Das dreizehnte Türchen
@*****ree schrieb von den Heinzelmannen
die fleißig Kiefern, Fichten, Tannen
zur Weihnachtszeit stelln in die Stuben
doch sind die Heinzelmann all Buben?
Der jährliche Gruß
Es war ein besonderer Moment, denn Hedwig betrat diesen Raum nur ein Mal im Jahr.
Sie zog den schweren Brokatvorhang ein Stück zur Seite, damit die schwache Wintersonne den Raum erhellen konnte.
Unzählige Bilderrahmen in verschiedenen Größen zierten die Wände bis unter die Decke, und alle enthielten das gleiche: eine Weihnachtskarte. Abbildungen von weihnachtlich geschmückten Tafeln, Adventskränze, fröhliche Menschen auf Weihnachtsmärkten, Motive von Engeln oder der heiligen Familie ergaben ein buntes Gesamtbild, das den Raum beherrschte. Am liebsten waren Hedwig die Landschaftsaufnahmen von tief verschneiten Wäldern oder Parkanlagen.
Seit 75 Jahren bekam sie – pünktlich wie ein Uhrwerk eine Woche vor Weihnachten – eine solche Karte. Sie enthielt nie einen Text oder einen Absender, nur die unterschiedlichen Poststempel ließen einen Rückschluss zu, wo sich der Absender gerade aufhielt. Afrika, Neuseeland, USA, Frankreich – von überall aus der Welt erreichte sie die Weihnachtspost.
Hedwig fand es zunächst merkwürdig, dass offensichtlich jemand an sie dachte, sich aber nie zu erkennen gab. Anfangs rätselte sie noch, ob es vielleicht ein heimlicher Verehrer war, der sie beglückte. doch mit den Jahren gab sie das Grübeln auf, und es wurde einfach ein fester Bestandteil ihres Lebens, ja geradezu ein Ritual, die Karten hinter Glas zu setzen und hier zu sammeln.
In den letzten Jahren allerdings beschlich sie immer mehr die Angst, die Karte könne ausbleiben. Wer auch immer der Absender war, er musste in etwa so alt sein wie sie selbst, und mit 89 war die Lebenserwartung nicht mehr sehr hoch. Was, wenn der Absender im Laufe der letzten 12 Monate gestorben war?
Große Erleichterung empfand sie daher, als sie heute Morgen wieder den jährlichen Weihnachtsgruß im Briefkasten vorfand. ‚Kanada’ verriet der Stempel, und zu sehen war die Aufnahme einer kleinen Laterne, die mit ihrem Schein die verschneite Umgebung in ein wärmendes Licht tauchte. Genau so, wie auch die jährliche Karte selbst ein kleines, aber stetes Licht in ihrem Leben war.
Nachdem Hedwig sorgsam das Laternenbild mit doppelseitigem Klebestreifen auf dem
Passepartout fixiert hatte, legte sie das Glas darüber, schloss den Silberrahmen und platzierte ihn am Ende der letzten Reihe. Wie viel Plätze würde sie noch füllen können, bis …? Nun schlich sich doch noch eine leichte Wehmut in ihr Herz, und sie gönnte sich noch ein paar Augenblicke mit der Betrachtung einzelner Motive. Dann schloss sie den Vorhang wieder, um ihre Schätze vor dem Ausbleichen durch das Tageslicht zu schützen und verließ ihr kleines Museum.
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Karl kauerte zwischen zwei Buchsbaumsträuchern und zog die Fellmütze noch tiefer ins Gesicht. Die ersten, dicken Schneeflocken fielen, gleich würden sie ihm die Sicht nehmen. Doch er hatte genug gesehen.
Im Altbau gegenüber war der Vorhang beiseite geschoben worden und eine Frau war kurz am Fenster zu sehen gewesen. Mein Gott, sie war immer noch so schön! Das weiße Haar, das ihre weichen Züge umrahmte, war nicht mehr so voll, und etwas dünner war sie wohl auch geworden. Aber der Zauber aus jener Zeit war all die Jahre nie verflogen. Niemals hätte er ihr gegenüber eingestehen können, dass sie seine große Jugendliebe war, niemals hätte er sich das getraut. Damals war sie ihm wie eine Sphinx vorgekommen, anhimmelnswert, doch unerreichbar für ihn. Doch vergessen hatte er sie nie, all die Jahre über hatte sie ihn in Gedanken begleitet. Wenigstens das wollte er zum Ausdruck bringen in Form einer Karte, die er ihr seit ihrer ersten Begegnung jedes Jahr zur gleichen Zeit schickte.
Dieses Jahr hatte er so ein Gefühl, dass es vielleicht der letzte Gruß sein könnte. In letzter Zeit ging es ihm nicht besonders gut, sein Herz machte ihm zu schaffen. Darum wollte er sich davon überzeugen, dass Hedwig die Post tatsächlich bekommen hatte. Was er dann sah, als der Vorhang den Blick freigab, übertraf seine Erwartungen. Sie musste jede Karte aufgehoben und aufgehängt haben! Er spürte, wie sein Herz vor Freude einen Hüpfer machte und mahnte sich zum Aufbruch. Ja, er war glücklich und würde zufrieden seinen letzten Weg antreten können, wenn es so weit war, doch ganz sicher nicht jetzt und hier draußen zwischen zwei Buchsbaumsträuchern.
Auf dem Weg hierher hatte Karl im Laden an der Ecke einen Ständer gesehen mit außergewöhnlichen Weihnachtsgrußkarten. Er beschloss, dort schon eine Karte fürs nächste Jahr auszusuchen.