Das vierundzwanzigste Türchen
Der 23. Dezember nun
lies lesen uns eine Geschicht'
von
@****59 ohne Huhn
dafür aber mit Kicherlicht.
("Kicherlicht" ist ein neues Wort für das Aufglimmen einer Tüte im Dunkeln.)
Heute lesen wir von Musiktruhen, aus denen Radio Norddeich
Es geschah zu jener Zeit
Es rauschte aus den Lautsprechern der Musiktruhe. Dem Radioschrank mit Schallplattenspieler, an dem der Vater den Sender „Radio Norddeich“ suchte.
Im Kamin knisterten dicke Holzscheite, deren Flammen die kleinen Kinder faszinierten.
Die morgens frisch geschlagene, große Nordmanntanne verbreitete einen würzigen Duft. Dieses Weihnachten war es ein prächtig geschmückter Weihnachtsbaum, der mit seinem Schmuck und den Bienenwachskerzen die Kinder begeisterte. Die Tanne war kein Vergleich zu dem schwächlichen Baum des vergangenen Weihnachtsfestes. In dem Dorf war die Besorgung des Weihnachtsbaumes Aufgabe der Ehemänner. Manchmal wurde er gemeinsam mit den Kindern ausgewählt, doch war es Männersache ihn auf den Anhänger zu hieven, im Garten anzusägen und in den Weihnachtsbaumständer zu stellen. Geschmückt wurde er meist gemeinsam.
Im vergangenen Jahr lief die Besorgung nicht so rund. Der Heiligabendfrühschoppen verführte den Vater zu einem längeren Aufenthalt in der Dorfkneipe. Als er diese endlich verließ, war das Abendessen bereits vorbereitet und die Tannenbäume fast ausverkauft. In späteren Anekdoten wies er darauf hin, dass er den Bauern mit schwerer Zunge überreden musste, ihm den neben dem Misthaufen liegenden kleinen Nadelbaum zu überlassen. Er war so klein, dass er mühelos in den Kofferraum passte. Auf dem Anhänger wäre er verloren gewesen.
Die älteste Tochter konnte sich später als einzige der sieben Kinder an das Gezeter der Mutter erinnern, als der Tannenbaum, nebst Vater, endlich den Weg ins Haus fand. Es half alles nichts: Obwohl der Weihnachtsbaum schön geschmückt auf einen Tisch gestellt wurde und die neue Weihnachtsdecke unter ihm in ihrem rot leuchtete, so blieb er klein, krumm und schief. Hoch gebockt reichte er der Mutter gerade bis zur Brust. Nicht alle Kerzenhalter fanden Platz und viele Glaskugeln blieben in ihren Kartons. Die Kinder, ob groß oder klein, liebten ihn dennoch.
Die heutige Bescherung war vorbei. Die Kinder hielten sich zuvor gemeinsam in einem Kinderzimmer auf und als die Glocke im Esszimmer geläutet wurde, wussten die kleinen unter ihnen, dass das Christkind sie besucht hatte. Die Großen spielten mit. Ihnen war bekannt, dass zwei bestimmte Schränke ab Oktober für sie tabu waren, um nicht versehentlich einen ersten Blick auf die Weihnachtsgeschenke zu erhaschen.
Das älteste Mädchen las aus der Bibel vor, ihre um ein Jahr jüngere Schwester spielte Weihnachtslieder auf der Blockflöte, die der Rest der Familie falsch mitsang. Sofern sie schon singen konnten. Das Baby brabbelte währenddessen vor sich hin.
Betrachtet man das Familienfoto von diesem Fest, so sieht man die Mädchen in Strumpfhose und Kleid gekleidet, die Haare zu langen Zöpfen geflochten. Die Jungs tragen Latzhose und selbst gestrickte Pullover. Das Baby einen Strampler.
Die Geschenke wurden vorsichtig ausgepackt und sich herzallerliebst über diese gefreut. Die Klebestreifen wurden vom Geschenkpaper entfernt, das Papier glattgestrichen, einmal gefaltet und in den Schrank im Keller gebracht. Zur erneuten Verwendung im nächsten Jahr.
Das Abendessen war beendet. Der Kartoffelsalat mit Würstchen schmeckte wie an jedem Heiligabend und der Bratapfel mit selbstgemachter Vanillesauce war nicht nur für die Kinder ein kleines Highlight im Dezember.
Das rauschen war vorbei und aus dem Radio grüßte Radio Norddeich mit „Gruß an Bord“. Bescherung und das Abendessen richteten sich nach dieser Radiosendung. Nachdem der Kamin entzündet wurde, alle Kinder in ihre flauschigen Frotteeschlafanzüge gesteckt wurden, saßen sie nun mit den Eltern um den Couchtisch und lauschten den knisternden Weihnachtsgrüßen von Angehörigen an ihre Männer auf See und umgekehrt. Seit 1953 wurde „Gruß an Bord“ gesendet und auch diese Familie hörte zu. Berührt. Gerührt. Still. Unterbrochen vom jauchzen oder weinen des Babys, während er an seinem Schnuller nuckelte und die kleine Holzrassel in den Händen hielt. Wie die Grüße ins Radio kamen, war den Kindern nicht wichtig. Telegramme, Küstenfunkstelle und Norddeich waren ihnen damals noch unbekannt. Die maritime Musik, die zwischen dem vorlesen der Telegramme oder den einzelnen vermittelten Gesprächen gesendet wurde, gefiel ihnen besonders. Manch ein Weihnachtsgruß rührte nicht nur die Eltern zu Tränen. Sie hatten keine Angehörige, die zur See fuhren und doch hörten sie zu. Wurde Fernweh oder Einsamkeit, die bei den Montageeinsätzen des Vaters aufkamen, kompensiert? Oder entsprach die vermittelte Stimmung von „Gruß an Bord“ der Botschaft und der Stimmung des Weihnachtsfestes?
Den kleineren Kindern fielen die Augen. Nachdem sie ins Bett gebracht wurden, wurde zusammengerückt und der heiße Apfelpunsch serviert, während der Sendung weiter zugehört wurde. Einige Male kamen Taschentücher zum Einsatz, unterdessen gemeinsam geschwiegen wurde. Ein schönes, verbindendes Schweigen. Unterbrochen vom gelegentlichen Schlürfen des heißen Punsches.
Es geschah zu jener Zeit, jenen Jahren, als niemand von ihnen ahnen konnte, dass Untreue und Trennung diese Familie auseinanderreißen würden. Geschwister getrennt werden würden, die Holzrassel verloren gehen würde, Schlafanzüge aus Frottee kaum produziert werden würden und die Stunden mit Radio Norddeich nur noch eine Erinnerung bleiben würden. Die verstorbene Mutter die Geschichte des kleinen Weihnachtsbaums nicht mehr zum Besten geben und über ihren angetrunkenen Ex-Mann an Heiligabend lachen würde.
Allein der Kartoffelsalat mit Bockwürsten fiel nicht der Erinnerung zum Opfer. Jedes Familienmitglied überführte ihn als Tradition in seine neue Familie.