Das sechzehnte Türchen
Wer gestern setzt' auf den Kamelienschank
der/die hat der Punkte wenig heut
@*****e_M s Zweitgeschichte, Gott sei dank
erfreute Frauen und Mannsleut.
Es geschah zu EINER Zeit…
Hyazinth erwachte mit einem Hustenanfall. Selbst noch fünf Jahre nach seiner Abordnung zur Transporteinheit hatte sich sein Organismus immer noch nicht an die Begleiterscheinungen des monatelangen Kältekomas gewöhnt. Immerhin reagierte sein Stoffwechsel nicht mit Krampfanfällen oder Psychosen wie bei so manch anderem seiner Spezies. Vielleicht der wesentliche Grund, weswegen er nach seiner Verurteilung wegen unzulässigem Zivilungehorsams die Chance erhielt, sich über die Dienstzeit auf diesem lausigen Raumtransporter vorzeitig zu rehabilitieren. Für eine Abkommandierung zu den operativen Kampfeinheiten reichte es dann nicht, war er halt ohnehin nicht die hellste Kerze auf dem Weihnachtsbaum. Sonst hätte er sich vielleicht denken können, dass dieser Job ein verdammt schlechter Deal war.
Ophelia neigte sich ihm vor dem geöffneten Alkoven zu, als sie bemerkte, wie sich in ihm die ersten Lebenszeichen regten. Bereits seit Stunden verharrte sie vor dem halboffenen Alkoven, um sich dieser für sie unerklärlichen Faszination des Erwachens hinzugeben. Fast schon liebevoll strich sie aus seinem Gesicht die letzten Reste des Kollagenfluids, welches Hyazinths Körper während des Kälteschlafs vollständig umhüllte und die unvermeidlichen körperlichen Zerfallsprozesse in der Schwerelosigkeit minimieren sollte. Und wie schon so oft in den Reisen durch den Asteroidengürtel musste sich Hyazinth erst einmal übergeben, um diesen widerlichen Geschmack und die letzten Rückstände aus den oberen Atemwegen loszuwerden.
„Wie spät ist es?“, krächzte er bereits kurz nach den ersten mühsamen Atemzügen.
Ein erleichtertes, schon fast spöttisches Lächeln huschte über Ophelias Gesicht.
„Welche Zeit präferiert denn der Herr heute?“
„Was soll der Scheiß jetzt? Ich habe dir doch wohl eine unmissverständliche Frage gestellt, oder?“
Sein anfänglicher Unmut verflog augenblicklich, als auch sein Gedächtnis wiedererwachte. Ophelia war in dieser Einöde dieses in die Jahre gekommenen Raumfrachters ohnehin die einzige, welche sich seinen Fragen stellen konnte. Der Sicherheitsoffizier vertrug den Kälteschlaf an Bord noch schlechter als Hyazinth und reagierte hierauf bereits beim Anflug auf Titan mit celebralen Krampfanfällen. Sodass Hyazinth und Ophelia beschlossen, den ohnehin recht hemdsärmeligen Kerl bis zur Rückkehr auf die Marsaußenstation auf Eis zu legen. Die beiden hatten sich dann die Zeit in dieser endlosen Öde zwischen dem Titan und dem Asteroidengürtel notgedrungen damit vertrieben, auszuloten, wieviel Humor in Ophelias genetischen Sequenzen implementiert wurde. Und ihm schien, dass sie über die unzähligen Stunden offensichtlich gute Fortschritte gemacht hatte. Soweit man das bei einem Serienmodell überhaupt beurteilen konnte. Ophelia war undefinierbar einzuordnen irgendwo zwischen den hochspezialisierten, unerbittlichen Kampfdrohnen und den kindlich wirkenden Lustmodellen. B-Ware, wie der Sicherheitsoffizier abschätzig bei Indienststellung Ophelias monierte. Hyazinth herrschte ihn seinerzeit an:
„Sie wissen aber schon, dass es sich bei ihr um einen Klon und nicht um einen Automaten handelt, oder?“
Eher halbherzig wiegelte der erklärte Frontveteran Hyazinths Maßregelung ab:
„Ich meine nur, Commander. Ich habe kein gutes Gefühl, wenn es dann wirklich mal hart auf hart kommen sollte.“
Unwillig nahm Hyazinth die Entschuldigung zur Kenntnis:
„Für den Linienverkehr eines Raumfrachters wird´s wohl schon reichen!“
Wohl wissend, dass da dieser alte Ungeist durchschimmerte, der seit Jahrzehnten die halbe Menschheit beherrschte. Replikanten als Surrogat für eine scheinbar befriedete Menschheit zu schaffen, welche sich nach Jahrtausenden dieser Geißel der Versklavung der eigenen Gattung befreit glaubte.
Er taumelte, als er sich mühsam aus dem Alkoven schälte. Immerhin nässte er sich beim Verlassen der Kapsel nicht ein wie die letzten beiden Male. Ein erster Blick auf die Kontrollinstrumente vergewisserte ihm, dass alle Systeme offenbar wieder gleichmäßig ihren Dienst verrichteten. Immerhin mühten sich die beiden tagelang bis zur vollständigen Erschöpfung an der Rekalibrierung des Deuteriumreaktors ab. Ohne Gewissheit zu haben, den Leistungsabfall in der Energieversorgung in den Griff zu bekommen und nicht irgendwo im leeren Raum zu havarieren. Die hierzu benötigten Americumbestände litten während eines heftigen Neutrinosturms auf der Rückreise vom Titan zunehmend unter der Rotverschiebung. Ein vorhersehbarer, wenn auch nicht abschätzbarer Zwischenfall, unglücklicherweise mitten im Asteroidenfeld. Sie mussten dann auch die verlorene Zeit aufholen, um noch irgendwie die Terminvorgaben der Minengesellschaft einhalten zu können. Lechzte doch die halbe Menschheit nach dem Stoff, der aus den schier unerschöpflichen Lithiumvorkommen von Ceres IV herausdestilliert und dann von Replikanten zur Außenbasis der Minengesellschaft auf dem Titan verschifft wurden.
Ophelia wusste mittlerweile recht gut mit seiner Melancholie in diesen trostlosen Tagen im scheinbaren Nichts umzugehen. Sie zwinkerte ihm zu:
„Bist du dir sicher, dass das gestern war?“
„Wieso- wann soll das denn sonst gewesen sein?“
„Ihr Hominiden seid schon seltsam. Irgendwie scheint euer Zeitgefühl immer in einer Mentalität des Vergangenen gefangen zu sein. Als wenn ihr auf dem Pfad des Vergangenen zum Kommenden das Jetzt allzu vorschnell überspringen, ja übertölpeln wollt.“
Ophelias Augen glänzten wieder wie der taunasse Glanz eines dieser frühen Märztage seiner Jugend in den Ardennen. Wieder dieses so warme Glänzen aus einem rehbraunen Augenpaar, welches einerseits nüchtern fordernd, im nächsten Moment wie eine Gefühlsregung anmutete. Und wieder einmal ließ sich Hyazinth für ein kleines Moment von der Gewissheit ablenken, dass sie eben keine Artgenossin, sondern lediglich eine speziell für diese Raumflüge gezüchtete und ausgebildete Replikantin war.
Er winkte ab: „Ach, bitte. Nicht schon wieder diese Diskussion! Waren wir nicht schon so weit festzuhalten, dass sich die Identität der Vergangenheit in der Vergänglichkeit begreift?“
„Entschuldige. Ich hatte nur in der Zeit, wo Du geträumt hast, viel Zeit zum Nachdenken.“
„Und zu welchem Schluss bist du gekommen?“
„Nun. Du weißt es und ich weiß es auch. Meine genetische Programmierung ist auf ein festes Zeitintervall ausgerichtet. Ich weiß genau, wann bei mir Schluss ist.“ Und sie setzte auf eine schon fast gleichmütige Art nach: „Ist es vielleicht das bei euch Menschen? Diese Ungewissheit, wann bei euch das Ende kommt?“
Hyazinth verzog das Gesicht: „Lass mal lieber, du bitch. Davon bekommen wir beiden nur schlechte Laune!“
Über das Kabinenfenster rieselte das erste Restlicht eines keimenden Sonnenaufgangs. Vielleicht noch zwei Tage bis zur Außenstation auf dem Mars. `Die Zeit schlagen wir dann auch noch irgendwie tot´, dachte er sich. Er verlor sich erneut in diesen rehbraunen Augen. Da war wieder dieser erwartungsvolle Blick, dem er wie so oft in den letzten Jahren begegnete. Ein Blick, der die Unterschiede zwischen den beiden auf eine fast natürliche Art und Weise aufzuheben schien. Er musste augenblicklich grinsen. Führte doch diese scheinbar erzwungene Gemeinsamkeit von Ungleichen dazu, dass der Begriff `natürlich´ mehr und mehr aus seinem Wortschatz verschwand. Was bedeutet schon das sich Unterscheiden im Kontinuum der Zeit?
Er löste sich von diesen Gedanken, die wohl ohnehin zu nichts führten. Hatte er doch bereits weit vor der ersten Reise in die dunkle Weite aufgehört, das Menschsein als Sinfonie des Weltverstehens zu begreifen.
„Ich habe Hunger! Und ich habe keine Lust auf diesen Tütenmist aus dem Replikator. Lust auf eine Küchenschlacht?“
Ophelia lächelte zurück. Hatte sie doch scheinbar nie Probleme damit, Zeit als Kontinuum zu verstehen.
„Du bist erfrischend, wenn du alte Seele so altmodisch bist!“
Gelegenheit, den Raum zu wechseln. Und Möglichkeit, Raum und Zeit zu einem Kontinuum, zu einer Begegnung mit einem fortwährenden Kreislauf von Abschied und Wiederkehr zu verschmelzen…