Das zweiundzwanzigste Türchen
Am gestrigen Tag erfreute uns sehr
@******ace mit ner Geschichte ohne Teddybär
in der heutigen geht es um Schneetreiben
verbunden mit der Geburt von geheiligten Leiben.
Schneetreiben
„Klack“ - „klack“ - „klack“. Es war Heiligabend. Ein junger Mann schritt zügig auf seinen Tourenski im dichten Schneetreiben den Berg hinauf. Der Neuschnee knirschte, als er seine Spur bergauf zog. Es wurde bereits schnell dunkel und der Schein seiner Stirnlampe tanzte vor ihm auf dem Schnee.
„Klack“ - „klack“ - „klack“. Er hatte zu Beginn des Aufstiegs seine Felle unter die Ski geklebt und die Aufstiegshilfe hochgeklappt, denn es ging schon jetzt relativ steil bergauf. Das typische monotone Geräusch, wie seine Schuhe bei jedem Schritt auf die Bindung schlugen, wirkte auf ihn beruhigend.
Sepp war alleinstehend und hatte keine Familie mehr, seine Eltern waren vor zwei Jahren bei einem Unfall gestorben. Trotzdem mochte er nicht auf einen Christbaum, der immer schon neben dem Kachelofen in der Stube stand, verzichten.
In seinem Rucksack befanden sich eine kurze Säge, ein Seil und seine Thermosflasche mit heißem Tee. Unverzichtbar war auch seine Lawinenausrüstung mit Schaufel und Sonde, die er immer dabei hatte, wenn er auf dem Berg unterwegs war. Seinen Lawinen- Pieps hatte er auch umgeschnallt. Oben auf der Wurzhöhe kannte er einen kleinen Jungwald, in dem er sein Bäumchen finden wollte.
Eigentlich war das für Sepp eher ein Spaziergang von zwei Stunden Aufstieg und einer kurzen Abfahrt durch den schönen Tiefschnee, die er genießen würde. Nur der dichte Schneefall bereitete ihm ein wenig Sorgen. Da kamen gut und gerne 15 cm jede halbe Stunde hinzu, jedoch hatte er schon schlimmeres Wetter erlebt und wischte seine Bedenken zur Seite.
„Klack“ - „klack“ - „klack“. Er folgte der Neigung des Hanges in Serpentinen hinauf. Immer etwa 50 Schritte, dann die Kehre und wieder 50 Schritte. Der Schnee dämpfte alle Geräusche wie durch Watte und er genoss die Stille um sich herum. Nur das dumpfe Knirschen des Schnees, seinen rhythmischen Atem und das monotone Klacken konnte er wahrnehmen. Fast meditativ hing er seinen Gedanken nach und führte kurze Selbstgespräche.
„Es geschah zu jener Zeit… das wird der Pfarrer in der Christmette wieder lesen“. Sepp war kein fleißiger Kirchgänger oder ein gläubiger Mann, kannte aber die Weihnachtsgeschichte fast auswendig. Wer in der Heiligen Nacht nicht in die Kirche ging, wurde im Dorf schief angesehen. Er mochte auch den Pfarrer nicht, der aus dem Nachbardorf kam. „Schwätzer.“ Murmelte er vor sich hin.
Es wurde steiler, sehen konnte er das kaum, aber er spürte es. In etwa konnte er erahnen, wo er gerade war. Auf seinem Gesicht vermischte sich der Schweiß mit dem Nass der dicken Schneeflocken, die immer schneller zu Boden fielen.
„So eine Flocke ist wie ein Mensch“, sinnierte er, „wird im Himmel geboren, fällt weich und jungfräulich zu Boden. Dann findet sie ihren Platz unter vielen anderen, bis die Sonne und der Wind sie hart und spröde werden lassen und sie irgendwann wieder vergeht.“
So hing er seinen Gedanken nach, als er neben sich im Unterholz ein lautes Knacken hörte und unwillkürlich zusammenzuckte. Ein Wildtier, das sich im tiefen Schnee verstiegen hatte? Erst gestern hatte der Kehlmoos Anderl, dem die Jagd auf diesem Berg gehörte, am Stammtisch von einem kapitalen Hirsch erzählt, der in sein Revier gewechselt war. Suchend wanderte sein Blick dem Waldrand entlang, bis er in große Augen sah, die im Licht seiner Stirnlampe rötlich leuchteten. Tatsächlich stand da ein großer Hirsch mit einem weit ausladenden Geweih, das den Schnee von den tiefhängenden Ästen fegte, dass es nur so staubte, als dieser den Kopf zurückwarf.
Sepp stand wie angewurzelt und betrachtete gebannt den seltenen Anblick.
Der Hirsch verschwand, kam jedoch gleich wieder, schnaubte und warf wieder den Kopf zurück - als wollte er Sepp etwas mitteilen. Was für ein seltsames Verhalten! Vielleicht sollte Sepp ihm folgen? Er lenkte seine Schritte Richtung Wald und folgte den Spuren im Schnee und dem Geräusch der knackenden, brechenden Äste des angestrengt schnaubenden Hirsches, der im tiefen Schnee - trotz seiner unglaublichen Kraft - größere Schwierigkeiten hatte, als Sepp mit seinen breiten Ski.
Nach kurzer Zeit öffnete sich der Wald zu einer kleinen Lichtung in deren Mitte das edle Tier stehen blieb und laut röhrte. Sepp sah dort eine reglose Gestalt am Boden liegen, die schon fast völlig von Schnee bedeckt war. Es schien eine Frau zu sein. Sepp ging auf sie zu, während der Hirsch zurückwich. Sie tauschten noch einen kurzen, intensiven Blick, dann verschwand der Hirsch im dichten Schneetreiben.
Sepp eilte zu der reglosen Frau und befreite sie vom Schnee. Sie war bewusstlos, aber sie lebte, wie er an ihrem kondensierenden Atem erkannte. Ein Schütteln nützte nichts, um sie wieder zu Bewusstsein zu bringen. Er holte seine Thermoskanne aus seinem Rucksack und versuchte, ihr einen Schluck des noch warmen Tees einzuflößen.
War das die Dame aus der Stadt, die vor vier Monaten die Hochalm vom Anderl gemietet hatte, um dort an einem Buch zu schreiben? Maria hieß sie, glaubte er sich zu erinnern. Sepp rubbelte und massierte ihre Arme und Beine um sie zu wärmen, dabei bemerkte er, dass sie hochschwanger war. Vermutlich hatte sie sich nach den ersten Wehen alleine auf den Weg ins Dorf hinunter gemacht, was jedoch ihre Kräfte bei weitem überstiegen hatte. Einen stabilen Handyempfang hatte man hier oben nicht, dass musste auch Sepp feststellen, als er die Kollegen der Bergrettung rufen wollte.
„So ein Mist!“ Brummte er, denn er wusste, was ihm nun bevorstand.
Sepp schnallte seine Ski ab und versank sofort bis zu den Oberschenkeln im tiefen Schnee. Mit seiner Lawinenschaufel grub er eine gerade Fläche aus, auf die er seine Ski stellte. Ein Schlitten musste gebaut werden, wozu die Tourenski auch entsprechende Vorrichtungen hatten, wie dieses Loch an den Schaufeln. Er band die Spitzen und die hinteren Enden im Bereich der Bindung zusammen, dass sich eine Art Dreieck ergab. Das Ganze stabilisierte er mit seinen Stöcken.
„Gute Ausrüstung ist das A und O“ brummte er.
Aus einigen Tannendachsen schuf er noch eine weiche Unterlage, hob die leichte Frau auf den provisorischen Schlitten und band sie fest. Dadurch wurde sie wach und versuchte sich zu wehren, weil sie so verschnürt war und sich nicht bewegen konnte. Anscheinend kam gerade eine Wehe, denn ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz. Sie stöhnte laut auf und Schweiß stand auf ihrer Stirn.
„Alles gut, Maria.“ Beruhigte er sie. „Ich werde dich sicher ins Tal bringen.“
Aufmunternd lächelte er sie an und sie erwiderte es dankbar. Er war aber alles andere als zuversichtlich, denn Sepp wusste, dass das selbst für ihn kaum zu schaffen war. Er holte tief Luft und legte sich in die Seile.
Anfangs ging es noch ganz flott, kräftig wie er war, aber als sie den schützenden Wald verließen, wurde der Schnee noch tiefer. Seine Aufstiegsspur war schon zugeschneit. Jeder Schritt war eine unmenschliche Anstrengung, da er fast bis zur Hüfte versank. Schritt für Schritt kämpfte er sich vorwärts. Fast wie ein Schwimmer nahm er seine Arme und Hände zu Hilfe. Er konnte kaum noch denken, nur sein Herz trieb ihn vorwärts diese Frau, ihr ungeborenes Kind und sich selbst zu retten. Niemand anderes war hier, es lag bei ihm alleine. Seine Bewegungen waren irgendwann nicht mehr von seinem Gehirn gesteuert, sondern nur noch von purem Überlebenswillen.
Fast am Ende seiner Kräfte, sah er unter sich die warmen, einladenden Lichter des Dorfes. Der Schneefall hatte nachgelassen, ab hier war der Schnee auch nicht mehr so tief. Sepp blieb stehen und verschnaufte einen Moment.
Eine weitere Wehe ließ Maria hinter ihm laut aufschreien. Es war höchste Zeit!
Ab hier müsste er wieder guten Empfang für sein Handy haben. Er zog seine nassen Handschuhe aus und wählte mit steifen Fingern die Notrufnummer in seiner Kurzwahl.
„Bergrettung.“ Meldete sich eine ihm bekannte Stimme.
„Hans, i bin’s, da Sepp. I bin oben am Bärenbichl und hab a schwangere Frau dabei. Ruf an Notarzt und kommt’s ma entgegen!“ Seine keuchende Stimme war nur noch ein Flüstern.
„Schon unterwegs“ antwortete Hans, der sofort wusste, dass es sehr eilig war.
Sepp schleppte sich mühsam weiter. Schon wieder eine Wehe, die Abstände wurden kürzer. Auch wenn er eine fundierte Sanitätsausbildung hatte, wollte er lieber nicht darüber nachdenken, Geburtshelfer zu sein. Hoffentlich kam jetzt schnell Hilfe. Obwohl es ab hier leichter ging, war er doch am Ende seiner Kräfte. Nach einer gefühlten Ewigkeit von zehn Minuten sah er drei tanzende Lichter auf sich zukommen. Er setzte sich in den Schnee und gab mit seiner Stirnlampe Signale.
Die drei Retter hatten eine wannenförmige Akia mit warmen Decken dabei, um die schwangere Frau zu transportieren. Sie wurde hineingelegt, mit Riemen festgeschnallt und los ging es talwärts in schneller Fahrt. Der dritte, Hans, blieb bei Sepp.
„Trink erst amal den Tee, a Schnapserl is a scho drin.“ Meinte Hans und reichte Sepp einen Becher. Während Sepp trank und langsam wieder zu Kräften kam, entwirrte sein Freund den provisorischen Schlitten.
„Des hast‘ gut gmacht“ Stellte er anerkennend fest und klopfte Sepp auf die Schulter. So ein Lob von Hans kam schon einem Ritterschlag gleich. Dann schnallten sie ihre Ski an und schwangen in kurzen Bögen nebeneinander ins Tal hinunter.
An der Talstation stand schon ein blinkender Notarztwagen bereit, in den die junge Frau gerade hineingehoben wurde. Sepp setze sich erleichtert zu seinen drei Rettern auf eine Bank. Sie schwiegen und warteten, dass Sepp erzählte, was geschehen war. Diese Geschichte würde ihm keiner glauben.
Sepp dachte an den Hirsch und fragte sich, warum dieser ihn zu der schwangeren Frau in größter Not geführt hatte. Er würde es nie erfahren und dachte bei sich: Zieh lieber schnell weiter! Der Anderl mit seiner Büchse geht um. Er sollte diesen Hirsch nie wiedersehen.
„So a Glück, dass i die Frau gfunden hab.“ Meinte Sepp nur.
„Zur Christmette wer ma‘s nimmer schaffen.“ Grinste Hans.
„A bessere Ausred gibt’s ned“. Lachten die übrigen.
Sepp fragte sich allmählich, warum der Rettungswagen nicht längst auf dem Weg zur Klinik war.
In diesem Augenblick zerriss der erste Schrei des Neugeborenen die Nacht.