Vergangene Zukunft
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich meine Unschuld verlor, an dem mein Glaube an das Gute gebrochen wurde. Das Ereignis hat mich hart gemacht, steinhart – außen. Innen drinnen – nein, da wage ich keinen Blick hinein. Jetzt stehe ich inmitten einer menschenleeren Steppe, betrachte die Nacht und lausche den Tieren, die mich irgendwann einmal überwältigen und fressen werden. Präriehunde bellen in der Ferne und Hyänen lachen, dass es mir kalt den Rücken runter läuft.
Ich verstehe die Welt nicht mehr. Was sind das für Leute, die mich wegen meiner Herkunft so bestrafen?
Niemand konnte im Lauf der Geschichte die Zäune in den Köpfen der Menschen einreißen. Ich habe es gesehen, bin in der Zeit gereist, immer weiter zurück musste ich gehen, bis ich hier anlangte und bleiben musste.
„Warum?“, frage ich die Leere in mir.
„Fähnrich“, knackte es aus dem Funkgerät. „Fähnrich! Melden Sie sich, sofort!“
Der so Angesprochene hörte nicht auf das Signal. Er war viel zu sehr in die Szenerie vor ihm vertieft. „Wenn Sie nicht sofort zurückkommen, fahre ich ohne Sie, verstanden. Meldung!“
Etwas ließ den jungen Mann aufhorchen. Mühsam wandte er den Blick und senkte ihn auf sein Kommunikationsgerät.
„Ey, bin auf dem Rückweg. Aber das hätten Sie sehen sollen, Leutnant.“ Der junge Mann zog sich vorsichtig zurück, lautlos. Er wollte die majestätischen Tiere vor ihm nicht stören und aufschrecken schon gar nicht. Wenn eine Herde Mammuts zum Losrennen anfängt, dann ist das mit Sicherheit nicht lustig.
Endlich war er beim Transporter angekommen. Die Tür glitt auf und eine Hand, die zu einem mehr als ärgerlichen Leutnant gehörte zerrte ihn rein.
„Meldung! Sie Vollidiot!“ Dieser Ausbruch war mehr als unüblich und brachte die ganze Anspannung unter der der Einsatzleiter stand zum Ausdruck.
„Ey! Ich habe eine Herde Mammuts beobachtet. In etwa fünf Kilometer Entfernung konnte ich so etwas wie Höhlen ausmachen. Aber dafür müssten wir wohl etwas näher ran. Irgendetwas hat meine Sensoren gestört. Leider kann ich Ihnen keine genaueren Details nennen. Die Vegetation besteht aus Süßgräsern, niedrigen Birkengehölzen, natürlich auch einige Kräutern, zum Beispiel. …“
„Das wollte ich nicht so genau wissen, Smirnov. Menschliche Aktivitäten?“
„Äh, nein, Leutnant, bis auf die Höhlenformation, die ich bereits erwähnte.“
„Gut, machen Sie Ihren Bericht später, wir kehren zurück.“
„Wollen Sie nicht wissen, ob in den Höhlen Menschen wohnen?“
„Nein – wir hatten unsere Koordinaten und die Aufenthaltsdauer, jetzt geht’s zurück, wir sind schon zu lange hier.“
Der junge Fähnrich, Experte auf dem Gebiet der menschlichen Geschichte, zumindest gab es zu seiner Zeit keine anderen Leute, die sich damit beschäftigten, gab nach und setzte sich auf seinen Platz.
Mit einem leichten Glühen verschwand das mobile Forschungsfahrzeug und landete in einer anderen Zeit.
Es war verwirrend, erschütternd und eine massive körperliche Belastung. Deshalb wurden zu solchen Zeitreisen die Teammitglieder auf maximal zwei beschränkt. Am besten man schickte jemand Entbehrlichen. Leider gab es immer weniger Menschen, die entbehrlich waren.
„Leutnant Thomson, melden Sie sich sofort auf der Brücke“, tönte es aus den Kommunikatoren, kaum dass sie gelandet waren. Der ältere Offizier starrte den jüngeren an. Der Blick sagte: „Wenn ich wegen dir Schwierigkeiten bekomme, dann kannst du was erleben, Bürschchen.“
Smirnov senkte ergeben den Blick. Er gehörte zu den Entbehrlichen. Ebenso Thomson, aber dieser wollte wieder auf der Leiter raufkommen. Für Smirnov war der Zug in dieser Hinsicht abgefahren.
„Alex, warum hast du nichts Ordentliches gelernt?“, fragte er sich, als er sich an ein Terminal setzte und sein Gehirn mit dem Computer verband. Jetzt musste er aufpassen was er dachte und vor allem wie er es dachte. Er gab eine kurze Beschreibung der Landschaft. ‚Ich konnte insgesamt zehn verschiedene Arten der Flora ausmachen, wahrscheinlich gibt es noch unzählige Unterarten, die ich in der Kürze der Zeit nicht ausmachen konnte. Hauptsächlich besteht die Vegetation aus Süß- und Sauergräsern, je nach Bodenbeschaffenheit. Dazwischen befinden sich noch Mohngewächse, Schachtelhalme, niedrig wachsende Birken- und Weidengewächse …’ Er erging sich in einer detaillierten Beschreibung der Flora. Dann wandte er sich der Fauna zu.
‚Tiere gibt es zahlreiche, mehr als bei diesem Klima zu erwarten war. Wie wir aus alten Geschichtsaufzeichnungen wissen, ist die dominierende Art das Wollmammut. Es lebt ihn Herden und zieht durch die Tundra bis in die südlichen Steppengebiete, leider konnte ich aus Zeitmangel keine genaueren Daten erheben. In diesem Gebiet erkannte ich noch Moschusochsen, Taigas und Rentiere, die ebenfalls in Herden leben und den Mammuts folgen. Natürlich ziehen solche Herden auch Räuber an. Ich habe aber nur eine Fuchsfamilie bemerkt. Sie haben den zahlreichen Lemmingen und Hasen nachgestellt.’ Er holte tief Luft, strich sich durchs Haar und stand auf. Der Clip an der Schläfe löste sich mit einem schmatzenden Geräusch und er war nicht mehr mit den internen Speichermodulen verbunden. Erleichterung durchströmte ihn wie ein warmer Fluss. Er holte sich ein aufputschendes Getränk, verharrte einige Minuten in Gedanken versunken, bevor er sich seufzend wieder an die Arbeit machte. ‚Es hat ja alles keinen Sinn, verflucht. Niet, keinen Sinn’, damit drückte er den Stirnlappensensor wieder an die Schläfe und setzte den Bericht fort. Jetzt kam er zu den, für ihn interessanteren Teil der Beobachtung, die er leider aus Zeitmangel abbrechen musste. ‚Von meinem Standort, er ist den genauen Logbuchaufzeichnungen zu entnehmen, etwa fünf bis sieben Kilometer entfernt auf einer Anhöhe konnte ich eine Höhle ausmachen. Es dürfte sich nach meiner Einschätzung nach um eine menschliche Ansiedlung handeln. Ganz schwach lag der Geruch nach Rauch in der Luft. Ich würde diese Höhlen gerne näher in Augenschein nehmen oder auch die Ansiedlungen die ich beim Überflug auf dem südlichen Kontinent bemerkt habe.’
„Thomson“, brüllte der Kapitän. „Was hat da solange gedauert?“
Der Leutnant stand stocksteif vor seinem Kommandeur. Wut kochte in ihm, Wut auf den verdammten Wissenschafter, der immer wieder die Zeit aus den Augen verlor und ihn damit zu den Entbehrlichen machte.
Stramm salutierte er, bevor er knapp berichtete: „Ma’m, wir sind wie befohlen zu den Koordinaten geflogen. Dort hat dann Smirnov seine Beobachtungen gemacht. Er hat wieder einmal nicht auf die Anordnungen geachtet, sodass ich beinahe ohne ihn zurück gekehrt wäre. Die Detailbeschreibungen zur Umgebung bekommen Sie vom Fähnrich, Ma’m.“
‚Dieser kleine Scheißkerl’, setzte er in Gedanken noch dazu. Der Kapitän grinste. Wieder hatte Thomson vergessen, dass sie eine starke Telepathin war.
‚Wenn sie meine Gedanken lesen kann, warum dann der Rapport?’, überlegte er nicht zum ersten Mal.
„Weil wir die Form wahren müssen, Leutnant Thomson. Wo kämen wir da hin, wenn jeder Telepath in den Gedanken der anderen Leute schnüffeln würde? Sehen Sie zu, dass Sie diesen Fähnrich auf Vordermann bringen, bevor ihm noch ein Unglück zustößt. Sie können wieder an Ihre Arbeit gehen. Ich erwarte morgen nullsiebenhundert Standardzeit Ihren Bericht.“
„Ey, Ma’m!“ Erleichtert hob er die Hand zum Gruß, machte auf dem Absatz kehrt und stieß erst die Luft aus, als er aus dem Büro trat. Er war mehr als ärgerlich. Seinen Zorn musste er irgendwie Luft machen. Ganz genau wusste er, dass der Kapitän jetzt im Büro saß und grinste. Auch Thomson war Telepath, sonst hätte er keine Kommandofunktion. Sie strahlte ihre Freude über seinen Zorn direkt auf ihn, was seine Wut noch mehr anstachelte.
„Verdammter Smirnov“, sagte er leise und fluchte als er zu den Terminals ging. Wie zu erwarten fand er dort den jungen Mann. Er war so in Gedanken vertieft, dass er den vorgesetzten Offizier erst bemerkte als es zu spät war.
„Fähnrich!“
Alex zuckte zusammen und sprang auf. Warum er immer wieder so gedrillt wurde verstand er nicht, schließlich war auch er Offizier und Wissenschafter noch dazu, ein Fachmann auf seinem Gebiet. Das einzige, das ihm zu einer höheren Laufbahn fehlte, war etwas, das er aufgrund seiner Geburt nie erlangen würde. Er war kein Telepath und stammte aus dem falschen Kontinent.
Er nahm Haltung an, stand als ob er einen Stock verschluckt hätte und hielt die Hand korrekt an die Stirn. Thomson ließ ihn nicht rühren, während er auf ihn einbrüllte: „Wenn der Bericht fertig ist, melden Sie sich bei mir! Jetzt ist Schluss mit Ihren Eigenmächtigkeiten!“
Thomson strahlte negative Energien ab, die sich als dunkle Wolke um ihn zeigte. Sogar Smirnov bemerkte das und es machte ihm Angst.
„Rühren und an die Arbeit!“
Vor lauter Angst konnte er sich kaum noch konzentrieren, dann siegte die eigene Wut. Der Zorn auf die Ungerechtigkeit in dieser Welt. Er wünschte sich weit, weit weg in die weiten der sibirischen Steppe – nachhause.
Er schluckte ein paar Mal heftig, sammelte sich und drückte dann den Sensor wieder an die Schläfe. Der Bericht war fast fertig.
‚Wenn wir etwas länger Zeit gehabt hätten, hätten wir unter Umständen eine der ersten menschlichen Ansiedlungen vorfinden können. Vielleicht gibt es noch eine Gelegenheit, damit ich sie studieren kann, oder besser noch die Siedlungen auf dem südlichen Kontinent. Die Menschen dort schienen mir den Sensoraufzeichnungen nach, weiter entwickelt zu sein. Aber das lässt sich so einfach nicht feststellen, dazu müsste ich nochmals in der Zeit reisen und sie eingehender studieren, ihr Sozialverhalten, die Verwendung von Werkzeugen und die Umweltbedingungen spielen bei diesen Studien eine große Rolle.’ Alex erging sich in Details. Er wusste, dass er die Begegnung mit Thomson hinauszögerte. Als ihm nichts Nennenswertes mehr einfiel, raffte er sich auf unterdrückte die Angst. Zumindest versuchte er es. Er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was ihn nun erwartete.
Nicht aus den richtigen Kreisen zu stammen war seit vielen Jahrhunderten ein Problem für ganze Bevölkerungsschichten. Alex fand es noch immer sonderbar, dass die Menschheit sich so weit entwickelt hatte, aber die Ressentiments anderen gegenüber nicht aufgegeben hatte. Noch immer war in den Köpfen der Menschen die Angst vor dem Fremden fest verankert, was einerseits zu einer technischen Weiterentwicklung gerade im militärischen Bereich geführt hatte, andererseits aber die sozialen Bedürfnisse und Bindungen unter den Menschen sehr stark behinderte. Es gab Rassentrennung – er hatte es am eigenen Leib erfahren, immer wieder. Aber noch hielt sein Glaube an das Gute im Menschen. Krampfhaft hielt er daran fest. Es war der Glaube seiner Ahnen. Alex entstammte dem Volk der Samek, die sich im Laufe der Zeit immer mehr nach Osten zurückzogen und nun nur mehr aus ein paar hundert, vielleicht tausend Leuten bestand. Bald würde es auch dieses Volk nicht mehr geben. Sie würden ebenso wie die anderen Völker vom Einheitsglauben der vorherrschenden Rasse assimiliert werden.
„Ja, assimiliert. Das ist das richtige Wort dafür“, murmelte er. „Ich lasse mich nicht assimilieren. In der Vielfalt liegt die Kraft der Menschheit, wenn das doch nur endlich jemand kapieren würde.“
„Komm rein, du Schlaumeier“, hörte er Thomson noch bevor der den Türsummer berührt hatte. Er straffte seine kleine Gestalt, trat festen Schritts in das Büro seines Vorgesetzten und salutierte artig. Wieder ließ Thomson ihn so stehen, schien ihn zu ignorieren.
„So, du willst dich also nicht in die Gemeinschaft einfügen? Was machst du dann noch hier, du verdammte Sumpfratte?“
Alex schluckte, bewegte sich ansonsten nicht. Er ließ auch keine Gedanken zu, starrte nur auf einen Punkt an der Wand.
„Ich habe dich was gefragt! Und nimm verdammt noch mal die Hand runter!“
Alex gehorchte. „Leutnant, Sir, ich habe gedacht …“
„Du sollst nicht denken, Sumpfratte, sondern Befehle ausführen, dazu bist du hier! Wenn du glaubst, hier dein eigenes Ding durchziehen zu müssen, dann bist du fehl am Platz und kannst mit den Konsequenzen leben! Dein Militärdienst dauert das ganze Leben, also hoffe nur nicht darauf, dass du wieder auf die Erde kommst!“
„Sir …“, begann Alex wieder, unterbrach sich aber, als er die Sinnlosigkeit seiner Argumente sah. Die Leute hier waren von einem anderen Schlag. Er hatte das schon während der Ausbildung bemerkt. Das Militär hatte die Macht. Sie hatten ihn einfach aus seiner Sippe gerissen. Nur weil er Urgeschichte studiert hatte, hatten sie ihn geholt und jetzt war er hier gefangen und musste sich mit den verdammten Maschinen, den Gedankengeneratoren und den Zeitreisen herumschlagen. Diese Reisen machten ihn fertig.
„Melde dich beim Recyclingdienst. Du wirst die nächsten Jahre damit zubringen, in der Aufbereitungsanlage zu arbeiten, bis du gehorsam lernst.“
„Ey, Sir!“
„Du kannst gehen.“
Alex grüßte, drehte sich um und ging stocksteif mit unterdrückter Wut hinaus. Auf dem Gang ließ er seinem Zorn freien Lauf. Er wusste, dass alle Telepathen diese Gedanken hören konnten, zu heftig waren sie. Nur mühsam gelang es ihm, die Wut zu unterdrücken, die Ungerechtigkeit zu schlucken. Sein Weltbild begann immer mehr zu wanken.
Das waren nicht die fortschrittlichen Menschen, die ihm bei der Ausbildung vorgelobt worden waren. Es hieß immer, die Leute von Eumeria, dem Hauptkontinent, seien so gebildet, fortschrittlich und weiterentwickelt als die Menschen von anderen Gebieten, dabei waren sie nichts anderes als eingebildete Egoisten.
Trostlos fühlte sich Alex, als er in den Eingeweiden der Raumstation ankam. Noch nie war er hier gewesen. Es stank. Er war den Geruch von Ausscheidungen gewöhnt, aber zuhause, in der Tundra war der Geruch anders, erdiger, natürlicher, weniger faulig.
„Ah, du bist mir angekündigt worden“, dröhnte ein großer Mann in grüner Uniform.
‚Warum sind plötzlich alle per du mit mir?’, fragte sich Alex. Er fühlte sich sonderbar, so als hätte man ihn abgeschrieben. ‚Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan’, fiel ihm ein altes Sprichwort ein. Das ließ ihn schaudern und nichts Gutes für die Zukunft erahnen.
„Salutier gefälligst, auch hier gilt das Gesetz des Militärs!“, herrschte der Mann ihn an.
Erschrocken fuhr Alex’ Hand in die Höhe und er stand wieder stramm.
„So erwarte ich mir das und zwar jedes Mal, wenn ich an dir vorbei gehe, verstanden, ansonsten bekommst du den Stock zu spüren!“
Alex erstarrte innerlich. Davon hatte er einmal erzählen hören, es aber für dumme Geschichten oder Einbildung gehalten. Während der Ausbildung hatten die älteren Kadetten von drakonischen Strafen berichtet. Jede Befehlsverweigerung, dazu zählte auch Unpünktlichkeit, wurde hart bestraft. Er hatte es wirklich für dummes Geschwätz gehalten, um den Jüngeren Angst zu machen, sie auf Spur zu bringen. Nun wusste er, dass es stimmte. Sein Glaube an das Gute im Menschen erlosch immer mehr.
Gehorsam begab er sich zur Sortieranlage und leistete seinen Dienst ab. Es war schwierig, sich einerseits auf die Aufgabe zu konzentrieren und andererseits den Leutnant nicht aus den Augen zu verlieren. Immer wieder ging er an ihm vorbei, wobei es Alex in die Höhe riss und er stramm stand. Gegen Ende seiner Schicht wurde er unaufmerksamer. Er übersah den Vorgesetzten und sofort landete der Stock auf seinem Rücken. Mit einem Schmerzenslaut richtete er sich sofort auf und stand stramm, was aber nichts mehr nutzte. Der Stock sauste nochmals auf ihn nieder. Insgesamt zehnmal. Alex versuchte dabei gerade stehen zu bleiben und die Hand an der Stirn zu lassen. Fest biss er die Zähne aufeinander. Er war ein Samek, darauf war er stolz. Das redete er sich in diesen Minuten ein.
„Geh jetzt zum Quartiermeister, du wirst in Zukunft in den unteren Bereichen leben. Und wenn du wieder unaufmerksam bist, gibt’s die doppelte Anzahl, verstanden?“
„Ey, Sir!“, schrie er, wie auf dem Kasernenhof, nachdem ihm der Ausbilder zum hundertsten Mal in den Dreck springen ließ und ihn danach wegen der schmutzigen Kleidung anbrüllte.
Das neue Quartier war ein Gemeinschaftsraum. Er teilte ihn mit acht anderen Soldaten.
Seine persönliche Habe war schon hergeschafft worden. Es war nicht viel, außer ein paar Bücher, ja er hatte noch welche, und Papier und Stifte, hatte er nicht viel.
„Willkommen im Dreckloch, Sumpfratte“, begrüßte man ihn herzlich. „Ich bin Derek, das da sind Suzie, Erich, Ismail, Franklin, Tessa, Dominic und Gottfried.“ Alle hoben kurz die Hand zum Gruß nachdem ihr Name genannt wurde.
„Ich bin Alex“, stellte er sich vor.
„Bist wohl auch auf der falschen Seite des Zauns zur Welt gekommen“, stellte Derek düster fest.
„Siehst so aus“, antwortete er und räumte seine Habseligkeiten in einen schmalen Spind.
„Du stinkst uns hier die Bude voll, Alex, geh dich waschen“, maulte Suzie und zog die Nase kraus.
„Wenn du mir sagst, wo ich das kann, mach ich es gerne. Oder denkst du, dass es mir Spaß macht zu stinken wie ein Iltis in der Brunft?“
Das brachte alle zum Lachen.
„Du bist schon in Ordnung, Alter. Suzie, wenn es dich so stört, dann zeig ihm hier alles“, meinte Derek heiter.
Alex lebte sich relativ rasch in diese Gruppe ein. Sie schienen alle auf dem Abstellgleis gelandet zu sein. Hier war der Bodensatz der Hierarchie. Sie dümpelten am Rand der Gesellschaft dahin. Der Wissenschafter in ihm machte sich eifrig Notizen und verglich die Gegenwart mit der Vergangenheit, in die er sooft reisen hatte müssen. Jetzt waren die Studien offensichtlich abgeschlossen und er wurde nicht mehr gebraucht. Altertumsforscher waren entbehrlich, wenn sie nicht zum richtigen Ergebnis gekommen waren. Er hatte offensichtlich nicht die richtigen Worte gefunden, um die Tatsachen zu verschleiern.
Abends las er in seinen Büchern, die er bald auswendig kannte und er langweilte sich. Die Arbeit im Abfall ermüdete ihn und brachte ihn an den Rand des Zusammenbruchs. Der Leutnant dort schindete ihn täglich. Er nutzte jede Möglichkeit um ihn zu schikanieren und zu drangsalieren. Unter den Arbeitern gab es in diesem Bereich keinerlei Zusammenhalt. Der Offizier und er waren die einzigen Militärs dort, die restlichen Arbeiter waren zwangsverpflichtete Zivilisten, verurteilte Verbrecher, die hier ihre Strafe abbüßten und dann wieder zur Erde zurückkehrten.
Alex wusste, dass er hierbleiben musste, ebenso Leutnant Griffin, auch er wusste, dass hier seine Endstation war. Das ließ er die Arbeiter umso mehr spüren, je länger sie hier waren.
Eines Tages platzte Alex der Kragen. Er war ein geduldiger Mensch, sonst wäre er schon viel früher explodiert. Wieder einmal hatte er Griffin übersehen, als er an ihm vorbeiging und der Stock war unbarmherzig auf seinen Armen gelandet. Da schrie er seine Wut einfach so heraus. „Du verdammter Dreckskerl du, du Müllschlucker, was bildest du dir eigentlich ein!“, schrie er und ließ sich auf ein Handgemenge mit dem viel größeren Offizier ein. Natürlich verlor er den Kampf und er erwachte mit schmerzenden Knochen und einem blauen Augen im Arrestbereich.
Die Strafe war drakonisch und sie zerstörte sein gesamtes Weltbild, die Unschuld des Glaubens, seines Glaubens an das Gute, das in jedem Menschen schlummert.
„Weil du so ein guter Altertumsforscher bist, darfst du jetzt deine Strafe in der Vergangenheit absitzen“, verkündete der Kapitän.
„Ma’m?“ Alex war verwirrt.
„Du wirst in die zuletzt gespeicherte Zeit transferiert und dort bleiben. Was glaubst du eigentlich, mit wem du es hier zu tun hast? Du gehörst einer untergeordneten Rasse an und so solltest du dich auch benehmen, oder haben sie dir das nicht beigebracht? Auf Leute wie dich können wir verzichten. Vielleicht sollte ich dir zum Abschluss noch sagen, dass die Samek nicht mehr lange existieren werden. Wir haben sie mittels Geburtenkontrolle ausgerottet, oder zumindest wird es keine Jungen mehr geben. Also, freu dich, du gehörst einer aussterbenden Rasse an.“
Das war zuviel für ihn. Diese Arroganz der Eumerier! Diese Selbstzufriedenheit! Mit einem lauten Schrei stürzte er sich auf den Kapitän und wollte sie erwürgen. Alle anerzogenen Hemmungen waren von ihm gefallen und er schlug nach allen, die um ihn standen und ihn zu fassen kriegen wollten. Mit der Wut der Verzweiflung drosch er auf den Kapitän ein, was dieser aber nur ein Lachen entlockte. Sie lachte ihn aus in seiner Wut, obwohl sie einige heftige Schläge einstecken musste.
„Warum?“, frage ich die sternklare Nacht, „warum hat die Menschheit aus der Geschichte nichts gelernt?“
(c) Herta 1/2010