Das vierte Türchen
Die gestrige Geschichte von Augustin, dem Pisspagen ist auf dem Mist von @*******_HB gewachsen (ich finde, das Sprachbild passt
).
Heute lesen wir von Nena und ihren Kochkünsten
Nemesis (Süß-scharfe-Rache)
Ein Beben durchzog die Arbeitsplatte just in dem Moment, als sich das Sonnenlicht im glänzenden Stahl der Messerschneide spiegelte.
Die Sonne schien durch das große Küchenfenster auf ihr Gesicht und auf die Arbeitsplatte und heizte dabei nicht nur ihre Klinge auf. Durch das Schneiden der Chilis in feine Ringe wurde es ihr noch heißer. Mit heftigen Messerstößen schnitt sie das Paprikagemüse. Die besondere Würze für das Adventsessen, welches sie heute für die Familie zubereitete.
Nena war in ihrem Element. Immerhin war es schon immer ihre liebste Freizeitbeschäftigung zu kochen.
Heute umso mehr für sie der Anreiz, eine exquisite Speise für die ganze Familie zuzubereiten und mit einer besonderen persönlichen Note zu versehen. Ihre Cousinen, Cousins, Tanten und Onkel kamen diesen Sonntag zusammen. Wie jeden Adventssonntag trafen sie sich alle Jahre und es war Tradition, dann im steten Wechsel die Hauptspeise für alle zuzubereiten. Sie war dieses Mal besonders nervös und aufgeregt, hatte sie doch das Gefühl, sich mit diesem Essen beweisen zu müssen. Und gleichzeitig war es auch eine Vergeltung für sie.
Es geschah vor langer Zeit…, so hätte diese Geschichte eigentlich beginnen sollen. Wo doch die Einführung der Frauenrechte schon seit langem eine Selbstverständlichkeit war und es eher befremdlich anmutete, den Frauen das Recht auf Eigenbestimmung abzusprechen. Doch in ihrer Familie war diese Zeit wohl noch nicht beendet. Frauen wurden von ihren Verwandten nach wie vor schief angeschaut, wenn sie sich anders verhielten, als von ihnen erwartet wurde.
Nena hatte sich von ihrem Mann getrennt und war ins Haus ihrer verstorbenen Eltern gezogen. Dieses befand sich im gleichen Ort, in dem auch der Großteil ihrer restlichen Familie lebte. Als einzige und erste Frau in der Familie hatte sie es gewagt, sich scheiden zu lassen. Welch Frevel. Sie wusste, dass die Familie es nicht guthieß, dass sie ihren „armen“ Mann verlassen hatte und eigene Wege ging.
Sie wurde von der männlichen Seite ihrer Familie schief angeschaut, sogar gemieden und selbst ihre Tante ließ kein gutes Wort an ihr.
Abwertend hatte diese sich geäußert, als sie von Nenas Scheidung erfuhr:
„Wo kämen wir denn hin, wenn jede Frau ihre Pflichten vernachlässigt und sich nur noch um ihr eigenes Wohlergehen kümmert. Und wer sorgt dann für die Kinder?“
Nenas Ehe war kinderlos geblieben. Das erleichterte ihr natürlich die Trennung, wenngleich es nicht einfach fiel, die letzte Konsequenz zu ziehen. Wie so viele andere Frauen in ihrem Umfeld war sie genauso in dieser Beklemmung gefangen. Sie wusste darum, dass die Frauen in ihrer Familie auch Trennungsgedanken hegten, welche diese immer wieder verwarfen. Weil eine Frau das halt nicht macht, denn sie habe sich nun mal unterzuordnen. Sie begnügten sich dann damit, es in ihrer kleinen Welt auszuhalten. Sie erduldeten es und fügten sich in etwas, was für sie so etwas wie Schicksal vorgezeichnet schien! Nena fragte sich bereits seit Jahren, ob dies die richtige Einstellung zu einem glücklichen und zufriedenem Leben sein konnte.
Und so war es vielleicht vorgezeichnet, dass der Kontakt zu einer Familie, welche ihr Verhalten und ihr Denken nicht verstanden und tolerieren wollten, zunehmend einschlief. Umso mehr verwunderte sie diese Einladung, sich am traditionellen Adventsessen zu beteiligen. Ihr erster Gedanke war, die Einladung abzulehnen, wollte sie doch mit dem ganzen Pack, welches sich Familie nannte, nichts zu tun haben. Und doch: Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr reifte in ihr ein scharfsüßer Gedanke, der sie erheiterte. So sagte sie zu.
Nena hatte sich etwas ganz Besonderes vorgenommen. Immerhin schien es ihr an der Zeit, den Damen und Herren ihrer Familie einzuheizen.
Man sagt zwar, Rache schmeckt am süßesten, wenn sie kalt serviert wird, das reichte Nena bei ihrer Familie nicht. Ihr war klar geworden, dass es einer gewissen Schärfe einer Nemesis bedurfte, um sich gegenüber ihrer Familie zu behaupten. Also frisch ans Werk!
Die dünn geschnittenen Hähnchenbrustfilets marinierte sie zuerst in einer dünnen Zuckersojasoße, danach wendete sie die Fleischstücke in einer Ingwer-Mehl-Knoblauch-Chili-Panade, sodass diese mit einer feinen, pikanten und garantiert anregenden Schicht bedeckt waren.
Solange sie das Gemüse und die Vorspeise vorbereitete, ruhte das Fleisch in der pudrigen Marinade. Die Orangen filetierte sie und beträufelte sie mit einigen Spritzer Zitrone und feinem Balsamico Creme mit Granatapfelkernen. Während der Basmatireis köchelte, briet sie die gewürfelten Zwiebeln in der Pfanne an. Hernach nahm diese wieder heraus, um sie dann zusammen mit den frisch geschnittenen Chilischoten, die marinierten Filets in Sesamöl von beiden Seiten anzubraten. Abschließend stellte sie die Platte mit dem gebratenen Fleisch zum Ruhen in den warmen Backofen. Dem verbliebenen Fleischsud in der Pfanne fügte sie wieder die Zwiebeln hinzu, ließ diese langsam karamellisieren und löschte diese mit einem Glas Sherry ab. Anschließend gab sie das Fleisch wieder in die Chili-Zwiebelsoße und ließ es noch ein paar Minuten ziehen.
Nena nahm einen Teelöffel, tauchte ihn in die Soße, führte diesen in ihren Mund und ließ die Flüssigkeit auf ihrer Zunge zergehen. "Hmmm, – köstlich!" schnurrte sie vor sich hin.
Süß und pikant, oder sogar scharf, das war genau das, was sie erzielen wollte.
Die Schärfe der Chilis war jedoch mehr im Nachgang zu erahnen. Damit brachte man jedes kalte Herz zum Schmelzen. Das brachte garantiert eine gewisse Heiterkeit und ein wenig Feuer unterm Arsch in die erlauchte Tischgesellschaft.
Ihr Lieblingscousin, der ihr beim Tisch decken geholfen hatte und sich um die Gäste kümmerte, kam herein "Oh, das duftet ja sehr gut, darf ich mal kosten?"
Tom, ein gut aussehender Mittdreißiger, war das einzige Familienmitglied, das sie in ihr Herz geschlossen hatte. Er war schwul und ein so wunderbarer, unkomplizierter Mensch, den alle lieben mussten. Insgeheim wussten alle, dass er homosexuell war. Aber keiner redete darüber, und Tom kam damit zurecht, dass es allenfalls stillschweigend geduldet wurde. Wohnte er ohnehin meist in der fernen Hauptstadt und fand sich nur zu Weihnachten oder anderen Familienfesten in die Heimatstadt ein.
Nicht nur dieses Anderssein verband die beiden, Nena und Tom waren seit Jahren sehr eng befreundet und redeten über alles miteinander.
Nena reichte ihm einen Teelöffel, um von der Soße zu probieren. Tom schloss die Augen, als er die Soße kostete: "Nena, du kleines Luder: Das wird ein deliziöses und heißes Mahl!“, nicht ohne ihr den Teelöffel mit einem verschmitzten Zwinkern zurückzugeben und nachzusetzen:
„Kann ich dir noch behilflich sein? Es sitzen schon alle am Tisch und warten ungeduldig."
"Dann hilf mir, die Vorspeisenteller mit der Birne mit Gorgonzola und Walnüssen auf Rucola zu servieren. Ich entkorke noch schnell den Sherry."
Am großen Esstisch im Haus ihrer verstorbenen Eltern hatten sich alle weiteren Personen bereits niedergelassen. Ihre verwitwete Tante Gabi, die Mutter von Tom, ihre Cousine Anette mit Ehemann Nils, ihre Tante Sibylle, die Mutter von Cousine Anette, dessen Ehemann Peter und ein guter Freund von Peter, Louis, der überraschend dazu geladen wurde.
Es fehlten nur noch Tom und Nena. Nena goss den Sherry in die einzelnen Gläser und reichte sie weiter, setzte sich auf ihren Platz und eröffnete das Diner mit den Worten: "Zum Wohl und guten Appetit!"
Eine illustre Runde sammelte sich da am großen Tisch im Esszimmer, welches direkt neben der Küche platziert, ebenfalls ein Panoramafenster hatte. Die Sonne ergoss sich zur Mittagszeit durch das Fenster und tauchte den Raum in ein bereits verblassendes goldenes Mittagslicht.
In der Ecke des Raumes knisterte, als zusätzliche Wärmequelle, das Holz im Kamin. Wie nicht anders zu erwarten, kreisten die Tischgespräche um belangloses Zeug. In willkürlicher Reihenfolge über das milde Wetter im Dezember, die zunehmenden Energiekosten, den üblichen Vorweihnachtsstress, nichts als belangloses Geplänkel. Peter, der älteste im Raum, erhob das Glas und sie stießen auf die Gesundheit und das Beisammensein an.
Die Vorspeisenteller wurden weggeräumt und Nena holte die Pfanne mit dem Geflügel, auf die sie nachträglich noch eine Handvoll frischen Koriander mit ordentlich getrockneten Chiliflocken gestreut hatte. Dazu reichte sie Basmatireis und die Orangenfilets, diese überzogen mit einem dünnen Film dunkler 53-prozentiger Ecuador-Schokolade und mit einem Hauch von Chili auf Granatapfelmarinade. Der Geruch war verführerisch, ja regelrecht betäubend. Der frische Duft von Koriander vermischte sich mit dem Chili, den karamellisierten Zwiebeln und dem marinierten Fleisch. Ein Raunen stieg von den Gästen auf, als sie den aromatischen Duft einatmeten. Sofort wurde ein Handy herausgeholt und ein Foto vom Mahl geschossen.
Nena verteilte das Fleisch auf die Teller, genau austarierend, wer mehr Zunder bekam.
Als die Portionen auf den Teller verteilt waren, prosteten sie sich zu und fielen sogleich in ein genussvolles Schweigen. Dann, nach einigen Atemzügen und Bissen, breitete sich eine Stille im Raum aus, sodass Nena den Atem ihres Tischnachbarn hören konnte. Nena beobachtete die Tischgesellschaft, wie sie ungewöhnlich still am Tisch saßen und das Fleisch auf ihren Zungen zergehen ließen. Sie bemerkte auch, dass die Gesichter von manchen erröteten, genauer gesagt, eine gesunde Durchblutung des Kopfes zu erkennen war.
Nena hörte das Zwitschern eines Vogels, welches vorbeiflog. Seit mehreren Minuten herrschte Stille am Tisch, nur ein Schmatzen hier und da. Ihr Cousin Nils, zu ihrer linken Seite, hatte einen ordentlichen Schweißausbruch, die Schweißperlen verteilten sich über sein Gesicht und Hals. Er war der Erste, der sich äußerte. Er musste Luft holen, um zu sprechen. Die Schärfe raubte ihm fast den Atem,
"Nena, da ist dir ein außergewöhnlich köstliches Essen gelungen. Du könntest ein Restaurant aufmachen!“ Und strahlte sie mit seinem glühend heißen Kopf an.
Seine Frau, ihre Cousine Anette, nickte bedächtig, ein paar Schweißtropfen rannen ihre Stirn herab und auch sie schnappte nach Luft, bevor sie sprach: "Ich kann mich dem nur anschließen!"
Ihr Onkel, reihte sich in den Lobgesang ein und sagte "welche zarter und gleichzeitig köstlicher Genuss, besonders die karamellisierten Zwiebeln runden den Geschmack ab."
Hob das Glas und kippte den Rotwein in einem Zug aus.
Ihre Lieblingscousin Tom meldete sich nun auch zu Wort:
"Das beste Essen, was ich je gegessen habe, hast du heute für uns gezaubert!" Dabei glänzten seine Augen leicht feucht.
Ihre zwei Tanten und der Herr zu ihrer Rechten nickten bedächtig und sagten gleichzeitig:
"Köstlich!“ In den Gläsern, welche mit einem guten Cabernet Sauvignon Reserva gefüllt waren, spiegelte sich die roten, aber auch zufriedenen, Köpfe eines jeden Gastes am Tisch.
Die Genugtuung, dass alle das Brennen in ihren Gaumen und Mägen spürten, es jedoch nicht verhindern konnten, sowohl wegen des Weines, der auch betäubte, als auch des köstlichen Fleischgeschmacks wegen, stimmte sie friedlich. Sie war auch gerührt von diesem umfassenden Lob und merkte, wie ihre Anspannung, die sie schon seit Tagen hatte, sich löste, zusammen mit einer Träne im Augenwinkel.
Nenas Erwiderung hierauf blieb ihr regelrecht im Halse stecken. Es kamen ihr lediglich ein paar Tränen hoch. Der Freund von ihrem Onkel Peter schaute sie besorgt an und fragte, ob alles in Ordnung wäre. Sie schluckte, nahm einen tiefen Atemzug und sagte: "Ich bin gerührt von eurem Zuspruch. Danke euch und lasst es euch schmecken!"
Als ihr Cousin zu ihrer linken Seite ihre Tränen sah, lief ihm auch eine Träne. Das berührte Nena noch mehr. Sie entdeckte in den Gesichtern der Gäste, wie ein süßer Sinnentaumel in allen Augen leuchtete. Die Schärfe des Essens war den erhitzten und roten Köpfen deutlich anzusehen und die meisten hatten Tränen im Gesicht. Ob dies der Rührung oder der Schärfe geschuldet war, vermochte sie nicht zu erkennen.
Lediglich das gequälte Lächeln des einen oder anderen offenbarte Nena, dass einige der Anwesenden darum rangen die Fassung zu bewahren.
Peters Freund Volker äußerte sich beeindruckt:
"Ihr Essen, ist nicht nur köstlich, sondern auch heiß“, zwinkerte ihr mit einem leicht geröteten Gesicht und fügte hinzu:
„So wie die bezaubernde Köchin!“
Die Hitze stieg allen in den Kopf. Mit einem zufriedenen Grinsen nahm Nena zur Kenntnis, dass die Chilisauce ihren Zweck erfüllt hatte. Und sie war sich bewusst, dass das Inferno für die Anwesenden noch nicht sein Ende genommen haben dürfte.
Vorerst genug der Abrechnung mit den Verwandten. Sie war stolz darauf, eindrucksvoll ihre Unabhängigkeit unter Beweis gestellt zu haben. Und schmunzelte, dass sie mit dem Essen die Gemüter einheizen konnte und scheinbar sogar für sich gewinnen konnte. Immerhin ein netter Nebeneffekt.