Winterspaziergang
Ich habe vor sieben Tagen folgende Kurzgeschichte geschrieben und mir heute noch einmal zum Lesen auf Wiedervorlage gelegt. War ich letzte Woche noch vom Inhalt überzeugt, empfinde ich jetzt beim Lesen zu wenig Emotionen. Ich finde nur noch schwer hinein. Warum auch immer. Da ich aber noch nicht wirklich daran herumfuschen will, weil dann meist alles irgendwie doch neu geschrieben wird und die Gefahr besteht, dass es nicht besser sondern schlimmer wird, stellte ich den Text einfach hier mal ein.
Vielleicht fällt euch ja dazu etwas ein, mit welchen Stilmittel ich da noch mehr Emotionalität hineinbringen könnte. Oder teilt ihr vielleicht meinen Anfangseindruck von vor einer Woche, dass die Geschichte so doch inhaltlich ganz i.O. ist.
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Winterspaziergang
Mit dem Blick aus dem Fenster ist sich Pepe gewahr. Ja, es ist Winter. Allein der Gedanke daran versetzte ihm einen Schauer. Noch fester klammert er sich an seine Tasse, während er die Bäume betrachtet, die ihm jetzt wie Ungeheuer mit Tausenden Fingern erscheinen. Nichts, was sie an Schönheit im Frühling, Sommer und Herbst bereithielten, ist jetzt noch vorhanden. Tot erscheinen sie ihm. Zu tot. Sein Blick wandert weiter in Richtung Horizont. Die Flur ist bereits mit einer dünnen weißen Schicht gepudert und in der Ferne scheint es, als würden neue Kristalle die Leinwand, die Pepe von seinem Fenster aus betrachtet noch weiter von allen Farben befreien wollen.
Der Geruch seines Salbeitees, der in kleinen Schwaden aus seiner Tasse bis zu seiner Nase aufsteigt, vermischt sich mit dem Geruch des Holzes, das knisternd im Kamin gegen die Flammen kämpft. Es ist Kirschholz. Sein Duft lässt ihn an das Frühjahr denken. Daran, wie die Lebenslust in den Menschen aufsteigt und der Frohsinn in den Gesichtern erkennbar ist. Pepe erinnert sich an den Osterspaziergang, an das Maifest. Unter Leuten sein. Freude. Genuss. Neue Eindrücke, Erlebnisse und Geschichten.
Und dann sieht er am linken Rand seines Fensters, dort, wo sich die Eiskristalle in den Ecken ein Plätzchen zum Wachsen gesucht haben, kleine Schatten. Erst beim näheren Hinsehen, beim neu Fokussieren erkennt er die kleine Gruppe von Personen, die sich hinausgewagt hat in den für ihn toten Raum. Pepe erkennt, wie sich die Gruppe auf sein Haus, sein Grundstück zubewegt, das er doch nur deshalb ausgesucht hatte, weil es sich einige hundert Meter abseits des Dorfes befindet.
Nicht einmal im Winter würde er hier also Ruhe haben, denkt er sich und zieht die Augenbrauen nach oben. Er will nicht warten, nicht zusehen, wie der Tross immer näherkommt und ihn aus der Einsamkeit reist. Wenn, dann wollte er schon selbst entscheiden, wann und ob ihm diese Einsamkeit genügte. Als er sich vom Fenster wegdreht, fällt sein Blick auf seinen Schreibtisch.
Genau aus diesem Grund hatte er das Haus mit den vielen alten Obstbäumen auf dem Grundstück gekauft. Er wollte seine Ruhe haben. Wollte Fantasien entwickeln und diese zu Papier bringen. An sechs Monaten im Jahr klappte dies. Nur im Winter, da riss ihn zu vieles aus den vielen Welten, die er in seinem Kopf ersann.
Gerade noch im Augenwinkel sieht er, wie die kleine Gruppe an seinem Fenster vorbeizieht. Er hört dumpf eine Melodie und dreht sich neugierig zum Fenster. Die Menschen sind gut gelaunt. Sie singen. Ziehen vereinzelt Bollerwagen hinter sich her. Musik ist deutlich wahrnehmbar. Sie überschallt von draußen sogar das Knistern im Kamin. Trotz der roten Nasen, die aus den sonst blassen Gesichtern hervorstechen, scheinen alle vergnügt. Pepe ist verwundert. Wer freut sich schon darüber zu frieren? Kopfschüttelnd setzt er sich an seinen Schreibtisch, zieht ein Blatt Papier aus einem Stapel hervor und beginnt es still zu studieren. Nicht für lang, denn eine für ihn lästige Pflicht, reißt ihn aus seinen Gedanken. Er muss Feuerholz nachlegen. Noch einmal schaut er aus dem Fenster, die Gruppe ist im aufziehenden Dunst verschwunden. Die Musik längst verstummt. Unweigerlich entstehen in Pepes Kopf Bilder, die sich zu einer Geschichte zusammenfügen.
Das eben noch so interessante Papier ist nebensächlich geworden. Stattdessen öffnet er seinen Laptop und beginnt zugleich zu schreiben:
„Wie lange sie schon unterwegs waren, das wusste keiner von ihnen. Die zehnköpfige Gruppe hatte nur ein Ziel. Ankommen. Wo, das wusste niemand von ihnen, doch ihr Weg, die Hoffnung hielten sie am Leben. Immer dichter wurde der Nebel, immer dunkler die Wolken. Die blattlosen Bäume und Sträucher am Wegrand nahmen sie kaum mehr war. Allein die Richtung des Weges konnten sie höchstens noch auf 20 vielleicht 30 Meter erahnen. Die schweren Wagen, die sie zogen, waren beladen mit den Dingen, die sie retten konnten und ihnen wichtig waren. Sie waren geflüchtet, von Hunger und Sehnsucht gequält. Wovor sie flüchteten, das wussten nur sie, denn einen anderen Menschen fanden sie in den vielen Tagen, an denen sie bereits unterwegs waren, nicht. Immer mal wieder kamen sie in die Nähe einer Ortschaft, mieden es jedoch hineinzugehen oder gar in deren Nähe zu rasten. Zu groß war die Angst, entdeckt und nach Haus geschickt zu werden. Als sie sich auf den Weg machten, da war die Welt bunt vom Herbstlaub der Bäume und dunkel vom Rauch der Feuer, die unzählige Granaten entfacht hatten. Die Sonne damals schien, wenn auch nicht mehr so kräftig wie noch einige Woche zuvor. Jetzt ist sie alles grau und kalt. Ob sie sich ihren Weg so vorgestellt hatten, das konnte sie niemand fragen. Sie waren da und doch nicht vorhanden. Sie waren wandelnde Tote. Gestorben beim Verlassen ihrer Heimat. Gehüllt in viel zu dünne Gewänder, geführt von einem Drang zur Sicherheit, die ihnen auf dem Weg nicht gegeben ist.“
Pepe stockt. Schaut von seinem Schreibtisch aus über den Bildschirm in Richtung Fenster. Sein Blick ist starr. Kein Gedanke durchfließt ihn. Dann erwacht er plötzlich und schüttelt sich.
`Nein, die Gruppe vorhin sang. Sie hatten Spaß. Niemand singt, ohne Spaß daran zu haben. Niemand spielt Musik, wenn er sich nicht daran erfreuen will. Und überhaupt, wie sollte eine Gruppe von Geflüchteten hier bei ihm vorbeikommen. Woher überhaupt und vor was geflüchtet?`
Keine Ruhe findend entschließt er sich selbst hinauszugehen in diesen für ihn für tot erklärten Raum. Hinaus in die Kälte. Er will fühlen, wie es da draußen ist. Wie es ist, kilometerweit zu laufen ohne ein festes Ziel. Die Knöpfe seines Mantels schließt er bewusst. Einen nach dem anderen bis hoch an den Hals. Als der Stoff der Mütze über sein Haar und seine Kopfhaut gleitet, ist es wie ein Streicheln einer unbekannten Hand. Die Schnürsenkel seiner Stiefel zieht er fest. So fest, dass die Füße unweigerlich beginnen zu pochen. Es muss so eng sein, redet Pepe sich ein und schließt die Tür hinter sich. Erst jetzt fällt ihm ein, dass er nicht auf die Handschuhe verzichten sollte und auch ein Schal für das Gesicht sicher angebracht ist. Der kurze Moment im Freien reicht, um ihm klar werden zu lassen, dass es in seinem Haus viel zu warm ist. Darum will er sich aber später kümmern. Irgendetwas zieht an ihm. Zieht in nach draußen vor das Grundstück und auf den wenig befestigten Feldweg zu seinem Haus.
Mit den Händen in den Taschen, den Atem sichtbar in die Luft abgebend, schaut er auf dem Weg stehend nach rechts und links. Nein, in Richtung des Dorfes will er nicht. Kurz fragt er sich, ob er die Gruppe wohl noch einholen wird, wenn er seine Schritte zügiger setzen würde. Nach gut 100 Metern ist er sich sicher: Nein. Die kalte und nasse Luft beißt in seiner Lunge. Sein Mund steht unter dem bis zu den Augen hochgezogenen weißen Schal weit offen. Er spürt die Nässe im Stoff, die sein Atem verursacht hat. Bemerkt sogar, dass sein Schal leicht gefroren ist und ihm deshalb das Atmen so schwerfällt. Und doch entscheidet er sich, den Schal über dem Mund und den Wangen zu belassen. Zu sehr fürchtet er sich vor der Brutalität des Winters in seinem Gesicht.
Wohin mögen sie wohl gegangen sein, die, die da singend an seinem Fenster vorbeiliefen? Diese Frage stellt er sich immer wieder im dicken Nebel, der ihm die Sicht bereits völlig nimmt. Angst verspürt er deshalb nicht. Er kennt sich hier aus. In wenigen Hundert Metern würde ein Abzweig kommen, der den Weg, auf dem er gerade läuft, teilte. Noch immer die Hände in den Taschen, das Gesicht tief im Schal und dem Kragen des Mantels vergraben läuft Pepe gegen die Wand, die der Dunst vor ihm aufgebaut hatte, an. Sich gewahr zu wissen, wo er sich befindet. `Es können nur noch wenige Meter sein, bis zum Abzweig` spricht er zu sich, während er die Hände bereits zu einer Faust geballt und die Zehnen eingerollt hat. Derbe zieht die Kälte durch seine Kleidung bis in seinen Körper. Nur die Bewegung hindert ihm am Frieren.
So läuft er weiter und weiter. Meint nach gut zwei Stunden Musik zu vernehmen. Seine Augen weiten sich. Für ihn ist sie deutlich. Es ist ein bekanntes Kinderlied. Dass der Frau Holle. Sicher darin, dass es sich um die Gruppe handelt, die an seinem Fenster vorbeizog, biegt er vom Weg ab auf unstetiges Gelände. Den Kinderstimmen entgegengehend stolpert er immer wieder. Doch unbeirrt folgt er den Tönen die vom eisigen Wind an ihn herangetragen werden. Unter seinen schweren Schritten brechen die Schneekristalle hörbar. Seine Nase läuft und das Sekret sickert bis an seine Lippen. Mit tiefen Atemzügen versucht er sich Luft zu verschaffen, dann hört er ein Knacken. Unweigerlich beleibt er im Nebel stehen. Ruft: „Hallo? Ist da jemand?“ Noch einmal versichert er sich selbst: Niemand sonst als die Gruppe würde hier draußen Musik spielen. Eine Antwort auf sein Rufen erhält er nicht. Nur der Wind antwortet ihm mit seinem typischen Pfeifen und Rauschen. Die Musik verloren wächst ihn ihm die Angst. Pepe beginnt zu rennen. `Nein die Holle holt mich nicht`. Das Knacken jedoch wird mit jedem Schritt lauter. Pepe erschrickt. Er kann doch nicht auf den See geraten sein und verneint diese an sich selbst gestellte Frage zugleich. Der See liegt auf der anderen Seite des Dorfes. Jene Richtung, die er nicht einschlug. Als er den Boden unter den Füßen verliert und das kalte Wasser seine Haut erreicht, ist er sich sicher. Er wird erfahren wie es ist tot und doch lebendig zu sein. Wie ein Flüchtling. Man wird ihn suchen, nicht finden und vermuten er sei fortgefahren. Niemand wird ihn für tot halten. Er wird in den Köpfen der Menschen lebendig sein und gleichzeitig tot und einsam auf dem Grund des Sees liegen. Immer schwerer werden seine Sachen. Und als bereits seine Kräfte schwinden die ihn über Wasser halten, ist sein Geist noch wach. Von ihm bleiben würden nur seine Werke. Die Tragik an seinem Ertrinken erkennt er noch in diesem Moment nicht in seinem Ableben, sondern in dem Gedanken, dass so vieles von ihm nicht mehr geschrieben werden wird. Noch einmal schreit er nach Hilfe, dann ruft nur noch der Wind. Er erzählt von dem Mann, der im Kreis lief, um eine Gruppe zu finden, die sich nur wenige Hundert Meter von seinem Haus entfernt an einem Feuer eingefunden hatte, um ihren Winterspaziergang feuchtfröhlich und mit gutem Essen ausklingen zu lassen.