Auf dem Weihnachtsmarkt
Die wenigen Leute, die zu Ingrids Beerdigung gekommen waren, machten sich auf den Heimweg. Auch ihr einziger Sohn, der schon lange in den USA lebte, war angereist und ging nun mit an anderen in Richtung Parkplatz.
Wie schon viele Male zuvor, zermarterte er sich das Hirn, wie es nur dazu hatte kommen können. Was um alles in der Welt, hatte seine Mutter da gemacht? Wer war dieser südländische Mann gewesen, mit dem man sie hatte sprechen sehen?
Nikolaus. Wie toll.
Der Arsch von Abteilungsleiter, hatte ihr heute noch einen Stapel Anträge aufgehalst, die dieses Jahr noch bearbeitet werden müssen. Immer rauf mit dem Stunden aufs Überstundenkonto.
Sie hörte, wie ihre Kolleginnen sich dazu verabredeten, noch zusammen auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Lecker Eierpunsch! - hatte Juliane laut gerufen.
Ingrid wäre auch gerne mitgegangen, fragte aber schon lange nicht mehr. Zu oft waren sie ihr mit Ausreden gekommen.
,Dann gehe ich eben alleine hinՙ, sagte sie sich.
Vorher wollte sie noch schnell ins Kaufhaus. Die hatten Räumungsverkauf, mit vielen tollen Angeboten. Wolle stand ganz ober auf ihrer Liste. Der Lutz, ihren Sohn, sollte einen schönen, warmen Pullover bekommen. Er lebte schon seit vielen Jahren in Seattle, und da konnte es richtig eisig werden. Sie war schon mal da – zu x-mas.
Da hatte der Klaus noch gelebt. Nun war er schon fast sieben Jahre weg. Und sie war alleine.
Fast alle Freundschaften waren im Lauf der Jahre im Sande verlaufen.
Es waren halt alles seine Freunde und sie war mit der Mentalität hier auch nie wirklich warm geworden. Die anderen Frauen im Kegelclub, haben angefangen sich, um ihre Männer zu sorgen. Sogar Renate. Als ob sie scharf auf ihren Berndt – mit dt – wäre.
Angebot hatte allerdings, nach einer, wie sie fand, eher kurzen Trauerphase, schon gegeben.
Und als sie diese allesamt brüsk zuwies, war sie bei Klaus alten Kumpels sowieso unten durch. Eigene Freunde hatte sie nie gefunden.
Zwei Stunden später und mit zwei Einkaufstaschen bepackt, überquerte Ingrid, mit schnellen Schritten, die unbedachte Fläche des Marktplatzes, zwischen der Einkaufs-Passage und dem ersten Glühweinstand. Ingrid bestellte einen Eierpunsch.
Es tat gut, das heiße Glas in den kalten Händen zu halten.
Sie sah sich um. Auf dem Platz vor dem alten Rathaus reihten sich Stand an Stand. Dazwischen ein paar Fahrgeschäfte. Überall wuselten die Leute durcheinander. Die einen unterhielten sich lachend und angeregt dort, wo es Getränkes gab. Andere kauten still ihr Essen an den verschiedenen Fressbuden. Eltern winken ihren Kindern auf dem Karussell und verliebte Pärchen küssten sich vor und auf dem kleinen Riesenrad.
Als sie sich wieder zum Tresen drehte, fiel ihr ein Mann auf, der ein paar Meter links von ihr gerade einen Glühwein bestellte.
Es war ein schöner Mann. Groß – mindestens 187. Gepflegt. Gut gekleidet. Tolle Frisur.
Ingrid versuchte, einen Blick auf seine Hände zu werfen. Sie liebte schöne Hände.
Mist. Er trug so dünne, schwarze Lederhandschuhe.
,Die halten bestimmt nicht sehr warmՙ, dachte sie bei sich.
Ingrid stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn dieser fremde Mann, damit ihren nackten Körper berühren würde. Vielleicht auch mal etwas fester zupacken täte. So wie Klaus es ganz früher manchmal macht. Bevor Lutz kam.
Würde sie doch nur irgendjemand mal wieder berühren. Sie in den Arm nehme. Mit ihr zusammen einschlafen und aufwachen würde. Jemand zum Verreisen. Oder mal ins Theater.
Plötzlich bemerkte sie erschrocken, dass sie den fremden Mann noch immer ansah.
Und er sah sie an. Jetzt hob er sein Glas in ihre Richtung und nickte ihr zu.
Wie peinlich. Ingrid wäre am liebsten, sofort im Erdboden versunken.
Da damit nicht zu rechen war, hob sie stattdessen ihren halbleeren Eierpunsch und nickte ebenfalls.
Der Mann lächelte ihr freundlich zu, und sie hätte schwören können, dass er ihr auch kurz zu gezwinkert hat. Ganz kurz. Aber auch ganz bestimmt.
Ob sie ihn ansprechen sollte. So etwas hatte sie noch nie getan.
,So ein Quatschՙ, sagte sie sich. Niemals würde sich so ein Mann mit ihr unterhalten wollen. Das wäre ihm vielleicht sogar peinlich.
Sie trank den nur noch lauwarmen Punsch aus und bestellte noch einen zweiten.
Plötzlich leerte sich der Tresen zwischen ihr und dem schicken Mann.
Er telefonierte gerade und schien etwas angespannt zu sein.
Ingrid stellte sich vor, wie er gerade mit Japan einen Mega-Deal machte. Dabei ging es um viele Millionen. Aber er stand hier ganz cool, trank Glühwein und zwinkerte schönen Frauen zu.
Als sich dieser erneute Tagtraum vor ihren ins Nichts blickenden Augen auflöste, stand er auch schon vor ihr. Beinahe hätte sie den Eierpunsch verschüttet.
„Hallo“, sagte er und hielt ihr die Hand hin. „Ist doch blöd, wenn wir beide hier so alleine herumstehen. Ich heiße Flavio.“
Ein Italiener. Ingrid konnte ihr Glück kaum fassen. Wenn sie das – ja wem? - erzählen würde.
Vielleicht Frau Zielinski, ihrer Fußpflegerin, die sich so aufopferungsvoll um ihren eingewachsenen Zehennagel gekümmert hatte. Das war auch schon wieder drei Jahre her. Oder waren es vier?
„Und wie heißen Sie, wenn ich fragen darf?“
„Oh, Entschuldigung“, stammelte sie. „Ich heiße Ingrid.“
Nun ergriff sie auch endlich seine Hand. Das Leder fühlte sich unglaublich weich an. Das waren richtig teure Handschuhe. Für Männer von Welt.
Ohne es zu merken, prüfte sie, ob der Knoten, zu dem sie Haar immer drehte, noch saß.
Ihre Hände lösten sich. Er stellte eine schwarze Aktentasche auf den Barhocker neben ihm.
„Wohnen Sie hier oder sind Sie zu Besuch?“, fragte Flavio. Sein Deutsch war perfekt, hatte aber diese tollen, ausländischen Akzent, obwohl der Ingrid so gar nicht an Italien erinnerte.
„Ja, ich wohne schon sehr lange hier“, antwortete sie. „Und was ist mit Ihnen?“
„Ich lebe in Mailand. Bin aber hier in Deutschland aufgewachsen. Meine Mama ist Italienerin, mein Vater war Algerier. Von ihm habe ich die Nase.“
Er tippte sich an dieselbe und lachte laut. Dabei entblößte er zwei perfekte, schneeweiße Zahnreihen. Millionärszähne.
„Oh, wie aufregend. Und nun machen Sie bestimmt Geschäfte hier.“
„Woher wissen Sie das, Ingrid?“, fragte er mit gespielter Überraschung.
„Na, ja“, begann sie. „Sie sind so schick angezogen. Und sie strahlen so etwas Weltmännisches aus. Das sieht man hier nicht so oft. Können Sie mir glauben.“
„Aber das tue ich doch. Denn Sie, Ingrid, sind bestimmt eine Frau, die genau hinschaut. Eine Frau mit gutem Geschmack.“
Ingrid wurden die Knie weich. Flirtete dieser italienische Hugh Grand gerade mit ihr?
Zu ihrem eigenen Entsetzen spürte sie, wie ihre Nippel sich zusammenzogen. Das hatte sie schon lange nicht mehr gespürt. Wie lange war das jetzt her?
„Wo sollte ein Besucher Ihrer schönen Stadt denn heute Abend noch hingehen, wenn er sich etwas amüsieren möchte?“, fragte er, wobei er ihr tief in die Augen blickte. „Vielleicht auch in netter Gesellschaft.“
„Nun.“ Sie musste sich erst einmal räuspern. „Da wäre das Al Pappagallo, einer ganz feiner Italiener.“ Sie sah, dass er schmunzelte.
„Ach, wie dumm von mir. Sie wollen ja bestimmt keine schlecht kopierten Landesgerichte essen? Spanisch?“ Ihr Gegenüber wackelte leicht mit dem Kopf.
„Dann vielleicht die regionale Küche. Da empfehle ich Ihnen den Jägerhof. Da kann man nichts falsch machen.“
„Das ist zufällig mein Hotel“, lachte er.
„Na, das ist ja ein Zufall. Da habe Sie es ja nicht weit.“ Auch Ingrid lachte.
Mitten in ihr Lachen hinein, fragte er sie, ob sie ihn begleiten würde.
Spontan und sehr zu seiner Freude stimmte sie zu.
„Vorher muss ich aber noch nach Hause und mich zurechtmachen. So gehe ich da nicht mit Ihnen hin.“
Jetzt war es kurz nach sieben. Zwei Stunden sollten reichen.
„Ich kann so gegen neun bei Ihnen im Hotel sein.“
„Ganz wunderbar, Ingrid. Ich freue mich auf einen unvergesslichen Abend mit Ihnen. Aber nun muss ich gehen. Ich habe noch einen wichtigen Geschäftstermin. Wir sehen und dann um neun Uhr im Restaurant.“
Er lächelte sie noch einmal an, hob die Hand zum Gruß, drehte sich um und ging weg.
Ingrid war im siebten Himmel. Ein Rendezvous. Sie hatte ein Rendezvous. Unfassbar.
Eilig leerte sie ihr Glas. Als sie es auf den Tresen stellte, sah sie, dass Flavio seine Aktentasche vergessen hatte. Bestimmt, weil er auch ganz aufgeregt gewesen war.
Schnell sah sie sich nach ihm um. Er war schon verschwunden. Würde sie ihm die Tasche halt später mit ins Hotel bringen. Aber vielleicht brauchte er sie für seinen wichtigen Termin. Womöglich gingen viele Millionen verloren.
Sie versuchte, die Schlösser zu öffnen. Siehe da, beide sprangen sofort auf. Darin würde sie bestimmt seine Mobilnummer finden. Dann würde sie ihn anrufen und ihm die Tasche vorbeibringen. Die so verlorene Zeit würde sie dann natürlich später kommen. Egal ― Hauptsache, die Millionen wären gerettet. Er würde ihr sicher sehr, sehr dankbar sein.
Ingrid sah sich schon bei Kerzenschein Austern schlürfen und Champagner trinken.
Doch als sie in die geöffnete Aktentasche blickte, sah sie statt Akten nur bunte Kabel und ein blinkendes rotes Licht.
Ganz plötzlich wurde es unglaublich heiß und ganz hell.
Ingrid hatte ein ganz seltsames Gefühl. So hatte sie sich noch nie gefühlt. Und so würde sie sich auch nie wieder fühlen. Sie würde überhaupt nie wieder etwas fühlen.
dpa: Explosion auf Weihnachtsmarkt.
Motiv noch unklar. Ein terroristischer oder islamistischer Hintergrund wird zur Stunde geprüft.
Mehrere Menschen kamen heute am späten Abend, bei einer Explosion ums Leben. Viele, teils schwer Verletzte. Polizei tappt noch im Dunkel und bittet die Bevölkerung um Mithilfe. Eine aktuelle Gefährdung liege allerdings nicht vor.
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