Das elfte Türchen
Bevor wir zur heutigen Geschichte kommen
soll unser gestrig Dichter werden enttarnt
es war
@*******blau , der unsere Ommen
hatte mit Tarnung als jemanderine umgarnt.
Heute lesen wir eine Geschichte von Wesen, die in Kamine klettern - und nein, es sind keine Weihnachtsmänner:
Spazzacamini
Die Welt schläft noch an diesem frühen Morgen, des 25. Dezember.
Nur der schwache Schein der Weihnachtsbeleuchtung im Wohnraum ist von draußen zu sehen, als Luigi die Leiter anlegt und auf das Dach des alten Hauses steigt.
Es ist mühsamer als gedacht, in dem unförmigen Santa-Clauskostüm, aber er hat es Johnny versprochen. Wenigstens wärmt ihn die Verkleidung bei diesem nasskalten Wetter.
Das Dach ist überfroren und rutschig. Vorsichtig klettert Luigi bis zum Schornstein. Wie abgesprochen ist kein Feuer im Kamin, aber der Duft von Weihnachtsgebäck und Tannen, dringt schwach zu ihm herauf.
Behutsam lässt Luigi den Geschenkesack an dem mitgebrachten Seil hinunter und steigt dann selber in die schmale Öffnung.
Das ist noch sehr viel enger als er sich vorgestellt hat. Er kann sich kaum bewegen und es ist so stickig, dass seine Nase anfängt zu kribbeln. Schon nach wenigen „Sprossen“ beginnt er an seinem Unterfangen zu zweifeln.
„Du bist der Einzige, der das schaffen kann. Keiner sonst hat die Statur eines Jockeys.“ Das waren Jonnys Worte gewesen.
Also weiter! Luigi strengt sich an und presst seinen Körper ganz langsam weiter nach unten. Unverhofft muss er heftig Niesen und verliert den Tritt. Eine Sekunde voller Panik, in Erwartung des Absturzes, aber nichts passiert - mit anderen Worten - er steckt fest!
„Heilige Maria, hilf mir,“ murmelt er und versucht angestrengt einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Horrorvorstellungen von einem Skelett im Kamin, verhungert, verdurstet, oder vorher erstickt, schwirren statt dessen in seinem Kopf herum.
„Spazzacamini,“ säuselt plötzlich eine Stimme.
„Wer ist da?“ Luigi ist paralysiert vor Schreck.
„Spazzacamini, steckst du etwa fest? Soll ich unten ein Feuerchen anzünden?“ Wispert es erneut. Es hört sich an, als würde ein Lachen unterdrückt.
„Wer ist da? Bitte das ist nicht lustig!“ Luigi flüstert automatisch. Spielt ihm sein Hirn einen Streich, oder passiert das wirklich?
„Nein, nein du bist nicht irre, aber keine Bange, ich versuche zu helfen. Du möchtest wissen wer ich bin? Eigentlich gehöre ich zu deiner Familie - zumindest um einige Ecken.“ Hört er die Stimme sagen. Luigi gruselt es, aber er beruhigt sich etwas und fragt zögernd: „Bist du ein Geist, wie kannst du zur Familie gehören?“
„Eins nach dem Anderen. Ich erzähle dir alles und während ich das mache, schau du zu, dass du aus deiner Kleidung heraus kommst!“
„Aber...“ setzt Luigi an.
„Nicht fragen, sondern ausziehen und den Mund halten!“ Unterbricht ihn die Stimme und fängt an zu erzählen.
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„Es geschah zu jener Zeit, als unsere Familie im Verzascatal, in der Schweiz lebte. Genauer gesagt in dem Dorf Corippo. Uralte Granithäuser, die sich an den Berg schmiegen und eine Aussicht die seines Gleichen sucht. Es gab zu dieser Zeit vielleicht 150 Einwohner, die meisten davon bitterarm, daher verkauften viele Eltern ihre Buben. Sie wurden im Alter zwischen 8 und 12 Jahren „versklavt“.
Im Jahr 1823, traf es dann auch mich und meinen Bruder. Wir hatten noch vier kleinere Geschwister.
Zwei Mäuler weniger zu stopfen! Das war für unsere Eltern die einzige Chance, alle anderen über den nahenden Winter zu bringen.
So wurden wir für ein paar Taler weggegeben, um als „lebende Besen“ zu arbeiten.
Unser Padroni, der Schornsteinfegermeister Meura, nahm uns mit nach Norditalien.
Dort war es unsere Aufgabe, für ihn in die schmalen Kamine zu klettern und diese zu säubern. Mit kleinen Schabern und auch mit den Händen mussten wir den Ruß und Dreck von den Wänden kratzen. Es war duster und furchtbar stickig. Wenn wir Angst hatten noch weiter hinauf zu klettern, drohte er uns damit, ein Feuer im Kamin zu entzünden. Hatten wir es dann geschafft und waren oben angekommen, sollten wir „Spazzacamini“ rufen.
Das war für den Padroni das Zeichen, dass wir fertig waren.
So ging es den ganzen Tag. Zu essen gab es ab und zu ein Stückchen Brot, ganz selten mal ein kleines Geldstück.
Es war ein grauenvolles Leben - immer unterwegs, immer hungrig. Mein Bruder starb im zweiten Jahr, nachdem sein Husten immer heftiger wurde und er Blut spuckte. Ich habe ihn fast darum beneidet.
Irgendwie schaffte ich es zu überleben und als ich zu groß für die Arbeit wurde, gab der Padroni mich frei. Den Rest meines Lebens, erspare ich dir, aber du siehst, dass ich ein Experte bin, was Kamine angeht.“
„Du, Luigi, bist ein Nachkomme von einer meiner jüngeren Schwestern, die mit einem Kaufmann vermählt wurde und später mit ihm auswanderte.“
Die Stimme macht eine kurze Pause und Luigi muss das Gehörte erstmal sacken lassen.
Während der Erzählung, hat er sich etwas entspannt. Es ist ihm tatsächlich gelungen, seine Bekleidung, angefangen bei den Stiefeln - Stück für Stück - auszuziehen und fallen zu lassen.
„Bravo, du hast es geschafft dich fast nackig zu machen. Jetzt kommst du bis nach unten. Ich glaube du wirst schon erwartet.“ gratuliert ihm die Stimme und lacht.
„Mach’s gut „Spazzacamini“ und such mal nach deinen Wurzeln.“ die Stimme wird leiser und verstummt, noch bevor Luigi zu Worte kommt und sich bedanken kann.
Luigi verharrt noch einen Augenblick, versucht sich zu zusammenzureißen und nimmt sich fest vor, später Ahnenforschung zu betreiben.
Es ist immer noch sehr eng, als er den Abstieg fortsetzt, aber letztlich schafft er es unten anzukommen. Er krabbelt rückwärts aus dem Kamin, über seine dort verstreut liegenden Sachen, in die Wohnstube.
Dann holt er tief Luft und schickt ein Stoßgebet gen Himmel und zu seinem unbekannten Retter.
Ein helles quietschendes Kinderlachen erklingt und Luigi dreht sich um. Dort steht Johnny, der ein entsetztes Gesicht macht, während seine dreijährige Tochter Lynn lacht und in die Hände klatscht.
Die ganze Situation ist völlig abstrus. Luigi, der mit Rußpartikeln überdeckt, nur mit seiner Unterhose bekleidet, auf allen Vieren aus dem Kamin gekrabbelt kommt und das verstreut um ihn herum liegende Santa-Claus Kostüm. Sich dessen bewusst werdend, muss Luigi lachen. Es hat etwas sehr Befreiendes, nach dem Erlebten.
Johnny, der auch grinsen muss, greift geistesgegenwärtig eine Decke von der Couch und wickelt, den halbnackten Luigi darin ein. Anschließend schnappt er sich den Sack mit den Geschenken, öffnet ihn und legt ihn unter den Christbaum. Lynn braucht keine Einladung, als sie die bunt eingepackten Geschenke in dem Sack erspäht.
Mit staunendem Blick und dem Aufreißen der Dekoration hinreichend abgelenkt, kann Johnny, den in die Decke gehüllten Luigi, unbemerkt hinaus bugsieren.
In der Küche wirft er die Espressomaschine an, denn Luigi braucht dringend etwas Starkes.
„Erzähl mir was passiert ist.“ fordert er Luigi auf und stellt eine dampfende Tasse vor ihn auf den Tisch. Sein Freund nimmt einen großen Schluck und dann bricht das Erlebte aus ihm heraus, wie ein Wasserfall. Als er verstummt herrscht eine Zeitlang Stille. Johnny ist sichtlich geschockt.
„Es tut mir so leid. Das war nicht eine meine besten Ideen, sondern völlig unüberlegt, dich dazu anzustiften. Ich verspreche dir, dich bei den Nachforschungen zu unterstützen. Das ist einfach unfassbar.“ Johnny hat keinerlei Zweifel an den Worten seines Freundes.
Luigi nickt. Die beiden verabreden sich für den Abend um in aller Ruhe und bei einigen „Gläschen“ alles zu besprechen.
Es sollte eine lange Nacht werden.