Das achte Türchen
Die gestrige Geschichte von Maren und Max entsprang
@*********ld63 s Feder und jeder, der auf sie riet, sich jetzt einen Storch briet
Heute lesen wir eine kleine Vorausschau, wie das alles wird, wenn das so weitergeht - mit Musik!
Am Ende der Zeitenwende
Zuerst überfiel Russland die Ukraine. Der Beginn einer Zeitenwende. Der Wohlstand in Europa begann zu bröckeln, jedenfalls für den Großteil der Bevölkerung. Die Zeiten wurden unruhig, aber die Politik zeigte wenig Interesse an den Nöten der Bevölkerung. Doch schon lange davor brodelte es: Kürzung von Sozialausgaben, Privatisierung des Gesundheitssektors, ständige Steuererhöhungen, die Erweiterung des Rentenalters, Corona und Krieg. Dies alles nahm die Bevölkerung murrend und knurrend hin. Frieren, kalt duschen, Hunger und kein bezahlbares Benzin für die Autos, lösten am Ende doch Unruhen und Bürgerkriege aus, die sich über ganz Europa wie ein Flächenbrand verteilten. Zeitweise regierte in Deutschland die AfD, zusammen mit der CSU aus Bayern, was nur zu noch mehr Chaos, Hass und Verzweiflung führte. Dazu kamen riesige Flüchtlingsströme, die kreuz und quer durch alle Länder zogen. Europa zerfiel wieder in seine einzelnen Staaten, denn überall regierten Autokraten oder reiche, totalitäre Funktionäre. Oder beide zusammen. Auch Deutschland wurde wieder geteilt, die Mauer wurde wieder hochgezogen. Jedoch nicht wie der antifaschistische Schutzwall, historische Folge des zweiten Weltkriegs.
Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen, Brandenburg und Berlin gründeten mit Tschechien und Österreich ein eigenes Königreich unter Markus, dem Gemeinen, während der Rest des alten Deutschlands, gemeinsam mit Luxemburg, Belgien und den Niederlanden in die Freie Hanfrepublik West, mit Hauptstadt in Köln, zusammenfloss. Ohne die Blockademeister aus Süddeutschland schaffte es die junge Republik, geführt von der Dreifach-Kanzlerinnen-Spitze Sebastian, dem Gewitzten, Piet, dem Bekifften und Dora, der Schlauen, Strom aus Wind- und Sonnenkraft nicht nur zu erzeugen, sondern tatsächlich auch in die Netze einzuspeisen und den dankbaren Bürgern für wenig Geld zur Verfügung zu stellen. Autos fuhren mit Strom, der in organischen Batterien gespeichert wurde. Aber wer brauchte schon ein eigenes Auto in Zeiten von flächendeckendem Home-Office und einem öffentlichen Nahverkehr, der stündlich die vergessenen Winkel jedes Bundeslandes erreichte, egal ob im tiefen Spessart, der vergessen Wallonie oder auf der Insel Texel?
So viel hatte Robert in den letzten zwanzig Jahren erlebt. Er staunte über die Welt und wunderte sich über nichts mehr. Jetzt konnte er sich freuen: Nach Währungs- und Rentenreform, während des Aufschwungs der Hanfrepublik in den letzten Jahren, war seine Rente wieder etwas wert. Mit fünfzig hatte er sich noch darüber Sorgen gemacht, ob die wenigen Euro reichen würden und er ein Stammkunde der Tafel werden würde und als Pfandflaschensammler arbeiten müsste. Doch Norbert hatte Recht.
Roberts Frau Julia war vor drei Jahren gestorben. Jetzt, nach der dunklen Zeit pechschwarzer Trauer hatte er gelernt, sein neues Singleleben zu genießen. In ehrlichen Momenten genoss er die Zeit, die ihm alleine blieb. Er liebte Julia bis zu ihrem Todestag, aber die letzten Jahre hatten an Leichtigkeit verloren. Julia und Robert trafen in jungen Jahren aufeinander wie ausgespuckter Kaugummi auf Asphalt. Sie blieben stets ein Team, trotz der üblichen Irrungen und Wirrungen einer Paarbeziehung. Beiderseitige Seitensprünge, Swingerclubs, neidische Verwandte und Krisen konnten sie nicht auseinander dividieren. Die Jahre, in denen sich ihre Kinder als Liebesdiebe, oder einfach nur als Kackpratzen, aufführten, lachten sie einfach weg. Doch die letzten Jahre mit Julia waren nicht einfach. Ständig war sie genervt. Zuerst war das Haus, nachdem die Kinder ausgezogen waren, zu groß. Zu viel Arbeit, zu viel Aufwand, zu leer. Nachdem sie sich eine kleine Wohnung in Köln genommen hatten, wurde es ihr zu eng, zu laut, zu stickig. Vielleicht lag es daran, dass Robert sich gelegentlich ein, endlich legales, Pfeifchen gönnte, während Julia weiterhin täglich ihren Liter Filterkaffee trank. Robert wurde immer gelassener und rauchte die Alterswehwechen einfach weg, während Julia immer nervöser wurde. Sie mochte den Geruch von Gras nicht und vertrug keinen Rauch. Auf die Empfehlung Roberts, es doch mal mit Tee zu versuchen, ging sie nicht ein.
Jetzt nahte das dritte Weihnachtsfest ohne Julia, und Robert hatte sich selbst ein Geschenk gemacht. Die Kinder würden mitsamt Enkeln erst am zweiten Weihnachtsfeiertag auftauchen. Er hatte keine Lust auf die politisch motivierten Streitgespräche am Heiligabend, denn der Älteste reiste aus dem benachbarten Königreich an, während sich der Mittlere im ehemaligen Belgien niedergelassen hatte und der Jüngste in Amsterdam lebte. Töchter wurden Julia und Robert trotz stets reger Zeugungstätigkeiten nie geschenkt.
Robert wusste Ruhe und Einsamkeit zum Fest durchaus zu schätzen. Er packte vorsichtig seinen neuen Plattenspieler aus. Analog, mit Direktantrieb, halbautomatisch. Nach langer Recherche hatte er endlich ein passendes Modell gefunden, das zu seinem uralten Verstärker und den unkaputtbaren Lautsprechern passte. Es folgten einige Arbeitsschritte: Plattenteller aufsetzen, Gerät aufstellen und über drehbare Standfüße mit Hilfe einer Wasserwaage nivellieren. Nadel am Tonarm montieren, Tonarm mit Drehgewicht in die Waage bringen. Maximaler Druck auf die Nadel: 2 Gramm. Die Cinch-Stecker passten zu den Eingängen des Verstärkers, das Massekabel ließ sich problemlos am Gehäuse verschrauben. Seine alte Plattensammlung hatte er bereits aus dem Keller geholt und alle Scheiben alphabetisch sortiert. Die Lautsprecher standen exakt in einem gleichen Abstand rechts und links gegenüber des wuchtigen Ohrensessels, den er sich extra für diesn Musikabend angeschafft hatte. Jetzt noch den Hocker zum Hochlegen der Füße bereitstellen und eine schöne Flasche Rotwein öffnen. Diese hatte ihm der Arzt zwar verboten, doch schließlich war Weihnachten. Da würde ihm Äskulap eine kleine Sünde sicher verzeihen.
Es war ein seltsames Gefühl, die alten Platten in die Hand zu nehmen. Manche waren gut erhalten, manche Cover schon ziemlich ausgefranst, weil diese Scheiben vor vielen Jahren, zumindest für eine gewisse Zeit, sehr beliebt war. Dann der Geruch, der sich entfaltete, wenn er eine LP mit der Innenhülle aus dem Cover zog:
Es roch nach Wohngemeinschaften, in denen ganz selbstverständlich drinnen geraucht wurde. Dazu kam der Qualm alter Holzöfen, der Dunst alkoholischer Getränke, das Aroma gerauchter Kräuter und der Mief schlecht gelüfteter Zimmer. Oft war das Papier der Innenhüllen nicht mehr weiß, sondern irgendwo zwischen Nikotingelb und Kaffeefleckenbraun. Es roch nach lebendiger Vergangenheit.
Trotz allem knisterten die Platten kaum beim Auflegen der Nadel, nicht nur, weil er die Platten zuerst auf dem drehenden Plattenteller mit einer Kohlefaserbürste entstaubte. Robert hatte schon immer ein Argusauge darauf, die Platten schonend zu behandeln. Kratzer, die sich trotzdem auf einigen Platten fanden, stammten von besoffenen Freunden oder tolpatschigen, jungen WG-Hunden. Einmal, in einer Wohnung mit sehr wackeligem Boden, hatte er sich damals sogar eine ruhende Schaukel gebaut, um den Plattenspieler an langen Ketten von der Decke hängen zu lassen, damit nicht bei jedem Schritt der Tonarm hüpfte.
Er genoss vom ersten Ton an, wie sich der Klang im Raum entfaltete. Stereoeffekte ließen die Musiker scheinbar mitten im Raum stehen, wenn er die Augen schloss. Die modernen Soundsysteme mochten ohne Störgeräusche sein, aber die Raumwirkung der in Vinyl gepressten Musik erschien ihm viel weiter. Gitarren jaulten von rechts nach links und wieder zurück quer, durch den Raum und darüber hinaus. Bässe wummerten ihm direkt in den Magen. Percussions rasselten, klimperten, klopften und schepperten aus allen Ecken des Wohnzimmers. Manche Gesangsstimmen flüsterten ihm direkt in die Ohren, mal ins eine, dann in das andere Ohr. Oder direkt ins Herz.
Viele Stücke waren mit konkreten Erinnerungen verbunden, die er längst in den dunklen Geheimratsecken seiner Seele vergraben hatte und jetzt wieder so lebendig und farbenfroh in sein Gedächtnis zurückkehrten, als wären sie ein Videoclip in HD. Man sagt ja, wenn ein Mensch stirbt, zieht sein komplettes, vergangenes Leben an ihm vorbei. In diesem Moment hielt er das für falsch. Das Leben konnte auch ohne aktives Sterben in kleinen Portionen an einem vorbeiziehen. Robert pfiff auf seinen Hausarzt und öffnete die zweite Flasche Rotwein. Er feierte seine ganz frühe Jugend mit Beatles, Deep Purple und Pink Floyd. Seiner späteren Prägung durch Punk und Wave der achtziger Jahre lauschte er mit The Cure, Joy Division, Fugazi und Nick Cave. Zuletzt traute er sich, die eigene Platte aufzulegen: Die Robert-Schmitt-Band.
Er musste schmunzeln. Es war in den achtziger Jahren natürlich immer wieder ein Gag auf der Bühne, wenn man diesen Namen trug und auch mal das eine oder andere Stück von The Cure coverte. Wichtiger waren ihm aber immer die eigenen Songs, die er damals mit seinen zwei Mitstreitern im Proberaum entwickeln konnte. Was für eine Zeit! Sie waren jung und unendlich kreativ. Sie scherten sich eine Dreck um den Mainstream und komponierten auf Teufel komm raus. Die Ergebnisse konnten sich hören lassen. Jedes Konzert war geprägt von guter Stimmung, einem Rausch der Sinne, wenn sich diese magische Verbindung zwischen Musikern und Publikum aufbaute. Na ja, lächelte Robert in sich hinein, bis auf das eine Konzert in Stuttgart, aber was will man von den verkopften, hochnäsigen Schwaben anderes erwarten? Auch wenn die konservativen Radiosender ihre Musik nicht spielen wollten, spürte die Robert-Schmitt-Band ihre eigene Kraft an den Reaktionen des Publikums. Sie waren berauscht vom Applaus der Fans, sie waren berauscht von sich selbst, von dem gruppendynamischen Erlebnis, wenn drei Personen zu einer Einheit verschmolzen.
Irgendwann hatten sie genug Geld in die Bandkasse eingespielt, um sich ein Studio leisten zu können. Sie nahmen ein paar ihrer besten Songs auf und verkauften die eigenen LPs nach ihren Konzerten. Bewusst nicht CDs, weil sie die alten Scheiben cooler fanden. Doch irgendwann verlief alles im Sand. Wie das Leben so spielt. Jeder zog aus beruflichen Gründen in eine andere Ecke des Landes und regelmäßige Proben waren damit Vergangenheit. Bis heute ein kleiner, schmerzhafter Stich, der Moment, als sie sich eingestehen mussten, das es besser wäre, die Band aufzulösen. Sie blieben lebenslang Freunde.
Verrückte Erinnerungen tauchten auf, als er sich weiter durch seine Musiksammlung hörte. Wie sie damals nach einem Konzert, im Keller einer verlassenen Klinik, mit geklauten Rollstühlen in den leeren Fluren Rennen fuhren, jeweils mit einem weiblichen Groupie auf dem Schoß. Bei manchen Songs roch er die Luft über weiten Wiesen, auf denen irgendwelche spontanen Open-Airs stattfanden. Wie verrückt hüpfte er mit Freunden, aufgeputscht durch diverse Drogen, durch hohes Gras und lachte sich die Seele aus dem Leib. Sie schwammen nachts nackt durch verbotene Baggerseen, trafen sich in Stammkneipen oder sie belagerten Partys, auf die sie gar nicht eingeladen worden waren. Die Freundeskreise waren groß und man besuchte sich gegenseitig in WGs und Wohnungen, die meilenweit voneinander entfernt waren. Die Autos waren groß, breit und von unendlichem Durst auf Benzin. Die panoramaweiten Windschutzscheiben wurden zu Leinwänden psychedelischer Filme. Es gab illegale Drogen und die Liebe war frei. Es herrschten kalter Krieg, Kreml und Kohl, trotzdem hatten sie das Gefühl, das Leben sei ohne Gefahr und alle Möglichkeiten stünden ihnen offen.
Immer tiefer versank Robert in Erinnerungen aus Tönen und Bildern. Bei der zwanzigsten LP sah sich Robert auf einer Polizeiwache wieder, wo sie ihn in ein Röhrchen pusten ließen, aber nicht auf die Idee kamen, der junge Mann mit den wirren Haaren und dem eloquenten Smalltalk könnte völlig bekifft sein. Die bunten Lichter der düsteren Clubs, in denen sie quatschtanzten, flimmerten. Engel groovten durch den Saal. Julia erschien im rosa Trockeneisnebel der Tanzfläche, mit kokettem Hüftschwung tanzend. Sie winkte Robert zu, um ihn zum Tanz aufzufordern. Robert verlor sich in Träumen aus der Vergangenheit und schlief selig lächelnd ein.
Mit genau diesem Lächeln wurde Robert am zweiten Weihnachtsfeiertag von seinen Söhnen gefunden. Er hatte auf mehrmaliges Klingeln und Klopfen nicht geöffnet. Sie wusste von seinen zwei vergangenen leichten Schlaganfällen und witterten die Katastrophe. Sie schickten die Enkel mit ihren Müttern ins Schokoladenmuseum, bevor sie die Tür gewaltsam öffneten. Robert saß kalt und leblos, aber selig lächelnd in seinem Sessel. Der Plattenteller drehte sich noch, die Nadel gab, in der letzten Rille hängend, eine regelmäßiges Knackgeräusch von sich. Sie waren wenig überrascht, aber Schock und Trauer waren groß.
Nach der Beerdigung lösten die Erben Roberts Haushalt auf. Wie die Fliegen fielen sie her über Hab und Gut. Binnen weniger Stunden war die Wohnung leergeräumt.
Der jüngste Sohn wollte nichts von Tafelsilber und Antiquitäten. Er packte sich nur die Plattensammlung, die Stereoanlage und den Plattenspieler ein. Er wollte ergründen, woher das selige Lächeln seines toten Vaters stammte.