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Ein Kulturbeutel voller Leben

**********silon
6.651 Beiträge
Themenersteller 
Ein Kulturbeutel voller Leben
Fotos hatten damals einen anderen Stellenwert als heute, glaube ich. Es gab sie nicht wie den Sand am Meer und auch die verwackelten Abzüge galten nicht als missratene Erinnerungen, sondern als etwas, was für den einen oder anderen aufhebungswürdig gewesen war.
Denn nur die wenigsten hatten eine Kamera und mussten, wenn dann, einen Freund, Bekannten oder gar einen Fotografen bemühen, der sich ihres Wollens annehmen sollte und den lebendigen Augenblick auf Zelluloid bannen konnte.

Und selbst heute, vor allem wenn man nur wenige klare Rückblicke an ein Damals besitzt, dass noch vor einem selbst existierte, sind solcherlei Einblicke wertvoll. Denn die Menschen, die davon zeugen können, sind irgendwann nicht mehr und können dann nicht mehr erzählen. Oder sie haben selbst nur noch verschwommene Einblicke in das Damals oder wollen vielleicht auch nicht erzählen, weil es zu schmerzlich ist?

Und wenn ich das so bedenke, betrachte ich diese Aufnahmen mit anderen Augen. Ich habe sie hier vor mir liegen. Ein kleines Häufchen, das in einem vergilbten Kulturbeutel der fünfziger oder sechziger oder vielleicht auch siebziger Jahre geruht hat und irgendwann dieser heutigen Tage auf Umwegen zu mir gelangt ist.
Der Enkelin, die nun der Enkel ist und sich an so viele Dinge aus der eigenen Kindheit nicht mehr aktiv erinnern kann. Auch nicht mehr an die Inhalte der feuchtfröhlich redseligen Abende der Erwachsenen, die damals um den Küchentisch der Mutter der Familie gesessen sind, um das: „Weißt du noch, als wir damals …?“ oder „Erinnerst du dich noch an?“ zu feiern.

Nein, ich weiß nicht mehr so genau, wie das damals gewesen ist, als ich weinend am Gitter meines Kinderbettchens gestanden bin und mein Großvater mich verschlafen und unbeholfen zu trösten versuchte, weil der ganze Rest noch auf dem Heimweg vom geselligen Umtrunk in der Kneipe gewesen ist.
Und mir ist auch entfallen, dass ich immer mit großem Respekt genau in der Mitte des Mittelganges im Stall gelaufen bin, weil die Kühe und Schweine mir immer als zu groß erschienen sind.
Aber ich weiß noch, dass meine Großmutter ganz aufgelöst war, als wir eines Nachmittages nach einer gefühlten Weltreise in ihrer Wohnküche angekommen waren und sie uns zeigte, wie die Jungbullen im Stall randaliert hatten, bevor sie am Morgen vom Schlachter abgeholt worden waren, weil sie der Großmutter über den Kopf gewachsen waren, so als ob sie geahnt hatten, dass der Mann im Hause schon eine Weile nicht mehr gelebt hatte.

Das Wiesental in Westpommern ist mir fremd, der Ort, an dem ich gefühlt meine halbe Kindheit verbracht habe in Mecklenburg der DDR, allerdings auch. Dort bin ich seit fast sechsundzwanzig Jahren nicht mehr gewesen.

Ein abgeblättertes Holzbötchen mit den Fotos meiner Kindertage ist mir geblieben und jetzt eben auch der vergilbte Kulturbeutel meiner Großmutter. Fotos verblichener Menschen und deren Ereignisse. Blitzlichter an Erinnerungen und die Erzählungen anderer in meiner Familie.
Die Alten von damals sind längst verstorben, und die damals jungen Erwachsenen sind jetzt so alt, dass auch sie wohl bald gehen werden. Bleibt noch die Möglichkeit, die verbliebenen Jungen von Gestern zu fragen, wie die Alten von Damals so gewesen sind und was dazwischen passiert ist, an das so mancher von ihnen sich nicht mehr erinnert.

Eine Chance, die melancholisch in meinem Gemüt verbleibt. Es ist der sechste November dieses Jahres, und niemand kann mir sagen, wie lange die Sonne heute noch scheint ...

© CRSK, BS, 11/2022

Kulturbeutel
*****e_M Frau
8.537 Beiträge
Meine Erfahrung sagt, soviel wie möglich fragen und herausfinden, denn ich selbst stehe immer wieder vor jetzt unlösbaren Fragen, wie z.B. was verschlug Uronkel L. nach Suriname und wieso konnte er literarisch schreiben? Wer hat es ihm beigebracht ohne grossartige Schulbildung.

Toller Text @**********silon

Danke Dir!
**********gosto Frau
16.056 Beiträge
Sehr eindrücklich geschrieben, lieber @**********silon! Ich selbst vermeide, mich an früher zu erinnern, und versuche, ganz im Jetzt zu leben. Aber ich kann deine Gedankengänge sehr gut nachvollziehen.
Für mich ist die Erinnerung zu schmerzhaft, als dass ich sie durch das Betrachten alter Fotos wiederbeleben wollen würde.
Respekt für deine Entdeckungsreisen in die Vergangenheit! *roseschenk*
******eld Mann
2.191 Beiträge
Ich mag diese alten Fotos total gerne.
Vor kurzem bin ich bei FB in die Gruppe "Das alte Cuxhaven in Farbe" eingetreten.
Dort werden nicht nur alte Fotos eingestellt und dann erzählen andere, welche Erinnerungen sie damit verbinden. Es werden auch Recherchen betrieben oder über städtebauliche Veränderungen diskutiert.
Und es werden alte Schwarz-Weiß-Fotos koloriert. Total toll.

Auf dem Foto bin ich mit meiner Mutter und meinem Bruder an der Cuxhavener Bucht.
Die Seebäderbrücke hinter uns gibt es heute nicht mehr.
1965
**********silon
6.651 Beiträge
Themenersteller 
@*******_HB

Toll. Da bekomme ich richtig ne Gänsehaut. Echt ... Bist du der ältere oder der jüngere auf dem Bild? Und ja, ich finde das wichtig. Das ist gelebte Geschichte. Die besten Zeitzeugen sind unsere Angehörigen, sage ich immer wieder. *g*

@**********gosto

Das ist schade, aber durchaus verständlich. Meine Kindheitserinnerungen sind teilweise auch schwierig und vermutlich deshalb auch von meinem Gehirn total eingefärbt. Aber dennoch: Wie soll ich irgendwann wirklich meinen Frieden mit mir und dem Drumherum machen, wenn ich nicht weiß, wo ich herkomme, wo meine Wurzeln sind?
******eld Mann
2.191 Beiträge
Ich bin der Zwerg.
Hier noch ein Foto aus dem Winter 65 mit meinem anderen Bruder.
Die beiden waren nur 11 Monate auseinander. Ich kam dann 16 Jahre später noch dazu.
Damals waren Winter noch Winter.
*schneeball*
Ich bin der Zwerg auf dem Schlitten.
******eld Mann
2.191 Beiträge
Damals fuhr man noch mit dem Fahrrad auf ungeräumten Straßen.
Wahnsinn.
Solche Fahrräder gibt es gar nicht mehr. *zwinker*
**********silon
6.651 Beiträge
Themenersteller 
*g* 65 war ich noch quark im schaufenster. *traenenlach*
******eld Mann
2.191 Beiträge
Ein passendes Stück Musik dazu ...


Das ist vielleicht der Nachteil der Bilderflut, die uns heute überrollt: Das einzelne Bild verliert an Bedeutung. Und beim Fotografieren sucht man nicht mehr den besonderen Moment, sondern knipst einfach drauf los, ist ja egal, man hat keinen teuren Film, muss nicht entwickeln, und so versinken die Momente in der Belanglosigkeit. Ich frage mich, wer all diese von heute in 30, 50 Jahren mal anschaut? Wenn die Technik dafür noch existiert? Die wenigen Bilder "von früher" sind einem lieb und beschwören Erinnerungen und Vergangenheit herauf, die vielen auf den Hands und überall... werden einfach gelöscht.
**********silon
6.651 Beiträge
Themenersteller 
Da gebe ich dir @****one unumstößlich recht. Wobei ich die meisten meiner digitalen Fotgrafien tatsächlich geordnet archiviere und auf meiner tragbaren Festplatte aufhebe. Vor allem die Dokumentationen meiner künstlerischen Arbeiten, die nicht digitaler Natur sind.
@**********silon Ich handhabe das ähnlich. Nutze die digitale Kamera für doku und fotografische Notizen. Künstlerische Fotografie mache ich aber (meistens) mit meiner analogen Spiegelreflex. Vor allen wenn ich schwarzweiß fotografiere, dann auch entwickeln und Vergrößern. Das Handwerkliche daran erlaubt einem noch einen anderen Zugang und Konzentration.
**********silon
6.651 Beiträge
Themenersteller 
Ja, das stimmt bestimmt. Gut, wer noch analog unterwegs ist. Ich bin nur mit einer digitalen Systemkamera ausgestattet und mit meinem Schmändie. Ich ich mach auch meist mit ausgewählten Aufnahmen auch noch weiter in den digitalen Ausdrucksmöglichkeiten. Hab hier ja auch schon einige Composings dieser Art zu verschiedenen Texten gezeigt, und manchmal fließt dann auch noch analoge Zeichnerei oder digitale mit hinein. Je nach dem ... ^^
**********silon
6.651 Beiträge
Themenersteller 
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