Das zwanzigste Türchen
Die etwas andere Weihnachtsgeschichte des gestrigen Tages verdanken wir @*******tia - und wer auf ihn setzte, dem/der wird es Punkte regnen.Die heutige Geschichte berichtet davon, wie das wird, wenn alles so weiter geht.
Mit großem Wumms
Es geschah zu jener Zeit, im Volksmund nur das große Wumms genannt. Obwohl es ein paar Vorzeichen gab, obwohl sogar die Regierung mehrere Warnungen an die Bevölkerung gegeben hatte, bezüglich Vorratshaltung, Verhalten bei Black-Out und so weiter – als die Lichter ausgingen, war niemand so richtig vorbereitet.
Zwei Tage nach dem großen Wumms, gab es in keinem Supermarkt mehr Batterien, oder Kerzen, auch keine Teelichter, selbst keine Friedhofskerzen mehr. Auch kein Klopapier, doch das war nicht so schlimm, denn da hatte man noch ein paar Reste gebunkert.
Dieses Weihnachten würde in Dunkelheit stattfinden. Oder ganz ausfallen. Kinder standen nicht nur vorwurfsvoll vor ihren Eltern. Sie warfen sich auf den Boden und trommelten und schrien ihren Ärger auf den staubigen Fußboden, denn welcher Haushalt war noch mit einem Handkehrer ausgestattet? Nicht nur keine Geschenke, sondern auch kein Fernsehen, kein Computer, kein Tablet, kein Benjamin Blümchen-Trä-Rä, am besten um 17:30 ins Bett, denn da war es dunkel.
Tom jedoch, Tom war in seinem Element.
Er hatte vorgesorgt. Und er war natürlich voll elektrifiziert. Notstrom. Solar-Panel. Und von einem Mountainbike-Lichterketten-Hersteller hatte er das ganze Sortiment erstanden. Seinen Ebay-Shop hatte er schon vor drei Jahren komplett umgestellt. „Survival Kit – militärische Qualität“, „Kulinarisches Überlebens-Menü“, „Notfall-Rucksack Europa“ wurden bestellt wie blöd, er kam mit dem Pakete schicken nicht mehr hinterher.
Deshalb hatte er eine eiserne Regel gebrochen. Keine Frau mehr ins Haus. Und schon gar keine Frau mit Kinderwunsch. Daran hatte er sich jetzt 7 Jahre lang gehalten. Und nun? Nun war da diese Frau, saß an seinem Küchentisch, zu ihren Füßen eine Wippe mit einer lebendigen Sirene, einem kleinen Kind und verpackte das neu von ihm ins Sortiment genommene „Gefundenes Weihnachtsfressen – Waldhirschragout-mit-Pilz-Geschmack“.
Gestern, oder so war er noch frei und einfach Tom gewesen. Jetzt war er Arbeitgeber, Herr Geist hier, und Herr Geist da, und Retter in der Not. Ehrenkodex, das war für ihn nicht nur ein Wort. Ehrensache auch nicht. Die Frau mit dem Schreihals, sie rührte etwas in ihm. Etwas schon lange Vergessenes. Sie hatte ein Grübchen in der Wange. Und das Kind auch.
Einen Monat vorher
Sie war so unsagbar müde. Bei der Untersuchung heute, sagte die Hebamme, sag mal, hast du gar keine Verbundenheit zu deinem Kind? Diese Worte hallten in ihr nach, wie in einem leeren Zimmer. Höhnische Fratzen kamen und gingen und klebten dann an den verschmutzten Fensterscheiben. Das auch noch. Keine Verbindung, keine so vielgepriesene Liebe. Wie sollte das auch gehen? Ihr Job war erstmal weg. Geschäft geschlossen. Dauerhaft. Genau so fühlte sie sich. Wenn sie sich jetzt malen würde, dann wäre da ein großer schwarzer Fleck in der Mitte, gefüllt mit braunen, grauen und schwarzen Ziegelsteinen, Arme und Beine wie dünne, verdorrte Äste und der Kopf, der wäre wie ein trauriger Hund, mit herabhängenden Ohren, triefenden Augen, in seinem Blick, der Schmerz der Welt. Warum hast du mich verlassen?
Warum willst du mich verlassen, fragte auch ihr ehemaliger Freund, jeden Tag stand er vor ihrem Zimmer. Lallte es durch die dünne Wand. Manchmal deutlich und langsam, um Fassung ringend. Dann wieder fast nicht mehr greifbar. Wahahaha stpfpfpf uuhuh vahaha sssen. Schon seltsam, dachte sie, wie sie jedes einzelne Wort verstand. Wahrscheinlich, weil sie es wirklich wusste. Und er immer noch nicht.
Wenn er keinen Entzug machen will, dann haben sie keine Chance, erzählte ihr Arzt, dem sie sich anvertraut hatte. Wenn sich noch etwas ändern sollte, dann nur wenn sie gehen. Nur eine Wohnung hatte sie immer noch nicht gefunden.
Die Schwangerschaft war nicht geplant und ihr ehemaliger Freund war auch nicht der Vater. Gott sei Dank. Einen Vater gab es nicht. Sie „wusste“ wer der Erzeuger war. Der höfliche, sympathische junge Mann, dem das geplatzte Kondom sichtlich peinlich war und der es schließlich ziemlich sanft und gütig wieder aus ihrem Unterleib zu Tage gebracht hatte. Sie kannte nicht einmal seinen Namen. Er war Gast im Club gewesen, ebenso wie sie. Keine weltbewegende Vereinigung aber eine mit solidem O.
Sie betrachtete die herumflirrenden Schneeflocken, während sie vorsichtig auf der glatten Straße einen Fuß vor den anderen setzte.
Sie freute sich auf das Kind. Es war vielleicht die letzte Möglichkeit, denn ihre Tage kamen schon unregelmäßig. Doch jetzt brauchte sie ein Dach über dem Kopf. Und einen neuen Job. „Geist“ – ein ungewöhnlicher Name, dachte sie, als sie an der Adresse, die ihr das Jobcenter gegeben hatte, ankam. ICH WÜNSCH MIR, dachte sie ganz laut, in Großbuchstaben. Dann klingelte sie.
Der Heilige Abend
So wie sie bei ihm hineingeschneit war, mit ihren großen Augen, viel größer als ihr Bauch, so verschmolz sie mit seiner Wohnung, mit ihm, ganz unprätentiös. Das Gästezimmer hing zwar voller Windeln und Socken und Still-BHs, doch selbst das störte ihn nicht. Er war fassungslos. Was hatte diese Frau, was alle anderen nicht hatten. „Ich bin Mary“, hatte sie mehr gehaucht als laut gesprochen. „Ich brauche diesen Job. Und eine Bleibe. Auch für mein Kind.“
Er bat sie herein, fest entschlossen, nein, das wird nichts, zu sagen. Doch Ehrenkodex, er führte das Personalgespräch, so wie mit den anderen Bewerbern. Er erklärte ihr seine Produkt-Palette und fragte sie, wie jeden Bewerber, was sie zur Erweiterung seines Shops vorschlagen würde.
Da wurde sie munter. Er konnte es sehen. Sie strahlte von innen. Kulinarisches, gefundenes Fressen. Ein Weihnachts-Menu. Und sie konnte Rezept-Karten schreiben und es vorkochen. Tom schüttelte den Kopf, ihre Augen brannten, dann brach ihr Wasser und ihr Junge kam in seinem Wohnzimmer zur Welt.
Mutter und Kind wohlauf, konstatierte der herbeigerufene Notarzt. Und Mary blieb. Und ihr Junge hieß jetzt Shingen. Und Tom durfte den Namen aussuchen, nein Mary bestand darauf. „Herr Geist, Sie sind unser Retter, sie haben geholfen. Soll ich meinen Jungen nach Ihnen nennen?“
„Bloß nicht“, sagte Tom.
„Gibt es denn einen Namen, einen großen Namen, den Sie wirklich gut finden?“, Mary ließ nicht locker.
„Shingen,” sagte Tom. „Shingen – das kommt von Taketa Shingen. Er war nicht nur ein hervorragender Schwertkämpfer, er war auch ein Poet. Wahrscheinlich braucht ihr Junge beides in dieser Zeit, nach diesem Wumms.“
„So soll es sein“, lächelte Mary und in ihm wurde es ganz heiß.
Jetzt hantierte sie in seiner Küche herum, kochte auf seinem Notstromaggregat das Weihnachtsessen und er hob Shingen aus seiner Wiege. „Na du?“, sagte Tom. „Fröhliche Weihnachten.“
Mary hielt in der Küche einen Moment inne und schloss die Augen. DANKE, dachte sie. DANKE SCHÖN.