Ein Kulturbeutel voller Leben
Fotos hatten damals einen anderen Stellenwert als heute, glaube ich. Es gab sie nicht wie den Sand am Meer und auch die verwackelten Abzüge galten nicht als missratene Erinnerungen, sondern als etwas, was für den einen oder anderen aufhebungswürdig gewesen war. Denn nur die wenigsten hatten eine Kamera und mussten, wenn dann, einen Freund, Bekannten oder gar einen Fotografen bemühen, der sich ihres Wollens annehmen sollte und den lebendigen Augenblick auf Zelluloid bannen konnte.
Und selbst heute, vor allem wenn man nur wenige klare Rückblicke an ein Damals besitzt, dass noch vor einem selbst existierte, sind solcherlei Einblicke wertvoll. Denn die Menschen, die davon zeugen können, sind irgendwann nicht mehr und können dann nicht mehr erzählen. Oder sie haben selbst nur noch verschwommene Einblicke in das Damals oder wollen vielleicht auch nicht erzählen, weil es zu schmerzlich ist?
Und wenn ich das so bedenke, betrachte ich diese Aufnahmen mit anderen Augen. Ich habe sie hier vor mir liegen. Ein kleines Häufchen, das in einem vergilbten Kulturbeutel der fünfziger oder sechziger oder vielleicht auch siebziger Jahre geruht hat und irgendwann dieser heutigen Tage auf Umwegen zu mir gelangt ist.
Der Enkelin, die nun der Enkel ist und sich an so viele Dinge aus der eigenen Kindheit nicht mehr aktiv erinnern kann. Auch nicht mehr an die Inhalte der feuchtfröhlich redseligen Abende der Erwachsenen, die damals um den Küchentisch der Mutter der Familie gesessen sind, um das: „Weißt du noch, als wir damals …?“ oder „Erinnerst du dich noch an?“ zu feiern.
Nein, ich weiß nicht mehr so genau, wie das damals gewesen ist, als ich weinend am Gitter meines Kinderbettchens gestanden bin und mein Großvater mich verschlafen und unbeholfen zu trösten versuchte, weil der ganze Rest noch auf dem Heimweg vom geselligen Umtrunk in der Kneipe gewesen ist.
Und mir ist auch entfallen, dass ich immer mit großem Respekt genau in der Mitte des Mittelganges im Stall gelaufen bin, weil die Kühe und Schweine mir immer als zu groß erschienen sind.
Aber ich weiß noch, dass meine Großmutter ganz aufgelöst war, als wir eines Nachmittages nach einer gefühlten Weltreise in ihrer Wohnküche angekommen waren und sie uns zeigte, wie die Jungbullen im Stall randaliert hatten, bevor sie am Morgen vom Schlachter abgeholt worden waren, weil sie der Großmutter über den Kopf gewachsen waren, so als ob sie geahnt hatten, dass der Mann im Hause schon eine Weile nicht mehr gelebt hatte.
Das Wiesental in Westpommern ist mir fremd, der Ort, an dem ich gefühlt meine halbe Kindheit verbracht habe in Mecklenburg der DDR, allerdings auch. Dort bin ich seit fast sechsundzwanzig Jahren nicht mehr gewesen.
Ein abgeblättertes Holzbötchen mit den Fotos meiner Kindertage ist mir geblieben und jetzt eben auch der vergilbte Kulturbeutel meiner Großmutter. Fotos verblichener Menschen und deren Ereignisse. Blitzlichter an Erinnerungen und die Erzählungen anderer in meiner Familie.
Die Alten von damals sind längst verstorben, und die damals jungen Erwachsenen sind jetzt so alt, dass auch sie wohl bald gehen werden. Bleibt noch die Möglichkeit, die verbliebenen Jungen von Gestern zu fragen, wie die Alten von Damals so gewesen sind und was dazwischen passiert ist, an das so mancher von ihnen sich nicht mehr erinnert.
Eine Chance, die melancholisch in meinem Gemüt verbleibt. Es ist der sechste November dieses Jahres, und niemand kann mir sagen, wie lange die Sonne heute noch scheint ...
© CRSK, BS, 11/2022