Ein neuer Morgen
Ich will das nicht!...Verdammt!...Ich hab keine Lust!...Wir sind hier in der Schule.„Hör auf!...Hier haben wir’s noch nie getan!...Ich muss nach Hause!...Bitte...!“
War ja klar, er hört nicht, stattdessen, tut er was er will. Ich spüre seine Zunge in meinen Mund dringen.
Verdammt!...Was soll ich tun? Ich will weg!...
Vorsichtig öffne ich die Augen und schaue mich im Klassenzimmer um. Ich sehe sein Kopf nicht mehr. Er ist zwischen meinen Schenkeln verschwunden. Ich verspüre keine Lust! Nada! Warum liege ich hier? Warum lasse ich mir das von ihm gefallen? Nur weil er meine Hausaufgaben macht?
Nur weil ich ihn mal süß fand? Ich weiß ja nicht einmal mehr den Grund, warum wir zusammen sind, oder wie wir zusammen gekommen sind, obwohl wir schon 3 Jahre zusammen sind. Lieben tu ich ihn auch nicht.
Tränen treten in meine Augen und kullern mir die Wange hinunter. Immer noch in meinen Gedanken, geht plötzlich die Türe auf. Noch bevor mir klar wird, was passiert ist, geht sie mit einem lauten Knall wieder zu.
Philipp lässt die Finger von mir. Eigentlich sollte ich jetzt erleichtert sein, doch ich bin immer noch damit beschäftigt, zu verstehen, was gerade passiert ist.
„Nicht aufregen, er hat dich sicherlich nicht erkannt!“
Was? Wie kann er so etwas sagen?
Er hat ja zwischen meinen Schenkeln gesteckt, ihn hat man ja sicherlich nicht gesehen.
Verdammt. Wer war das? Und warum musste ich auch noch meinen Kopf zur Tür drehen, als diese aufging?
Shit! War das jemand aus meiner Klasse? Einer aus der Oberstufe? Ein Junge war’s, ja, da bin ich mir sicher! Aber wer?
Was hat er gesehen? Wen hat er gesehen? Hat er mich erkannt? Sicher hat er das! Ich habe mich ja umgedreht. Ich hätte mich gegen Philipp wehren sollen! Hätte ihn wegstoßen sollen und wegrennen sollen...
„Soll nicht wieder vorkommen! Ehrlich!“
Ruckartig drehe ich mich zu ihm um.
„Ach ja? Kommt das nicht ein kleines bisschen zu spät? Du bist ja fein raus! Dich hat er ja nicht gesehen! Du warst in dem Moment ja noch zwischen meinen Schenkeln!“
„Es tut mir leid...Ich verspreche dir, egal was passiert, ich bin auf deiner Seite!“
Okay...keiner schaut mich schräg an. Das ist gut. Vielleicht, hat der mich ja doch nicht erkannt und ich hab mir einfach nur so Gedanken gemacht...
„Ich hab’s gesehen!“
Was? Erschrocken fahre ich herum.
Laura steht vor mir.
„Was...Was hast du gesehen?“
Na komm, sag schon....
„Die Reportage kam im Fernsehen...du auch?“
O mein Gott...die Reportage über Jack the Ripper…
„Ne, ging nicht.“
Laura im Arm gehe ich langsam in mein Klassenzimmer.
Ich stoße die Klassentür auf und bleibe vor Schreck stehen. An der Tafel steht in Großbuchstaben:
„DEA SKLAD IST EINE SCHLAMPE, DIE ES MIT JEDEM TREIBT!“
Und darunter ist noch ein gemaltes Bild, in eindeutiger Position...
Laura schnellt zur Tafel und wischt die Sauerei weg.
„Über so was macht man keine Scherze!“
„Mach ich auch nicht...Ich hab dich gesehen, im Klassenzimmer, voll widerlich...“
Mein Atem stockt.
Laura wendet sich zu mir und schaut mich unglaublich an.
„Mach’s doch mal vor Kai!“, kommt es aus den hinteren Reihen.
Kai geht zum Pult, legt sich hin und streckt die Beine in die Luft, ein anderer Junge kniet sich zu ihm und streckt die Zunge aus. Beide machen lustvolle Gesichter!
Idioten! Miese Dreckschweine! Hört auf...Bitte hört auf...
Gerade als sich die Tränen bei mir ankündigen, kommt der Lehrer. Mit großer Mühe kann ich die Tränen zurückhalten und gehe langsam zu meinem Platz. Alle Blicke sind auf mich gerichtet.
Zum Glück hat diese Schule nur Einzeltische. Herr Entchen beginnt mit seinem Unterricht. Ich schließe die Augen, denn ich weiß, dass alle mich anstarren. Am liebsten wäre ich nicht hier. Am liebsten würde ich alles ungeschehen machen.
Es klingelt... Schon vorbei? Das ging schnell...bin ich etwa eingeschlafen?
Na egal...Ich geh auf Laura zu, doch sie ignoriert mich. Die ganze Clique sitzt da und würdigt mich keines Blickes.
„Leute...“
Vergebens...
Ich muss auf Toilette, meine Beruhigungstabletten einnehmen. Der Korridor ist lang und bis zur Toilette werde ich schief angesehen, höre sie über mich lästern und über mich lachen. Schnell flüchte ich mich in eine Kabine.
„Hast du es auch gehört?“
„Natürlich! Die Schule spricht doch von nichts anderem mehr.“
„Aber wer war der Typ mit dem sie es getrieben hat?“
Ich horche auf...
„Nicht ihr Freund...äh...Philipp?“
„Nee, der ist ja in meiner Klasse und er hat gesagt, dass er es mit Sicherheit nicht war!“
„Absurd! Echt! Sie ist erst in der 9ten Klasse und hat schon den schlechtesten Ruf an der Schule!“
...Stille...
Wie??
Er war’s nicht? Das hat er gesagt? Aber nein, sicherlich hat sich das Mädchen getäuscht! Sie ist bestimmt eine Lästertante, die einem die Wörter im Mund verdreht. Mit Sicherheit! Oder? Obwohl...warum sollte er das zugeben? So ist er doch fein raus aus der Sache.
Arschloch.
„Was ist?“
„Was los ist? Warum sagst du zu jedem, das du es nicht warst?“
Stille..
„Sag was du dreckiges Miststück!“
Stille...
„Du willst dich wohl fein raushalten wie?? Aber das lass ich nicht zu!“
Er tritt einen Schritt näher.
„Hör zu...Wie du hörst und siehst, hat mich der Typ nicht gesehen. Denkst du, du bist mir so viel wert, das ich jetzt zugebe, das ich mit dir im Klassenzimmer gebumst hab? Ne...Ich bin da fein raus, auf jeden Fall! Und daran kannst du auch nichts ändern. Und übrigens, ich mache Schluss.“
Mist...Wie war das noch mal mit den Wurzeln? Ich muss mich mal wieder auf die Schule konzentrieren.
Es ist nun eine Woche her mit der Geschichte.
Heute Morgen ist Laura zu mir hergekommen und hat mir ein 5-Euroschein aufs Pult gelegt.
„Geh Kondome kaufen!“
...Stille...
„Na komm schon, oder ich werde dich für den Rest deines Lebens schikanieren.“
Na toll.... Das hat mir hier noch gefehlt... Als ob es nicht genügt, das sie mich auslachen und verspotten.
Zum Glück ist ein „Tante Emma-Laden“ um die Ecke.
Als ich zurückkam, nahm sie die Kondome an sich, machte die Packung auf, trat zu mir heran und schüttete den Inhalt über mich.
Ich nahm es still hin. Gestern war es ja auch nicht besser, als sie mich nach Sport festhielten, auszogen, und mit schwarzem Filzstift bemalten.
Oder vorgestern, als sie mein Handy ins Klo fielen ließen und meinen Kopf ins Klo steckten, damit ich es mit den Zähnen wieder hoch holen konnte.
Ich bin ein selbstbewusstes Mädchen.
Oder war ich das? Wenn jemand zu mir kommen würde, und mir diese Geschichte erzählen würde, dann würde ich ihr raten mit jemanden darüber zu sprechen.
Doch ich kann meinen eigenen Rat nicht befolgen. Mit wem soll ich reden?
Mit den Lehrern? Auf keinen Fall...Bevor sich die ganze Situation noch mehr verschlechtert.
Mit meinen Eltern? Die würden mich nicht verstehen und mir nicht mal zuhören. Im Gegensatz zu all den anderen, die einfach nur unglücklich verliebt sind, kann ich nicht über mein Problem sprechen!
Mit wem? Wem soll ich anvertrauen, dass ich ein Problem mit dem Sex hatte und habe?
Wem soll ich anvertrauen, dass ich gemobbt werde?
Wem soll ich anvertrauen, dass ich Magendarmtabletten nehme, um mich und meinen Magen zu beruhigen?
Wem soll ich anvertrauen, dass ich mich nachts mit Schlaftabletten voll pumpe um ein paar ruhige Minuten schlafen zu können?
Wem verdammt, soll ich das alles erzählen?
Wer würde mir überhaupt zuhören? Die Telefonseelensorge? Ach Unsinn... Irgendwelche Irrsinnige, die mir nur raten würden, mit Lehrern oder meinen Eltern über das Problem zu sprechen... Als wäre ich noch nicht selbst auf den Gedanken gekommen.
Ich gehe nicht mehr zur Schule. Seit 2 Monaten nicht mehr. Jedes Mal, wenn ich durch die Haustür gehe, liege ich Sekunden später im Erbrochenen.
Ich verschanze mich schon seit 2 Monaten in meinem Zimmer. Ab und zu versuche ich zu lernen.
Vor etwa 2 Wochen, als es mir etwas besser ging, habe ich mein Zimmer aufgeräumt und auf Hochglanz gebracht.
Dabei habe ich eine Kiste voller Gedichte entdeckt. Es waren meine. Meine eigenen. Nicht von Schiller, nicht von Goethe. Sondern von mir.
Ich habe sie alle durchgelesen und in mir ist wieder so etwas wie Glückseligkeit aufgekeimt.
Ich bin immer noch dabei, sie alle zu sortieren und in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen.
Auch fand ich auf alten CDs Bilder von meinen Tanzauftritten.
Ich hatte ganz vergessen, was ich mochte.
Früher bestand mein Leben nur aus tanzen und Gedichten. Bis ich das alles vergaß und mir einbildete, das Laura nun mein Leben sei und ich mich auf wichtigeres konzentrieren müsse.
Und nun...Nun ist Laura nicht mehr da.
Wenn meine Eltern nicht da sind, drehe ich die Musik auf und tanze. Ich schwebe so richtig. Was für ein Gefühl. Lange war ich nicht mehr so glücklich....
Es klingelt....
Da ich weiß, dass niemand da ist, geh ich zur Tür und schau in den Türspion.
Verdammt.....
Was macht Herr Entchen hier?
Mist! Nur keinen Mucks von sich geben.
Still sitze ich hinter der Tür. Ein Brief wird nach langem Warten unter der Tür durch geschoben.
Ich nehme ihn an mich und auf dem Umschlag steht mein Name.
Zitternd öffne ich den Brief, hole ein rosa Papier heraus. Und in der Mitte des Zettels steht: „SORRY!... Dea wir vermissen dich, es tut uns leid, was wir dir angetan haben. Das dein Tisch nun leer steht, macht uns traurig!“
Und jedermann Unterschrift ist noch auf den Zettel zu finden.
Kann das wahr sein?
Sie...sie entschuldigen sich und wollen, das ich wieder zurückkomme? Wirklich? Ist das wahr?
„Dea...du gehst zur Schule?“
Mama stand in der Tür...
„Ja Mama, es wird mal wieder Zeit findest du nicht auch?“
Ich weiß dass meine Mutter jetzt am liebsten Luftsprünge machen will, doch sie hält sich zurück.
Auf dem Weg zur Schule halte ich den Brief fest in der Hand, er ist mein Glücksbringer.
Als ich durch die Korridore laufe, schaut mich niemand schräg an, nur ein paar schiefe Blicke hier und da.
Ist das echt alles schon Geschichte? Alles vorbei? Aus?
Zackig öffne ich die Tür zu meinem Klassenzimmer und alle Blicke landen prompt auf mir.
„Gu..Guten..Guten Morgen!“
Und plötzlich fangen sie an zu lachen...Laut...
„Mein Gott wie naiv!“
„Denkt die echt, der Brief war ernst gemeint?“
„Die kommt tatsächlich!“
„Wahrscheinlich kann sie ohne uns nicht leben!“
„Dich braucht niemand.“
Erstarrt schaue ich zu meinem Tisch.
... „Das dein Tisch leer ist, macht uns traurig!“ …
Von wegen! Mein Tisch wurde umgedreht und jetzt stehen die Mülleimer und etc...darauf.
Ich drehe mich auf dem Absatz um und renne. Renne als wäre der Teufel hinter mir her.
Ich war so glücklich...Ich dachte, sie hätten alles vergessen und würden mich jetzt wieder mögen. Ich dachte der Brief war ernst gemeint. Ich dachte...
Meine Tränen fliegen mit dem Wind... Ihr Schweine! Verreckt! Alle!
Ich halte kurz an und hole meine Magendarmtabletten. Ich schütte den ganzen Inhalt in mich und kaue wie verrückt.
Entschlossen und festen Schrittes gehe ich nach Hause, in die Küche, zur Schublade.
Ich ziehe ein großes Messer heraus und hole mit beiden Händen aus, als ich eine plötzlich feste Ohrfeige auf meinen Backen spüre, im nächsten Moment wird mir das Messer aus der Hand gerissen.
„Mama...sie haben mich betrogen! Mama sie mobben mich.“
Langsam sinke ich zu Boden und drücke meiner Mutter den Brief in die Hand.
Ich hab immer gedacht, dass mir so was niemals passieren könnte.
Habe die Mädchen im Fernsehen belächelt und bemitleidet, die davon berichtet haben... vom Abgrund des Lebens.
Nund verstehe ich sie und ihre Ängste.
Alle wollen, dass ich verschwinde, untertauche und nie wieder auftauche.
Wenn ich mich umschaue, sehe ich nur Nacht. Dunkelheit um mich herum.
...immer nur schwarze Wolken....
...immer nur zuckende Blitze...
keine Sterne, die mir ein Fünkchen Hoffnung leuchten....
Mein Leben ist eine Nacht, die nie endet.
Eine Nacht die mich verschluckt und nicht loslassen will.
Wenn doch nur langsam, die Sonne herauskommen würde....
Die Nacht vertreiben würde... und mir einen wunderschönen, neuen wolkenlosen Morgen bringen würde...
Wenn sie nur....