der nächsten Basis ins Militärgefängnis und wirst dort dein Urteil empfangen, solltest du dich nicht selbst töten“ Ich hörte nur, dass sie Stella suchten. An nichts anderes konnte ich denken. Ich verweigerte die Giftkapsel, in der Hoffnung Stella zu sehen oder vielleicht auch, angehört zu werden.
Die Zeit bis zum Urteilsspruch versetzten sie mich in Stasis. Jeder wusste, wie sehr ich das hasse. Erst kurz vor der Verhandlung weckten sie mich. Ich war im Militärgefängnis auf Andor, dem berüchtigtsten Kerker der Galaxie. Mehrere Soldaten eskortierten mich aus der Zelle in den Gerichtssaal. Meine Augen waren blind vor unterdrückten Tränen. Die Angst saß mir im Nacken, ich spüre sie noch heute ganz deutlich, obwohl mir wahrscheinlich noch Schlimmeres bevorsteht.
Im Gerichtssaal wurde ich in den Käfig für die gefährlichsten Verbrecher gesperrt, an Händen und Füssen gefesselt und am Gitter festgezurrt.
Auf der Anklagebank saß mein sogenannter Pflichtverteidiger, der sich nicht mal die Mühe machte, mit mir zu sprechen, geschweige denn mich anzusehen. Als ich ihn sah, wusste ich, dass die ganze Verhandlung eine Farce war, eine Zurschaustellung der Macht. Auf der Seite der Regierung, also der Ankläger, sah ich einen alten Bekannten, Leutnant Lop’art und einen Admiral, auch eine Frau saß dort, die kannte ich nicht.
Dann begann der Richter mit der Verlesung der Anklage. Mein Hirn wurde leer, als ich meine angeblichen Taten hörte: „Anstiftung zur Meuterei, Befehlsverweigerung, Beihilfe zur Flucht, Gründung einer terroristischen Vereinigung, Spionage und Volksverrat.“
Danach fragte der Richter, ob ich mich schuldig bekennen würde. Mein Verteidiger antwortete: „Schuldig in allen Punkten, Euer Ehren.“
Aber ich rief dazwischen: „Nicht schuldig! Ich habe nichts getan! Ich bin kein Terrorist und kein Spion! Ich habe unser Volk nicht verraten! Bitte, glauben Sie mir, Euer Ehren!“
„Schweig still, Angeklagter!“, brüllte er in meine Richtung und ich wusste, dass das Urteil unumstößlich war. Es gab keine Chance auf eine weitere Anhörung. Ich war schuldig gesprochen ohne Möglichkeit zur Verteidigung. Das ließ mich nicht mehr an der Richtigkeit meiner Gedanken zweifeln. Diese Regierung und dieses Militär tun nur nach außen hin, als würden sie sich für die Bevölkerung einsetzen und allen das gleiche Recht gewähren.
Nach der Verlesung der Anklage und des Schuldeingeständnisses meines Verteidigers, machten sie eine Stunde Pause, während dieser ich im Käfig stehen musste. Nach der Zeit in der Stasiskammer waren meine Muskeln geschrumpft. Schon bald merkte ich, wie die Beine unter mir nachzugeben drohten. Nur mit Mühe gelang es mir, stehen zu bleiben. Ich lehnte mich an das Gitter und hoffte, dass es bald vorbei sein würde. Die Kameras der Übertragungseinheiten hatten mich immer im Blick, ebenso die Schaulustigen, die zum Scheinprozess gekommen waren. Sie bespuckten und beschimpften mich als Verräter. Ich verstand nicht, womit ich diese Behandlung verdient hatte.
In einiger Entfernung stand der Admiral und beobachtete mich ebenfalls. Sein Blick war steinhart und mitleidlos. Die Uniform schien mich mit ihrem Glanz zu verhöhnen. Es kam mir vor, als wollte sie sagen: „Siehst du Sevin, auch du hättest das tragen können. Auch du hättest es so weit bringen können, wenn du dich an die Spielregeln gehalten hättest.“ Aber das hatte ich nicht. Ich hatte meinen eigenen Kopf benutzt und eigene Entscheidungen getroffen.
Dann kamen endlich die Richter zurück und verkündeten das Strafausmaß: Lobotomie und anschließend Strafarbeit in den Minen von Lysan.
Das war schlimmer als der Tod.
Ich fiel in mich zusammen.
„Ich bin kein Spion! Da liegt ein Fehler vor!“, rief ich verzweifelt, während mich Soldaten wegzerrten. „Admiral, ich bin kein Verräter! Warum glaubt mir denn keiner?!“
Er wandte mir nur den Rücken zu und ging. Lop’art hingegen grinste mir unverhohlen ins Gesicht und ich erkannte, dass er die ganze Sache eingefädelt hatte.
Wenn ich daran denke, werde ich immer noch zornig. Ich hasse diesen Kerl!
Lobotomie, eine Hirnoperation, seit mehr als 100 Jahren eigentlich verboten, wird bei Verrat oder Spionage immer noch angewendet.
Bei mir hat sie versagt.
Ich bin so in meinen Erinnerungen, Selbstzweifeln und Fragen gefangen, dass ich nicht merke, wie jemand die Zelle betritt.
„Mitkommen!“, brüllt die Person.
Ich fahre hoch. Zittere vor Schreck. Zwei Männer packen mich an den Oberarmen und schleifen mich ins Büro des Colonells.
„Na, willst du deine Einstellung nicht ändern?“, fragt er, als ich vor ihm stehe. Ich starre weiter gerade aus, will ihn nicht ansehen. Er kommt hinter seinem Schreibtisch vor. Ein Soldat zwingt mich, dem Offizier ins Gesicht zu sehen. Dieser streicht seine Uniformjacke glatt und lächelt mich wissend an.
„Hast du es dir nicht überlegt? Eigentlich will ich dir ja nichts Böses, du tust es dir selbst an, indem du falschen Lehren folgst. Noch ist es nicht wirklich zu spät. Du könntest zurück kommen.“
Das Angebot ist verlockend. Die Einzelhaft zehrt an mir. Ich fühle meinen Willen schwanken. Dann denke ich daran, dass diese Regierung sich nichts dabei denkt, einen ganzen Planeten zu entvölkern, alle zu töten, die sie für unwert hält. Ich straffe die Schultern und sage schlicht: „Nein. Ich bleibe dabei.“
Der Colonell nickt. „Das habe ich befürchtet.“
Er dreht den Kopf zu Seite und mich durchbohrt ein Stich. Der Schock der Erkenntnis lässt mich zusammen sacken. Ich merke, wie mir die Farbe aus dem ohnehin bleichen Gesicht rinnt. Alles Blut läuft in die Beine, diese sind schwer wie Blei. Im Kopf summt es wie ein Bienenschwarm, mich schwindelt.
Ich flüstere: „Lukas? Du bist dafür verantwortlich?“
„Schweig!“, herrscht er mich an. „Du hast hier ungefragt nichts zu sagen!“ Ein Schlagstock saust auf mich nieder. Ich krümme mich vor Schmerzen. Aber er geht tiefer, nicht nur vom Schlag, sondern von der Erkenntnis fühle ich mich getroffen. Die Beine geben endlich nach und ich lande auf dem Boden. Brutal ziehen mich die Soldaten wieder hoch. Jemand packt mich an den nachwachsenden Haaren und zieht daran, bis mein Kopf tief im Nacken liegt. Dann drücken sie mich auf einen Stuhl und fesseln mich. Einer hält mich noch immer an den Haaren, zieht immer fester nach hinten. Der Hals spannt, meine Augen brennen. Ich röchle und versuche wieder in eine normale Position zu kommen. Endlich lässt er los. Lukas schaut mich an. Ich kann nicht erkennen, was er denkt oder fühlt.
Brüder waren wir einst, heute bin ich sein Feind. Ich bin traurig darüber, und habe Angst.
Lukas stellt einen Hologramm-Projektor auf den Tisch. Ein Soldat fixiert meinen Kopf, sodass ich ihn nicht mehr bewegen kann.
„Schlussendlich haben wir deine Hure ja gefunden. Du willst sicher wissen, wie es ihr geht. Jetzt kannst du miterleben, was die so treibt, wenn du nicht da bist. Sieh nur genau zu – das passiert jetzt gerade.“
Er grinst mich gemein an und schaltet das Holo ein. Die Angst schnürt meine Kehle zu.
Stella! Ich sehe, wie sie in ein Verhörzimmer gebracht wird – und mein Herzschlag setzt aus. Diese Drecksäcke reißen ihr das Kleid runter, fesseln und schlagen sie. Dann vergehen sie sich einer nach dem anderen an ihr. Sie gibt keinen Laut von sich, lässt es scheinbar reglos über sich ergehen. Aber an ihrem Gesicht kann ich das Leid sehen, den Schmerz und die Demütigung.
„Nein!“, rufe ich. „Stella! Tecihila! Tecihila! Tecihila! Warum tut ihr, Schweine, das? Sie hat euch nichts getan! Lasst sie gehen! Mitawin, tecihilia!“
Die Fesseln schneiden tief in die Haut, als ich versuche aufzuspringen. Am liebsten hätte ich die Kerle umgebracht, die Stella so quälen, und nicht nur die!
Immer wieder rufe ich in ihrer Sprache. Ich weiß nicht, ob sie mich sehen oder hören kann. Sie blickt in meine Richtung, zumindest bilde ich es mir ein.
„Tecihila! Ich liebe dich!“
Eine Faust trifft mich am Kinn und der Colonell sagt: „Du wirst nur mehr in einer zivilisierten Sprache reden.“
„Huka, ich fürchte mich nicht.“ Es ist eine Lüge, die Angst ist riesengroß.
Ich bekomme noch mehr Schläge und werde dann wieder gezwungen auf das Holobild zu sehen.
Lange quälen sie Stella und ich muss zusehen, ohne ihr beistehen zu können. Welche Art von Menschen sind das, die einem anderen so etwas antun?
Meine Schöne! Warum tun die dir das an?
Du hast in deinem ganzen Leben keiner Seele ein Leid getan. Ich weine mit dir mit und schreie immerzu: „Hört endlich auf! Lasst sie in Ruhe!“
„Du heulst wie ein Baby“, höhnt Lukas. „Jetzt weiß deine Schlampe einmal, wie es ist, von einem richtigen Mann genommen zu werden. Bei der heißen Braut würde auch gerne mal ran.“ Tobias lacht laut und schallend und tritt mir dann in die Eier. Das lässt mich abermals aufschreien.
Endlich ist es vorbei. Stella wird fortgebracht. Sie hängt nur noch zwischen den Soldaten, kann nicht stehen und gehen. Mitleidlos schleifen sie die Wachen fort
„Tecihila“, sage ich noch einmal leise.
Ich möchte wieder aufspringen, die Fesseln halten mich erbarmungslos fest. Der Soldat hinter mir zieht mich wieder an den Haaren bis mein Kopf ganz weit im Nacken liegt.
Lukas baut sich vor mir auf und zischt mich an: „Na, das war doch mal ein Augenöffner, oder? Was ist? Steht deine Entscheidung, oder willst du noch einmal etwas ändern?“
„Du hundsgemeines Arschloch“, bringe ich mühsam zwischen den Zähnen hervor. Der Griff am Kopf lockert sich und ich muss geradeaus sehen, genau in Lukas Gesicht. Ich nutze die Gelegenheit und spucke ihn an. Der schlägt mir daraufhin die Faust auf die Nase.
„Gut, wenn das deine Antwort ist, dann trag auch die Konsequenzen.“
Dann gibt er einen Befehl, den ich nicht verstehe. Sie machen mich los und bringen mich in einen anderen Raum. Dort werde ich an einen Deckenhaken festgebunden. Die Beine an den Knien und Sprunggelenken gefesselt. Ich kann gerade noch den Boden berühren.
‚Nein’, denke ich und beiße die Zähne fest aufeinander. Zu oft wurde ich in der Mine ausgepeitscht.
Warum lebe ich überhaupt noch? Das ist eine Frage, die mich immer wieder plagt und nicht zur Ruhe kommen lässt. Zu gerne wäre ich schon gestorben und hätte meinen Frieden gefunden. Während der ersten Schläge denke ich an Stella. Ich versuche nicht zu schreien. Aber als ich wie ein Pendel hin und her schwinge und von den Peitschenhieben getroffen werde, fange ich an zu brüllen.
„Tötet mich doch endlich!“, schreie ich, weil ich es nicht mehr aushalten kann.
Dann weiß ich nichts mehr.
Ich kann nicht mehr.
Irgendwann klatscht mir Eiswasser ins Gesicht. Es sticht wie tausend Nadeln in die Haut.
Ich schnappe nach Luft und schreie.
Noch immer hänge ich von der Decke und fühle das Blut über den Rücken laufen.
Lukas steht vor mir. Der Hass in seinen Augen lässt mich schaudern.
Warum hasst er mich so? Ich habe ihm doch nie etwas Schlechtes getan. Oder etwa doch? Habe ich es vergessen?
„Warum?“, keuche ich und schaffe es trotz der Erschöpfung den Kopf zu heben und in sein Gesicht zu schauen.
Ich fühle mich schuldig und elend, weil ich Stella nicht helfen konnte. Mit jedem Hieb hat sich die Schuld tiefer in mich gefressen.
„Warum?“, frage ich nochmals.
Ganz nah kommt er nun an mich ran. Ich fühle seinen warmen Atem auf der Wange. Dann flüstert ihr mir ins Ohr: „Damit die Familie von dir rein gewaschen ist, du elender Verräter. Du hast uns alle hintergangen: die Familie, den Planeten, die Armee – alle. Du und deine verdammten Ideen. An dir werde ich ein Exempel statuieren. Alle sollen sehen, dass sich umstürzlerisches Gerede nicht lohnt. – Seit du Stück Dreck auf der Welt bist, bist du mir im Weg.“
„Warum?“
„Du hättest entsorgt werden sollen, nur Vater wollte wissen, wie du dich entwickelst! Besser wäre es gewesen, wenn sie dich gleich auf den Müll geworfen hätten“, faucht er mir seinen Atem ins Gesicht. Ich kann ihn nur anstarren, habe alles vergessen. Nie hätte ich gedacht, dass sein Hass so tief geht und schon so lange andauert. Immer wieder genährt durch meine Anwesenheit und jetzt hat er dafür ein Ventil gefunden. Er darf mich nach Herzenslust quälen.
„Sie haben dich Mutter nur gelassen, weil die Ärzte herausfanden, dass du angeblich ein Super-Gen hast. Und ich schwöre dir, ich werde es aus dir rausprügeln, du Missgeburt!“
Wie von Sinnen schlägt er mit den Fäusten auf mich ein und nimmt dann die Peitsche. Immer wieder schlägt er damit auf mein Gesicht und meinen Oberkörper. Ich habe keine Kraft mehr, kann nicht einmal mehr schreien.
Endlich scheint seine Wut verraucht. Schwer atmend steht er vor mir. Ich kann nichts erkennen. Meine Augen sind zugeschwollen, Blut läuft mir übers Gesicht.
Ich fühle, wie er mein Kinn anhebt, mir ins Gesicht spuckt und schließlich sagt: „Für deine Tat wird jemand anders mit dem Leben bezahlen. Ich werde nicht zulassen, dass du mein Leben zerstörst!“
Er klingt verächtlich und seine Worte schneiden mir das Herz heraus. Sie dringen tiefer in die Haut, als die Peitschen es vermögen. Lukas dreht mir den Rücken zu und redet mit den Soldaten.
„Schafft mir das stinkende Stück Dreck aus den Augen.“ Seine Stimme ist eiskalt, als er sich noch einmal an mich wendet: „152.370 du hast keine Familie. Bald bist du ganz alleine auf der Welt.“
Es dauert etwas bis ich begreife, was er damit sagen will.
„Nein! Nicht Stella! Nicht sie! Nehmt mich und lasst sie gehen“, rufe ich, als sie mich zurück in die Zelle schleifen.
Mit einem harten Ton fällt die Tür ins Schloss. Ich werfe mich dagegen. „Nicht Stella!“
Dort breche ich zusammen und bleibe liegen. Ein nasser, blutiger Haufen Mensch, oder weniger als das. Sie werden Stella töten und ich muss weiter leben.
Schluchzend liege ich da, gekrümmt, geschunden – kein Mensch mehr.
Keine Zukunft, keine Vergangenheit.
Keine Familie – kein Leben.
Alles was bleibt sind Verzweiflung und ein abgrundtiefes Schuldgefühl. Ich merke wie sich Hass in mir breit macht. Seine Flamme wird noch durch Scham genährt, weil durch mich Stella leiden muss.
Mein Leben zieht an mir vorüber. Alle meine Taten als junger Pilot.
Ich war ein richtiger Draufgänger, mutig, gehorsam und zum Teil auch grausam. Die Fliegerei war mein Leben, Alles was ich mir erträumte, war ein Kommando, mit einem Raumschiff durchs All zu fliegen, die Galaxie zu erforschen. Aber ich war auch Soldat, das hemmte den Forscherdrang in mir. Ich war ein ausgesprochen guter Taktiker und hatte eine Nase für den richtigen Zeitpunkt. Außerdem waren bei Verhandlungen mit dem Gegner meine Sprachkenntnisse von Vorteil. Es ist immer besser mit den Leuten in ihrer Sprache zu sprechen, weil sie sich dann ernst genommen fühlen und leichter auf Forderungen eingehen.
Nach einem spektakulären Angriff, den ich geleitet hatte, wurde ich schließlich befördert. Ich war der jüngste Kapitän der Flotte und ich bildete mir viel darauf ein, obwohl ich dahinter kam, dass Vater maßgeblich an der Beförderung beteiligt gewesen war. Trotzdem behielt ich das Patent.
Vater war damals sehr stolz auf mich gewesen. Ich war sein ein und alles. Er lobte mich in den Himmel. Wenn ich mich jetzt daran erinnere, erkenne ich, wie unfair das Lukas gegenüber war, der sich immer alle erdenkliche Mühe gab und nie an meine Leistungen heran kam. Schon damals hatte er gegen mich intrigiert und versucht, mich bei Vater schlecht zu machen. Mutter hatte er bereits so weit, dass sie mich für ein Ungeheuer hielt. Wir hatten von Anfang an kein gutes Verhältnis zu einander, was wohl an den vielen Untersuchungen lag, die ich ständig über mich ergehen lassen musste. Auch sie wurde immer wieder befragt und untersucht, weil man sich meine Existenz nicht erklären konnte.
Ein Jahr lang kommandierte ich einen Angriffskreuzer. Ich führte alle Befehle bedenkenlos und kalt aus, bis ich Stella kennen lernte. Von da an dachte ich immer häufiger über die Sinnhaftigkeit so mancher Order nach. Ich legte nun einige nach meinem Willen aus und modifizierte die Durchführung. So konnte ich doch das eine oder andere Gemetzel verhindern oder weniger blutig ausgehen lassen.
Jetzt denke ich, dass sie damals begannen mich zu überwachen.
Ich hätte ganz auf die Karriere verzichten sollen, aber die Raumfahrt war meine Leidenschaft. Stella hatte sich nie wegen meiner häufigen Abwesenheiten beklagt. Die Zeit, die wir zusammen verbrachten, waren wir glücklich. Das war die Hauptsache.
Jetzt hat uns mein Egoismus ins Gefängnis gebracht.
Die Weite des Alls, die Sterne, das Gefühl der Freiheit. Ich werde es nie wieder erleben, nie wieder die Sterne sehen, Stella!
Nun bin ich hier, gefangen in der Gräue und den Gräueln dieser Welt.
Es wird kein Entkommen geben, weder für sie noch für mich.
Folter und Tod – etwas anderes dürfen wir nicht erwarten.
Ich beginne zu träumen, sehe Stella vor mir. Sie wirkt so real. Ich greife nach ihr, fasse ihre Hand. Sie lächelt mich an. Dann sagte sie: „Endlich, konnte ich zu dir kommen, Sevin. Sei nicht traurig, wenn ich gehe. Die Saat des Lichts ist gelegt, auch wenn wir die Ernte nicht mehr erleben werden.“ Sie lacht.
„Mein lieber Schatz, es tut mir alles so Leid“, sage ich und drücke sie fest an mich.
„Das braucht es nicht. Es ist nicht deine Schuld.“
„Wenn ich nicht gewesen wäre, hätten sie dich in Ruhe gelassen. Niemals hätten sie …“ Ich kann nicht weiterreden, könnte es nicht ertragen, wenn diese Sadisten Stella wieder weh getan hätten.
„Sie können mir nichts mehr tun. Sie haben mir nur dieses eine Mal Gewalt angetan. Ansonsten hatte ich nichts anderes als Einsamkeit zu ertragen.“
Sie lacht ihr glockenhelles Lachen.
„Ich werde versuchen so gelassen und ruhig zu sein wie du.“ Meine Stimme klingt heiser vor unterdrückten Tränen. Dann lasse ich sie laufen. Bei Stella fühle ich mich immer so frei und geborgen.
„Schau auf dich, Sevin. Ich werde versuchen, noch einmal zu dir zu kommen, bevor …“
Schnell verschließe ich ihren Mund mit einem Kuss. Ich will nicht, dass sie weiterredet, kann den Gedanken nicht ertragen, sie nicht mehr am Leben zu wissen. Die Qual ist auch in ihr Gesicht geschrieben.
„Tecihila“, flüstert sie, dann ist sie weg.
Ein lautes Geräusch lässt mich hochfahren.
Es ist mein Schrei.
„Stella!“
Tage, Wochen, ich weiß es nicht genau, verstreichen. In der Welt dort draußen vergeht die Zeit, hier steht sie still. Ich bin in einer Zeitblase gefangen. Ständiges Licht und die nervige Stille höhlen mich aus. Ich merke, wie mein Wille zu schwanken beginnt. Dann denke ich an Stella und fasse neuen Mut.
Wahnsinn! Es ist der pure Wahnsinn, was hier geschieht.
Oder bin ich wahnsinnig?
Ich bin in der Hölle.
Mein verdammtes Hirn – Gedanken formen eine Hölle.
Gedanken, die sich nicht denken lassen. Niemand ist da. Ich bin ganz alleine. Fühle mich aufgelöst. Einzig Schmerzen lassen mich spüren, dass ich bin.
Ich denke viel. Denke an Stella. O Stella, meine Blume.
Dann fühle ich eine eisige Faust im Magen als ich an jemand anders denken muss.
Vater! Der Gedanke daran lässt mich schaudern. Ich habe Angst, wenn ich dieses Wort denke.
Admiral. Vater und Admiral, das gehört zusammen. Ich zittere. Vater?
„Vater!“, rufe ich.
„Ist das dein Werk?“ Er hat mich schon vor Jahren verstoßen.
Ich weiß wieder wer Vater ist, sehe ihn vor mir. Mein Vater, der mich hochgehoben hat und dann fallen ließ.
Vater war es, der mir im Gerichtssaal gegenüber saß.
Vater, der mir kalt ins Gesicht sah und dann wortlos ging, als das Urteil gesprochen war.
Das Urteil – die Operation! Ich erinnere mich daran.
Ich will mich nicht daran erinnern! Nein! Geht wieder weg, Erinnerungen!
Doch ich sehe es ganz deutlich:
Ich wurde aus dem Gerichtssaal gezerrt. Fünf Soldaten waren nötig, um mich in den vorbereiteten Operationsbereich zu bringen. Trotz der Muskelschwäche wehrte ich mich nach Leibeskräften, schrie wie ein Wilder immer wieder meine Unschuld in die Welt hinaus.
Sie drückten mich auf eine Liege und fixierten mich darauf. Ich brüllte, als die Nummer in die Haut gebrannt wurde. Panisch war ich. Der Tod wäre mir lieber gewesen als diese Erniedrigung. Jemand gab mir eine Beruhigungsspritze und dann weiß ich nichts mehr, bis ich als Nummer 152.370 in einem schwülkalten Stollen zu mir kam.
Von da an war ich ein Sklave.
Pickel in den Fels schlagen.
Das hatte ich schon immer gemacht.
Erz aus dem Fels hämmern.
Trümmer wegkarren.
Peitschenhiebe.
Stumpfsinn.
Endlich verfliegt die Erinnerung. Schweißgebadet liege ich da, zittere am ganzen Körper. Die nicht verheilten Wunden machen mich verrückt. Es juckt und brennt. Ich kann nicht liegen, kann mich nicht richtig bewegen. Mein Gesicht ist völlig zerschlagen, die Augen sind zugeschwollen, sodass ich kaum sehen kann. Alles tut weh und am meisten die Seele.
Ich hoffe, nie wieder ausgepeitscht zu werden.
Sie benutzen Methoden aus der Zeit der Dunkelheit. Alle haben sie wiederentdeckt oder waren sie nie verloren?
Vater! Warum hasst du mich so? Stimmt es, was Lukas gesagt hat?
Bin ich nur das Abfallprodukt eines Experiments?
„Vater! Mutter! Ich bin doch euer Sohn!“
Die folgende Stille trieft vor Verzweiflung. Sie staut sich an der Decke und strömt auf mich zurück bis ich darin ertrinke.
„Was ist heute für ein Tag?“, frage ich mich.
Was ist Tag? Ist überhaupt Tag? Gibt es noch Tage?
Habt ihr mich vergessen? Ich bin so alleine. Verzweifelt.
Wo ist Stella? Liebe Stella.
Ich kann keinen Gedanken fassen, springe von einem zum nächsten.
Alles schwirrt im Kopf herum.
„Ich bin Sevin Libertas. Erster Offizier der Alpha-Star. Das bin ich. Sevin Libertas!“, rufe ich und trommle gegen die Metalltür, solange bis jemand kommt und mich mit einem Kübel Eiswasser übergießt. Der Schock lässt mich verstummen.
Ich zittere in der nassen Kleidung, rolle mich nackt auf der Pritsche zusammen und gebe mich der Verzweiflung hin.
Ich träume von Stella. Sie steht vor mir.
„Bald ist es soweit“, sagt sie sanft. Ich streiche ihr das Haar aus dem Gesicht. Sie wirkt so real, verletzlich, zart.
„Ich möchte nicht, dass du gehst“, sage ich.
„Das weiß ich, Sevin. Ich möchte es auch nicht.“
Sie weint. Ich nehme sie in den Arm, halte sie fest. Zusammen weinen wir.
Dann ist sie weg.
Einsam und verzweifelt erwache ich. Stella wird bald von mir gehen. Sie weiß es. Solche Sachen hat sie immer gewusst. Darum war sie auch Priesterin, oder weise Frau, bei ihrem, unserem, Volk. Ich habe Angst, ohne Stella weiter leben zu müssen.
Es ist alles gleich. Graue Wände, schwarze Handschuhe, die das Essen bringen.
Dann gibt es eine Veränderung. Es gibt neue Wachen.
Sie machen sich einen Spaß daraus, mich zu demütigen. Ich weiß nicht warum. In unregelmäßigen Abständen holen sie mich, ziehen mich aus und ich muss nackt auf Händen und Knien kriechen, durch den langen Gang zur Nasszelle, wo sie mich mit einem kalten Wasserstrahl abspritzen. Dann die gleiche Prozedur, nur nass, zurück. Dabei schlagen sie auf mich ein, treten mich, lachen mich aus, beschimpfen und bespucken mich.
Was ist mit diesen Leuten los?
Was habe ich Ihnen getan?
Ich bin unschuldig.
Bin ich es wirklich?
Ich weiß es nicht mehr.
Sie sollen mich endlich in Ruhe lassen, diese verdammten Wächter.
Sind hier nur Sadisten?
Dann bin ich wieder lange Zeit alleine. Sehe Stella vor mir und die Weite des Alls mit seiner gefährlichen Schönheit.
Stella! Sie lässt mich diese Demütigungen ertragen. Ihr Bild habe ich vor Augen, wenn sich mich durch die Gänge treiben oder Schlimmeres mit mir anstellen, an das ich nicht denken mag.
Stella lässt mich weiter den Kopf hoch tragen.
Ich versuche in dem allgemeinen Wahnsinn den Verstand zu behalten. Deshalb habe ich mir ein Programm verordnet. Weil sie in meiner Zelle das Licht nie ausmachen, kann ich nicht sagen, ob Tag oder Nacht ist. Aber ich teile den Zyklus, ich nenne es weiter so, in Abschnitte ein. Den Abschnitt vor der Essensausgabe verbringe ich mit Kräftigungs- und Dehnungsübungen. Nach dem Essen zwinge ich mich zu ruhen, dabei zähle ich in allen mir bekannten Sprachen bis hundert, dabei schlafe ich dann meistens ein.
Diesen Übungen machen mir bewusst, wie viele Sprachen ich beherrsche. Ich komme auf zehn Sprachen und einige Dialekte. Wenn ich erwache, mache ich wieder meine sportlichen Übungen. Ich darf mich nicht gehen lassen, sonst drehe ich durch.
Am Anfang war es hart. Ich dachte, die verheilenden Wunden und die dicken Narben brechen wieder auf. Es tat weh – aber noch mehr schmerzen die Gedanken an Stella, dass ich sie nicht trösten kann, nicht beschützen.
„Du hast auf ganzer Linie versagt“, sage ich immer wieder, in jeder mir bekannten Sprache.
Ich habe panische Angst als mich Soldaten abholen. Ich denke, sie werden mich wieder zur Schau stellen, mich weiter demütigen. Sie zerren mich in die Nasszelle und verwenden die gleichen Methoden zur Reinigung wie die Wächter.
Teilnahmslos lasse ich die Entlausung mit anschließender Desinfektion über mich ergehen. Das andorische Volk ist paranoid was Krankheitserreger angeht.
Mit kahlem Kopf und frischer Kleidung werde ich abgeführt. Eskortiert von fünf Soldaten.
Die Welt außerhalb des Gefängnisses erschreckt mich.
Es ist so laut und grell und kalt.
Die Menschen sind kalt, aber das war mir schon früher aufgefallen.
Sie stellen mich in einen Transporter. Rechts und links von mir Soldaten. Dann geht alles schnell. In wenigen Sekunden befinde ich mich an einem anderen Ort.
Ich brauche Zeit, um mich zu orientieren. Molekulartransporter verursachen Orientierungsstörungen und Schwindel.
Warum ist hier alles so grau?
Ich frage mich, wo die Wärme hin ist.
Das Licht? Die Farben? Die Liebe?
Ist diese Welt in grau und Angst verschwunden?
Überdeckt der Gehorsam die Freiheit?
Der Hass die Liebe?
Hat es das hier einst gegeben?
Dann habe ich keine Zeit mehr für Gedanken. Sie packen mich und zerren mich weg. In einem großen kalten Verhörraum werde ich in eine Vorrichtung geschnallt, die es mir nicht erlaubt, mit den Füßen den Boden zu berühren. Dann lassen sie mich alleine. Ich merke, wie die Angst wieder hochkommt. Gänsehaut bedeckt mich, die Kopfhaut prickelt, eisige Schauer jagen über den kaputten Rücken. Ich kann ein Stöhnen nicht unterdrücken.
Es vergeht einige Zeit in der ich mich immer wieder frage was geschehen wird, ob sie mich wieder foltern oder endlich doch töten werden.
Plötzlich treten mehrere Soldaten ein, sie bilden so etwas wie eine Ehrenwache.
‚Es muss ein hochrangiger Militär kommen’, folgere ich. Um mich von der Angst abzulenken betrachte ich ihre Uniformen und ihre unbeteiligten starren Gesichter. Alles junge hochgewachsene Andorier, sehr hellhäutig. Einer sieht aus wie der andere.
Dann tritt ein Admiral ein. Leider kenne ich den zu gut, um Hoffnung auf einen raschen Tod zu haben. Bedrohlich baut er sich vor mir auf.
Mir kommen die Tränen, als ich an meine Kinderzeit denke. Er war nicht oft zuhause, aber wenn er da war, hat er immer Geschichten erzählt. Ich war einmal sein jüngeres Spiegelbild, sein ganzer Stolz.
Jetzt bin ich seine Schande.
„Vater“, flüstere ich, schlucke und kann ein Schluchzen nicht zurück halten. Wegen dieses einen Worts werde ich mit dem Stock geschlagen.
„Schweig! 152.370, du kennst alle Anklagepunkte. Wegen deiner Tat in den Minen hat das Gericht beschlossen, deine Anklage neu zu verhandeln und dir die Möglichkeit zu geben zu revidieren. Wie ist deine Antwort?“
„Wenn ich mich schuldig bekenne, lasst ihr dann Stella frei?“
„Nein, ihr Urteil steht fest“, antwortet er hart.
Ich schlucke die Tränen runter und sage mit belegter Stimme: „Nicht schuldig.“
Er schlägt mir hart ins Gesicht.
„Dann werden wir dich weiter befragen müssen.“
„Ich bin Sevin, dein Sohn“, sage ich stur. Wieder werde ich mit dem Stock geschlagen.
„Ich habe keinen Sohn mit diesem Namen!“
Er wendet sich an die Soldaten und sagt: „Bringt das da zum Exekutionsplatz.“
Einen Moment habe ich die irre Hoffnung, sie würden mich nun endlich töten. Doch Vater hat mit mir noch nie Gnade gekannt oder gar Verständnis. Sie bringen mich auf eine Tribüne. Fixieren mich erneut. Ich kann viele Leute auf dem Platz sehen. Einige sind wahrscheinlich freiwillig hier, andere wurden hergetrieben. So läuft es immer, die Veranstaltung muss ausverkauft sein – selbst mit Drohungen.
Dann tritt der Admiral vor, an seiner Seite ein Magistrat. Ich weiß nicht welcher es ist. Es interessiert mich auch nicht. Die Sonne blendet mich, als Stella herausgeführt wird. Sie sieht verzweifelt schön aus. Kurz blickt sie zur Tribüne. Sie erkennt mich, weil sie lächelt.
„Huka! Tecihila!“, ruft sie.
Ich erwidere den Ruf. „Auch ich habe keine Angst! Tecihila, Stella!“
Sie führen sie an die Tötungsmaschine.
Ihre letzten Worte sind: „Freiheit! Sevin! Es lohnt sich, der Preis ist nicht zu hoch!“
„Warum tötet ihr mich nicht auch!“, brülle ich. „Bringt mich doch endlich um! Das könnt ihr doch am Besten, Unschuldige töten!“
Der Admiral wendet sich mir zu: „Du wirst weiterleben und vergessen werden.“
Als Stella zusammen bricht, fallen zahlreiche weiße Blätter vom Himmel. Einer fällt direkt auf mich. Ich kann erkennen, was darauf steht: „Freiheit“
Unser Name! Stella Libertas!
Ich rufe: „Freiheit!“ Immer wieder.
Ich will nicht daran denken, dass dort unten gerade Stella von mir gegangen ist.
Vater! Mörder!
Nur mühsam gelingt es mir, die Haltung zu bewahren. Am liebsten hätte ich jetzt laut losgeheult, stattdessen rufe ich weiter: „Freiheit! Stella Libertas!“
In Gedanken fliege ich mit ihr zu den Sternen.
Ich möchte sterben, bei ihr sein.
„Schweig!“, ruft ein Soldat und schlägt mit dem Stock auf mich ein. Ich bin augenblicklich still, schnappe nach Luft. Der Admiral zischt mich an: „Du wirst vergessen werden, genauso wie eure Bewegung.“
„Nein, Vater“, sage ich, als ich wieder Luft zum Reden habe. „Wir werden nicht vergessen werden. Auch wenn du uns tötest oder wegsperrst, wird der Gedanke an Freiheit weiter leben. Er wird nie vergessen. Huka!“
Vater lässt seine Wut über diese Worte und die offene Provokation durch die Flugblätter an den Zuschauern aus. Die Soldaten haben Befehl die Menge aufzulösen. Was das bedeutet weiß ich, und ich bedaure etwas gesagt zu haben. Jetzt werden wieder Unschuldige wegen mir leiden müssen.
Sie führen mich ab und stellen mich an den Pranger, wo sie mich neuerlich auspeitschen. Vater überwacht die Ausführung höchst persönlich und zählt die Hiebe. Irgendwann bei zweihundert bekomme ich nichts mehr mit.
Ich verstehe nicht, warum ich das immer wieder überlebe. Entweder sie hören jedes Mal zur richtigen Zeit auf, oder ich habe einen stärkeren Lebenswillen, als mir bewusst ist.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon weggesperrt bin. Es ist immer gleich. Das gleiche Licht, das gleiche Grau, die gleiche Zeit.
Meine Übungen vernachlässige ich.
Es hat keinen Zweck.
Mit Stellas Tod ist auch mein Lebenswille gestorben.
Der Kummer übermannt mich. Ich liege nur noch zusammen gerollt auf der Pritsche und weine.
Sie haben mich doch gebrochen.
Aber wo führt mich das hin?
Ich vegetiere weiterhin in Einzelhaft, werde weder verhört noch sonst etwas. Keine Menschenseele lässt sich blicken, ich sehe nur die schwarzen Handschuhe, die die Tagesration in die Zelle schieben.
Trauer und Zorn sind übermächtig in mir. Ich nehme ein Tablett und knalle es gegen die Tür. Es bildet hässliche grüne Streifen auf dem grauen Metall.
Ich schreie so laut, dass ich würgen muss und mich übergebe.
In der Zelle stinkt es erbärmlich von den Essensresten an der Tür und dem Erbrochenem.
Schließlich verweigere ich die Nahrung. Ich liege nur mehr auf der Pritsche und starre vor mich hin, denke nichts und versuche zu sterben.
Sie lassen mich nicht!
Sie zwingen mich zu leben!
Nun liege ich festgeschnallt auf der Liege und werde mittels Nasensonde ernährt.
Still weine ich vor mich hin.
„Ich will zu dir, Stella“, flüstere ich resigniert.
Er hat mir alles genommen: mein Leben, meine Liebe, meine Identität, meine Selbstbestimmung, dieser Mörder!
„Vater!“