Das neunte Türchen
Ik sach ma so, ne: All, de gistern (un hüt freu) up
@*******tia gesett hem, de hemm hüt Punkte. So, ne!
Heute lesen wir eine andere Geschichte als die von einer Zeitenwende. Ein fleischgewordenes Kartenspiel entführt uns in so eine Art Wunderland ohne Alice - wenn ich es richtig verstanden habe. Aber lest selbst:
Herz Bube, Dame, Karo Ass
Caro saß inmitten der verstaubten Habseligkeiten voller Erinnerungen auf dem Dachboden des verfallenen Vierseitenhofes ihrer längst verstorbenen Eltern und Großeltern sowie Urgroßeltern und sinnierte darüber nach, was zu jener Zeit geschehen war, als sie geboren und alljährlich – bis zur Vollendung ihres siebenten Lebensjahres - dem kleinen Volk der weisen Hasen in den Raunächten zum Kindersitten in die Sassen der weitläufigen Felder Hasensiedlungen gesetzt wurde …
„Ja, ja“, dachte sie, als sie das mit Leder eingebundene, uralte Tagebuch der Hasenpfoten in der hintersten Ecke der vor ihr stehenden großen Schatzkiste ihrer Urahnen wiederentdeckte, „das waren damals harte Winterzeiten. Da gab es keine Sonnenkollektoren oder gar Windbeutel oder -räder auf den Riedgrasdächern und man musste noch das Holz für den Ofen im sturmzerzausten Kronenwald auf dem Kamm der Küste sammeln gehen oder per Axt schlagen, wenn man denn die Erlaubnis vom Gutsverwalter beziehungsweise dessen Herrn bekommen hatte.“
Caro seufzte und kratzte sich am linken Ohr. Eine diamantene Spinne hatte sich vom größten Dachbalken auf ihre Sichthöhe herabgelassen und funkelte im Abendlicht, dass durch die staubigen und kaputten Dachfenster hereinfiel, in den Farben des Prismas ihres alten Kaleidoskops, dass ganz sicher hier auch irgendwo zu finden war.
Caro war jetzt neunhundertneunundneunzig Jahre alt, und langsam bekam sie das in ihren Knochen und im Sinne ihrer geistigen Müdigkeit zu spüren. Sie war längst nicht mehr das unbedarfte Kind, dass spielend jede Partie Räuber-Rommee gegen das kleine Volk der weisen Hasen gewann und das Rätsel der Spinnen im Traum der zwölf Raunächte lösen konnte, um Einlass in die Schatzkammern des Königs der Hasen zu gewinnen.
Nein.
Aber sie selbst hatte mit den langen Jahren des Erwachsenwerdens, weil die Ahnen irgendwann peu a peu verblichen waren, dafür gesorgt, dass sie allmählich vergaß, wer sie alle gewesen waren und was das für sie selbst und deren einstiges Leben bedeutete und schließlich als junge Erbin aller Güter und Ländereien ihrer Eltern, als letzte ihres Blutes, in der Not eines Kälte-Ausname-Winters das kleine Volk der weisen Hasen zur Jagd freigegeben und sich somit den ewigen Zorn des Herz Bube und der Dame und des Karo Ass zugezogen hatte. Und diese hatten sie dann im Gegenzug schlussendlich mit dem Fluch des endlos siechenden Alters belegt. Schier ewig sollte sie nach ihrem Willen zunehmend dahinvegetieren. Bis zu eben diesem Tage.
Caros Haare verflochten sich mit den Fingern der Sonnenstrahlen, die die staubige Dachbodenluft durchschnitten und ihre Silhouette an der rückwärtigen Dachschräge des geräumigen Bodens verschwommen wiedergaben.
Sie saß gebeugt da, und ihr Schatten war mit der Zeit grauweiß und fast durchscheinend geworden, stellte sie fest, als sie sich vorsichtig umdrehte, um die diamantene Spinne nicht mehr ansehen zu müssen.
Da sprach diese mit knarrender Stimme zu ihr: „Der Herz Bube, dessen Dame und das Karo Ass sind nicht mehr von dieser Welt. Die hat der Bücherwurm mit der Zeit zerfressen, als er die Bibliothek der weisen Hasen an die zigtausenden Male zerlesen hat, um auch den letzten Rest davon verdauen zu können. Aber ich kann dir geben, wonach dein mürbes Herz sich schon so lange sehnt.“
Caro „Hmte“ und fuhr sich mit ihren knochigen Fingern durch das schlohweiße Haar. „Wie die Hand des Gevatter Todes“, dachte sie und nickte der diamantenen Spinne zu, die mit einem Male ein güldenes Kreuz auf ihrem Rücken entblößte.
„Zu Kreuze sollst du mir kriechen“, sprach die Spinne knarrend weiter, „Nackt an Körper und Seele, so dass die dreizehnte Nacht der rauen Nächte, die die es eigentlich gar nicht geben sollte, dich erblicken und zu sich nehmen kann. Denn jetzt ist die Stunde deiner erlösenden Buße gekommen. Die Stunde deiner Geburt jährt sich heute zum eintausendsten Male und man ist dir gnädig gestimmt.“
Caro blickte ergriffen in die fingrigen Sonnenstrahlen, die sich noch immer prismaartig im Leib der diamantenen Spinne brachen und starrte mit offenem Mund ins Nichts dahinter. Denn da hatte sich unbemerkt ein Portal geöffnet, aus dem es gülden schimmerte.
Caro fühlte sich restlos erstarrt. Denn aus dieser Pforte traten eben jener Herz Bube und seine Dame und das Karo Ass. Alle drei zusammen waren früher ihre Lieblingskarten beim Tanz zwischen den Räuber-Rommee-Kartenspielern gewesen, die sie immer vergöttert hatte. Doch nun? Nun sahen sie eher aus wie ihre drei Dämonen in Engelsgestalt, nämlich das Gestern, das Heute und das Morgen, die nun frohlockten, weil sie sie jetzt auf immer dar als ihr Opferlamm mit sich führen durften und niemand von den Geistern aus der anderen Welt etwas dagegen haben würde, anstatt nun die Wiedergeburt des heiligen Landes der weißen, nun allerdings unwissenden Karnickel zu verkünden und mit einer neugeborenen Generation von Hütern der anberaumten Hochburgen von Karnickelhöhlensystemen und ihren miteinander verzweigten Nestern zu feiern ...
Da erzürnte das himmlische Gewölk gar bitterlich, braute sich zu einer finsteren Faust zusammen und zerschlug den wilden Ritt der Karten hinab ins Nirwana der freien Naturgeister zu abertausenden Funken und nieste sie als blasse Sterne in das tägliche Firmament hinein. Nicht ohne Grund schienen diese seit dieser Zeit jede Nacht den Fahrern zur See zuzuzwinkern, damit sie diese ihren Liebsten vom Himmel holen mögen und sie befreien würden von der fixen Idee ihres Göttervaters, diese zu weisen Chorknaben des Himmels zu machen.
Caro hingegen erlebte von da an die immerwährende Wiedergeburt im Klagelied der ersten und letzten Sturmmöwen dieser Welt. So sagt man noch heute: „Die Möwen beweinen die, die lebend tot sind und von ihren Ahnen nicht verehrt werden. Stelle ihnen also immer eine Schale mit Fischköpfen vor die Türe, wenn du auf Reisen gehst und nicht weißt, ob du je wiederkehrst. Und wer weiß das schon immer so genau?“
Und der Göttervater blickte in die heutige Zukunft und sah mir in die Augen. Mir, dem Schreiber der Worte dieser Geschichte, und es war der Dreizehnte November anno 2222. Und ich bin Caros Ur-Ur-Ur-Ur-und-nochmals-Ur-Erbe, der Hüter der neu erschaffenen weißen Karnickelwelten.
Und ich kann euch sagen: „Ihr Name ist Hase, obwohl sie Karnickel sind. Sie wissen von nichts, aber rammeln wie die Rammler nur rammeln können und vermehren sich, wie es eben Karnickel gerne tun, in die Bratpfannen und Suppentöpfe der Zeitreisenden hinein. Denn diese Welten der Karnickel sind als einzige übrig geblieben von der ursprünglichen reichen Mutter Natur. So als ob der Göttervater es damals schon vorausgehahnt haben könnte, obwohl er schon immer von sich gesagt hat, dass er gar nicht allwissend ist. …“