Leonard der Glücklose
Leonard, der Glücklose‚Ogottogottogott – nicht schon wieder!’ Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Eigentlich hätte er sich denken können, dass es so enden würde. Es endete immer mit ‚Ogottogottogott.’ Zumindest bei ihm.
Schwierigkeiten zog er magisch an. Oder sie zogen ihn an – eine Sache der Perspektive.
Leonard stand hinter der Tür, lauschte und schwitzte. Das Gehörte behagte ihm ganz und gar nicht. Es schnürte ihm die Kehle zu. Nur mit Mühte konnte er ein Aufstöhnen unterdrücken. Er hoffte, dass die beiden alten Zauberer bald den Raum verließen. Lange würde er es nicht mehr hinter der Tür aushalten. Dahinter war nur wenig Platz. Er kauerte in einem kleinen Schrank und irgendetwas bohrte sich ihm schmerzhaft in den Rücken.
Bei seinem Versuch zu entkommen, bemerkten ihn die Zauberer. Eigentlich hätte er damit rechnen müssen, bei seiner Glückssträhne. Leider hatte er nicht soviel Verstand, die Beine in die Hand zu nehmen und zu rennen. Nein, er fiel rücklings in den Schrank, genau auf den sonderbaren Teil, den er vorhin im Rücken gespürt hatte.
„Auf ihn!“, rief der bartlose Zauberer.
„Schnapp ihn, Kriecher!“, forderte der andere.
Leonard machte eine Rolle rückwärts und landete genau – wo wusste er nicht. Es war nur nicht mehr der Schrank. Er plumpste durch eine Geheimtür und Kriecher hinterdrein. Dann schloss sich mit einem leisen Klacken die Tür wieder.
Leonard lag auf dem Rücken, alle Viere von sich gestreckt. Er fühlte sich wie ein Käfer, der von einem hungrigen Vogel betrachtet wird.
‚Gleich wird er zuschlagen! Verdammter Kriecher’, dachte er.
Nichts geschah. Er wartete noch eine Weile, dann stand er langsam auf. Kriecher rührte sich nicht, zuckte nicht einmal mit der Nase. Nichts tat er – stand einfach nur da, wie eine Statue. Leonard grinste. Sollte er endlich einmal Glück gehabt haben?
Aber noch war er nicht aus der misslichen Lage heraußen. Er blickte sich um.
Ein Pfeifen entfuhr ihm. Er staunte nicht schlecht, als er den Dom betrachtete. Die Halle war einfach riesig, atemberaubend, erschreckend – gewaltig. Seine Schritte hallten wider, als er durch den Saal schritt und einen Ausweg suchte. Alles Suchen, Bücken, Abklopfen, Strecken, Recken brachte nichts. Es gab keinen Fluchtweg, zumindest fand er keinen.
Leonard war hier nur der Bursche. Der Diener, Fußabstreifer für die Zauberer, der Mundschenk – der Trottel für alles.
Er ging zu Kriecher. Dieser stand noch immer da wie eingefroren, was eigenartig war, denn Kriecher war ein sehr agiler Zaubermeister. Bewegung war ihm alles – und Intrigen, Geheimpläne und solche Sachen. Leonard wedelte mit der Hand vor den starren Augen des Meisters. Nichts. Er zwickte ihn in die Nase. Noch immer nichts. Allmählich gefiel Leonard das Spiel. Er zwickte ihn noch ins Ohr und in die Wange. Schließlich landete er noch eine klatschende Ohrfeige und sagte: „Das ist für die Prügel, die ich gestern einstecken musste, du alter Sack.“
Ein leises Klopfen ließ ihn zusammen fahren. Beinahe hätte er die Gefahr vergessen, in der er sich befand. Er war gefangen – mit Meister Kriecher.
Irgendwo musste es einen Ausweg geben. Leonard wagte nicht zu hoffen, dass Kriecher auf ewig in dieser starren Haltung blieb. Was geschehen würde, wenn der Zauberer aufwachte, daran wollte er lieber nicht denken.
Die Wände waren mit zahlreichen magischen Symbolen versehen, die seine Augen verwirrten und sie tränen ließen. Er schüttelte sich und zwang die Augen von den Wänden.
Der Raum war versiegelt, wie er bekümmert feststellte.
Was mochte hier verborgen gewesen sein?
Welche geheimen Rituale hatte man hier abgehalten?
Leonard ging an die Seite, die vom Meister am weitesten entfernt lag und ließ sich zu Boden gleiten. Er legte die Hände auf die Knie und bettete den Kopf darauf. Lange Haare bedeckten das Gesicht. Er schien mit der Wand zu verschmelzen. Nur merkte er nichts.
Er schlief – und träumte:
Die Symbole erwachten, Schlangen krochen sich zu ihm herunter, bedeckten ihn, züngelten an ihm, als wollten sie ihn kennen lernen, ihn schmecken oder begrüßen. Im Traum verzog er angeekelt das Gesicht. So etwas konnte ja auch nur ihm passieren, dass eine Schlange in seiner Nase bohrte – mir der Zunge!
Sie schlängelten sich über ihn hinweg und weiter auf die gegenüberliegende Wand zu. Dort war eine Wandhalterung, ziemlich hoch angebracht. Dorthin zog es die Kriechtiere. Sie drängten darauf zu, umschlangen die Halterung und eine weitere Geheimtür öffnete sich.
Leonard erwachte. Er blickte sich um. Alles war wie vorher. Einzig die Nase juckte wie verrückt. Schnell steckte er einen Finger ins Nasenloch und holte einen Popel raus. Er betrachtete seinen Fang von allen Seiten und schnippte ihn dann weg, genau in Meister Kriechers offenstehenden Mund.
Mit einem Grinsen ging er zu der Wandhalterung, streckte sich, stellte sich auf die Zehen und reckte sich. Endlich konnte er das Ding fassen und zog es nach unten.
Leonard verharrte atemlos. Es gab einen lauten Rums. Dann trat Staub aus den Ritzen und er hörte lautes Fluchen, Schimpfen und Schreien.
„Kriecher! Komm sofort wieder raus da, verstanden!“, hörte Leonard den Oberzauberer brüllen.
‚O nein’, dachte der Glücklose. ‚Jetzt bin ich dran.’
Die Symbole an der Wand schienen zu lachen.
Es gab noch einen gewaltigen Rums, dann krachte etwas, es klirrte und in einer Staubwolke tauchte der Chef auf – Zauberer Wechselbart.
‚Der gemeine Hund’, dachte Leonard und senkte den Blick betreten zu Boden.
Wechselbart zeigte mit dem Finger auf ihn und er wurde über den Boden gezogen. Wieder einmal erwartete er eine Strafe, die er nicht verdient hatte.
Kriecher stand noch in der Ecke, seine Augen waren schon wieder erwacht, ansonsten war er noch erstarrt. Die Augen des Zauberers schienen ihn auszulachen und vor stillem Vergnügen zu leuchten.
Leonard versuchte irgendwo einen Anker zu finden, der ihn bremsen würde. Nein – hier stand alles auf Seiten der Zauberer. Ein normaler Diener hatte keine Möglichkeit auf gerechte Behandlung.
‚Ich hasse sie!’, dachte Leonard verzweifelt, dann wurde er vor Wechselbart in den Staub geworfen.
„Du! Elender! Die nächsten drei Tage wirst du im Kerker verbringen, wo du darüber nachdenken kannst, warum du gelauscht hast!“
„Meister, ehrwürdiger Meister“, begann Leonard, „ich wollte ganz bestimmt nicht lauschen.“ Tränen standen in seinen braunen Augen. „Bitte, Ehrwürdiger, ich habe nur meine Arbeit erledigt. Was verstehe ich schon von Eurem Handwerk? Ich bin ja nur ein Diener.“ Seine Stimme klang verzweifelt, heiser und er stockte immer wieder.
„Kriecher! Was sagst du dazu? Sollen wir ihn verschonen?“
„Nein! Wo kämen wir denn da hin, wenn wir plötzlich anfangen würden, Güte zu zeigen. Kein Mensch würde uns mehr ernst nehmen. Du hast doch schon deine Entscheidung getroffen, Ehrwürdiger.“
„Dann sei es so. Du hast deine Strafe vernommen, Glückloser.“
Leonard fasste nach den Knien des Obersten und blickte ihn flehend an. Doch dieser schüttelte ihn nur wütend ab, richtete wieder einen Finger auf ihn. Ein Ruck ging durch den Jungen und er wurde durch den Schutt gezogen. Er lag auf dem Bauch und versuchte sich am Türrahmen festzukrallen.
„Nein, Ehrwürdiger! Lass mich erklären!“
Unerbittlich waren die Zauberer in ihrem Zorn, ihrer Rechtschaffenheit und ihrer Selbstgerechtigkeit.
Leonard wurde durch eine Bodenluke in den Kerker geworfen. Er landete auf einem Bündel nassen halbverfaulten Strohs.
‚Ogottogottogottogott’, dachte er wieder. ‚Warum passiert immer mir so etwas?’
Über sich hörte er die Zauberer rumoren. Er vernahm ihr Lachen und Gerede.
„Schon wieder ist der Idiot darauf hereingefallen. Kriecher, besorg uns einen neuen Diener, jetzt wird er wohl bald aufgeben.“
Leonard saß da auf dem feuchten Boden und starrte. Die Worte hatten ihn getroffen. Ja, er war nur ein dummer Diener, ohne nennenswerte Bildung aber er würde nicht aufgeben.
Entschlossen stand er auf, atmete ein paar Mal tief ein und aus, das ließ ihn kurz würgen, weil es im Kerker erbärmlich stank. Trotz der Tränen, trotz dem Würgereiz, trotz der Demütigung hier zu sein, stellte er sich unter die Falltür und rief hinauf: „In drei Tagen bin ich noch hier!“
„Wir werden sehen“, kam es von oben mit einer Ladung Küchenabfälle.
Leonard war schon seit mehreren hundert Jahren Diener der steinalten Zauberer, aber das hatten sie noch nie mit ihm gemacht.
Vielleicht war die Zeit reif für eine Veränderung?
(c) Herta 2009/2010
(Ach, ist das schön, wenn man Zeit hat,
die alten Sachen aufzufrischen )