Sehen
Ich sitze hier auf dem Berg. Der Wind tost um mich und treibt den Schnee wie glitzernde Nadeln in den beginnenden Morgen. Die Kälte fühle ich kaum noch, bin so in die Betrachtung vertieft. Ich bin eins mit der Morgensonne, eins mit dem Wind und dem Schneegestöber.Meine Gedanken sind leer. Ich habe mich ganz geöffnet. Um mich selbst zu finden, habe ich mein Inneres verlassen, es verschenkt an den Morgen, an den Schnee, die Kälte. Gerne haben sie es aufgenommen.
Nun lege ich mich auf eine frei gewehte Fläche. Das Gras unter mir knirscht und bricht. Alles ist Eis. Auch ich bin Eis. Mein Inneres ist Eis, erkenne ich nun. Es ist erschreckend, mit sich selbst allein zu sein. Furchterregend. Ich muss es aushalten, habe ich es doch versprochen. Ich habe geschworen, den Weg zu gehen.
Selbsterkenntnis – das schwerste was ein Mensch erlangen kann. Wissen zu erwerben ist nichts dagegen. Sich selbst wahrzunehmen mit all dem Schmerz, dem unbekannten Kummer und der eigenen Unzulänglichkeit, der eigenen Falschheit, dem ureigenen Hass und der Angst. Ja, das Selbst ist so voller Angst, dass es oft gar nicht hervorkommt, sondern sich hinter dicken Mauern versteckt.
Ich versuche die Mauern einzureißen. Sie sind stabil – sehr stabil. So liege ich im Schneesturm, fühle weder Kälte noch Wind. Bin gefangen in mir, in meinem Schwur – gefesselt von meinen Untaten, ungesagten Worten.
Plötzlich merke ich, wie die Tränen zu fließen beginnen. Sie fühlen sich warm an auf der kalten Haut. Noch immer habe ich keinen Eindruck von der Umgebung. Der Wind liebkost die tränennassen Wangen und lässt sie frieren.
Mein Selbst ist fort – fortgespült im Wirbel meiner Selbstsucht.
Und plötzlich sehe ich –
mich und kann es nicht fassen.
„Das bin ich“, schreie ich dem Wind entgegen. Ich habe mich gesehen, wenn auch nur einen kurzen Augenblick. Erschrocken sitze ich im erfrorenen Gras, mich fröstelt. Ich springe auf und laufe zum Auto. Mir ist so kalt. Ich bin kalt! Ich bin kalt, gefühllos, mitleidlos, grausam, selbstsüchtig – das alles bin ich.
„Ja, das alles und noch viel mehr. Du hast nicht alles gesehen“, flüstert mir der Schneesturm zu. „Mach weiter, gib jetzt nicht auf. Reiß das Bollwerk um deine Seele ein, öffne dein Herz und du wirst deine Schönheit erkennen.“
Vor dem Auto bleibe ich stehen. Die Hand verharrt am Türgriff. ‚Soll ich weitermachen?’, frage ich mich. ‚Halte ich es aus? Halte ich mich aus?’
„Du musst“, befiehlt der Sturm.
Also mache ich kehrt, ignoriere die Kälte und versuche wieder das warme Gefühl zu finden, das ich am Anfang meiner Reise gespürt habe. Nur ist jetzt die Angst größer, es dauert länger bis ich aus mir finde, um mich zu sehen.
Diesmal gehe ich einige Schritte in den Wald und lege mich auf die kalten Blätter und das gefrorene Moos. Ich schließe die Augen und atme bewusst in den Solarplexus. Ich stelle mir eine warme Sonne im Bereich des Herzens vor. Die Wärme breitet sich über die Adern aus. Ich atme sie bewusst weiter, bis das Kältegefühl nicht einmal mehr in den Zehen ist.
Der Wind küsst meine Wangen und streicht mir übers Haar. Wieder kommen mir die Tränen.
Und ich sehe –
die Liebe die ich gegeben habe und in mir trage, meine Großzügigkeit, wenn jemand in Not ist, die Fröhlichkeit und Wärme, die ich weitergeben kann.
„Sieh! Auch das bist du. Du bist nicht nur deine dunklen Seiten. Du bist die Summe aller Teile. Nimm dich an der Hand und leite dich dorthin wo du hin willst, hin musst, wo dein Weg dich hinführt.“
Langsam erwache ich aus diesem Traum. Erhebe mich, grüße den Morgen, den Wald, die Luft und schlussendlich mich selbst.
„Es war richtig“, sage ich, als ich halberfroren ins Auto steige, nach der Thermoskanne suche und mich wieder fange.
„Es war wichtig“, sagt meine innere Stimme.
(c) Herta 1/2010