Kindergebet
Ich bin klein - mein Herz ist rein...Klein kam sie sich allerdings vor. So klein, dass sie Angst hatte, die anderen würden auf sie treten. Aus Versehen natürlich, weil sie sie nicht sehen konnten. Denn wer sich so klein fühlte, der war auch so klein.
Warum stand sie auch hier, in der Menge der Lachenden und Frohen, der Großen und Starken? Warum tat sie sich das an, ihn in seiner Größe und Stärke zu sehen, ihn, der sie so klein und schwach gemacht hatte? In dessen Glanz eine andere, seine Neue, ebenso schön und stark strahlen durfte?
Noch letzte Woche war sie es gewesen, die an seiner Seite strahlte. Seine Liebe hatte sie groß und schön gemacht. Und damit ihr Herz weit und gütig. Sie hatte all ihre Liebe gütig fließen lassen können, nicht nur zu ihm, sondern zu allen Menschen. So übervoll war ihr Herz gewesen, so groß ihre Kraft.
Und nun hatte er sein Interesse einer anderen zugewendet, sein Licht abgedreht von ihrer Person. Und sie stand im Dunkel. Klein und nicht mehr zu sehen.
Ihr großes Herz war geschrumpelt wie eine alte Kartoffel. Es war verseucht vom Gift des Neides. Zusammengezogen durch quälende Eifersucht. Böse von Gedanken an Rache. Erfroren in der Kälte des Verlusts. Es hatte all seine Reinheit verloren.
Deswegen stand sie da: sie wollte es sehen, sie wollte den Schmerz vergrößern und damit die Giftquelle nähren. So, dass es stark genug wäre, ihr Herz nicht nur zu erfüllen, sondern ganz aufzulösen. Zu vernichten. Denn wo kein Herz ist, da ist auch kein Gefühl. Also auch kein Schmerz.
So stand sie da – viel zu klein und gar nicht rein.