Das fünfte Türchen
Wie ich das so sehe, hatte bis fast zum Schluss keiner
@*******tee erraten - oder sehe ich das falsch?
Auf jeden Fall wurde mir beim lesen ganz warm
Heute sind es bretonische Fischer, die uns Salz auf unsere Haut befördern. Ein schönes Kleinod!
Ein Wunder?
Es ist ziemlich kühl geworden in der letzten Woche und das Meer wirft keine begehrlichen Blicke mehr auf die Passanten, die das Brausen der Gischt beobachten. Pére Noël zeigt schon überall seine baldige Ankunft. Allerdings hat er sich wohl mit Erfolg gegen die Verballhornung seiner Person in Form einer überlebensgrossen Gummigestalt gewehrt, die in den letzten Jahren auf der Einfahrt zur Hafengarage aufgeblasen breit grinsend hing. Gleich daneben glitzert das Riesenrad, dessen TÜV-Abnahme ich seit meinem einzigen Fahrversuch beständig anzweifele. Dünne Metallgondeln, stahlharte Sitze und windgepeitschte Verstrebungen schrecken jedoch die Interessenten nicht ab. Und so dreht es sich neonschillernd schwankend auch heute unermüdlich am Küstensaum.
Bevor ich heute zum Markt gehe setze ich mich noch auf eine der Holzbänke am alten Hafen und schaue den Fischern zu. Sie tragen ihren Fang mit großen Plastikkisten aus den Booten. Louis, ein alter Freund, winkt herüber, er scheint etwas zu rufen. Doch die Möwen und der Straßenlärm verwirbeln die Worte noch bevor sie mein Ohr erreichen.Von weitem sehe ich Jean auf mich zu kommen. „Na, fährst Du heute mit mir?“ Grinsend setzt er sich dicht neben mich. Er hat einen Lagoon 42 Katamaran, den er im Sommer vermietet. Im Herbst und Winter allerdings ist er gerne alleine unterwegs.
„Die Fock“, beginnt er und zeichnet ein Dreieck in die Luft. „Ja, ich weiß“, unterbreche ich ihn. „Du willst mir immer noch das Segeln beibringen.“ „Was weißt Du denn schon, das ist kein normales Segeln! Lass uns mal eine Woche für dich planen!“ „Hahaha, eine ganze Woche, die Zeit brauche ich zum Schreiben und kann mich nicht auf dem Meer rumtreiben.“„Ein Katamaran“, beginnt Jean dozierend „verhält sich beim Segeln anders als ein normales Segelboot. Eine Krängung ist kaum vorhanden, dennoch ist ein Katamaran sehr sportlich. Da die fehlende Krängung nicht warnt, sollte rechtzeitig gerefft werden. Die Reffleinen von Großsegel holen Vor- und Achterliek gleichzeitig nach unten. Dabei hilft eine Elektrowinsch am Steuerstand.“
„Ich verstehe kein Wort. Sag mir lieber was ich in meiner Geschichte schreiben soll. Irgendwas mit Weihnachten und mit früheren Zeiten. Abgabeschluss ist schon morgen!“ „Da wird uns schon etwas einfallen“, sagte er schmunzelnd. „Ich helfe Dir, wenn Du mir versprichst beim nächsten Sonnenschein mit mir aufs Meer zu fahren.“
„Ok, so machen wir es! Gehen wir jetzt zusammen zum Cafe du Marché oder erst kurz in die Kathedrale? Wie ich hörte sind schon einige Figuren der provencialischen Weihnachtskrippe zu sehen.“ Ich ziehe die Var Matin aus der Tasche und beginne laut vorzulesen: „Die Tradition der Weihnachtskrippe mit ihren Santons ist in der Provence verankert. Jedes Jahr treten Figuren aller Größen ins Rampenlicht, um uns das Leben unserer Dörfer von einst mit den detailliert dargestellten Berufen zu erzählen. In einem für die Provence typischen Dekor, mit Häusern und Dorfplatz, Kirche, Gassen und Brunnen, umsäumt von der Garrigue, den Olivengärten und Lavendelfeldern, treffen der Müller und sein Esel so auf den Scherenschleifer und die Tamburinspielerin; der Hirte mit seiner Herde begegnet dem Wasserträger, dem Lumpensammler oder dem Kaminfeger.“
„Das klingt ja wie aus einem Werbeprospekt“ ruft Jean. „Es sollte viel mehr über die Besonderheiten der Gegend geschrieben werden und nicht nur über Politik und Wirtschaft, Rezession und Agonie.“
Er geht jetzt auf dem schmalen Trottoir hinter mir und legt seine Hand auf meine Schulter mit der Bemerkung „ja, ich hab da was für dich, vielleicht kannst Du es für Deine Geschichte gebrauchen.“
Ich bin gespannt. Vorbei am Office de Tourisme kommen wir durch die Rue Pierre Auble zur Basilique Notre Dame-de-la-Victoire und öffnen die grüne Holztür. Sofort umfängt uns eine satte Stille, aber auch leise Orgelmusik und Wohlgeruch.
Das Licht fällt durch die bunten Glasfenster. Wir setzen uns mit Blick auf die charakteristische Kuppel, die weitgehend von der Hagia Sophia in Istanbul inspiriert ist.
„Vor langer Zeit, es war im Jahre 1660, so sagt man…“ begann Jean zu erzählen, „gab es in einem kleinen Weiler unweit der Küste ein Wunder.“ „Ein Wunder?“ frage ich überrascht. „Ja, so ist es überliefert. Der Sommer war sehr heiß und die Menschen wurden krank. Das Korn auf dem Feld vertrocknete. Alte und Schwache wußten nicht ob sie den nächsten Tag noch erleben würden. Es kam an einem Sonnabend ein Wandersmann des Wegs, groß gewachsen und mit einem langen Stab in der Hand. Der junge Hirte Gaspard hütete wie immer seine kleine Herde mit Schafen nördlich des Ortes. Die Tiere fanden kaum frisches grünes Futter, alles war in der Glut verdorrt, einzig wilder Wacholder und Bergbohnenkraut boten den Tieren etwas Nahrung. Seine Wasserflasche war schon lange leer.
Da traf er auf den Wanderer, dieser sah die Not des Jungen und sagte, ich bin Josef, gehe zu dem grossen Felsen und hebe ihn hoch, da wirst du Wasser finden. Der schaute ihn fassungslos an, wie soll das gehen, er hatte keine Kraft einen Felsen anzuheben. Doch der Mann ermutigte ihn und mit all seinem Willen hob er den Felsen an und fand darunter eine sprudelnde Quelle. Nach einem grossen Schluck drehte er sich um und wollte dem Manne danken, doch da war niemand mehr. Er lief in das Dorf und erzählte es den Leuten und weil keiner ihm glaubte nahm er alle mit zu der Quelle. Dort floss das Wasser in Strömen und die Menschen brachen in Rufe des Erstaunens und der Verwunderung aus, die sich weiter steigerten, als sie feststellen, dass der Felsblock, den Gaspard ihnen zeigte, nur mit den vereinten Kräften von acht Männern zu bewegen war. Seitdem feiert dieser Ort das Wunder durch Josef von Nazareth, dem Verlobten von Maria, der Mutter Jesu, jedes Jahr. Seitdem ist der heilige Josef Schutzpatron dieses Ortes.“
Ich weiss nicht so recht ob ich einen katholischen Impuls in meiner Geschichte haben will, danke aber Jean und gehe Richtung Altar zu den bereits aufgebauten Krippenfiguren.
Josef, der Zimmermann ist schon da, er lehnt auf einem Stock, im Hintergrund seine Werkstatt mit offener Tür. Einige Tiere liegen auf Stroh und aus Olivenzweigen entsteht ein Wald. Kleine Kinder mit erdigen Füssen in grauen Kutten springen um einen Baum herum. Ich beobachte die liebevoll gestalteten Szenen und kann mich nicht satt sehen. Dabei fühle ich mich in diesem Moment so wohl, fast so als würde es eine Gewissheit geben, daß alles gut wird auf der Welt. Sehnsuchtsvoll blicke ich in den grossen gewaltigen Kirchenraum. Die farbige Innenausstattung steht im starken Kontrast zu dem Äusseren der Kirche. Wir setzen uns nun in die erste Bankreihe und ich atme tief ein.
So vergehen einige Minuten bis Jean flüstert, wenn er mich so gen Himmel blicken sehe, dann müsse er mich sofort wieder auf die Erde holen… Ich denke daran, daß Kirche mir immer weniger bedeutet, daß die biblischen Geschichten nicht historisch haltbar sind und die Ratio oft solche Momente wie eben diesen nicht zulässt. Aber ein Wohlgefühl ist physisch spürbar. Auf dem Weg zur Kirchentür blicke ich über die Schulter zurück, fast ein wenig mit Bedauern. Ich werde in den nächsten Tagen wiederkommen.
Wir verlassen die Kirche Richtung Marktplatz durch die engen Gassen. Am Cafe du Marché setzen wir uns in die grünbraunen Korbsessel und begrüssen einige Nachbarn an den Tischen. Am 12. Dezember, so steht auf dem Plakat rechts neben der Tür, gibt es Austern und Musik. Es ist gut Jean bei mir zu haben, wir verstehen uns oft auch ohne viele Worte und ich spüre eine große Ruhe mit ihm. Er legt seine Hand auf meine. Alles ist gut. Ich muss keine Geschichte mehr suchen, sie hat mich gefunden. Und wie das mit dem Segeln wird, das klären wir später. Es ist Anfang Dezember und wir frühstücken in der Sonne, die sich jetzt strahlend über die ockerfarbenen Hauswände ringsum ausbreitet.