Unversöhnlich
„Hände nach vorn! Und Handflächen nach oben! Ihr Judenschweine!“, befahl eine Stimme der schneeschwangeren Nacht, sich zu zerteilen und uns arme Sünder in Reih und Glied freizugeben. „Mach schon!“, herrschte die Stimme den links neben mir stehenden alten Mann aus Waggon eins an. Sein Höllenhund kläffte dem Alten entgegen, während sich ihm das Nackenfell sträubte und ihm der Geifer aus dem Maul troff. Die Stimme hielt ihn an der kurzen Leine. Gerade mal so kurz, dass seine Hundeschnauze die zitternden Hosenbeine des alten Mannes streifen konnte.
Verzweifelt wagte ich mit gesenktem Kopf einen schnellen Augenwinkelseitenblick auf seine rechte Handinnenfläche. Der Höllenhund bellte abermals, und ich erblickte ein schludrig aufgemaltes rotes Kreuz. Es schien blutend aus den Konturen zu laufen und sich ganz allmählich über die gesamte Handinnfläche auszubreiten, bis es schließlich auch den Handrücken, das Handgelenk und den halben ausgemergelten Unterarm des Alten überzog und gar nicht mehr als Kreuz zu erkennen war.
Augenblicklich erwache ich aus meiner Trance und schaue hinab auf die Postkarte, die ich in meinen zitternden Händen halte. Darauf sehe ich einen halb zusammengesunkenen aufgedunsenen Greis, der über und über mit Blut besudelt ist. Mit dem Rücken lehnt er zwischen einem Toilettenbecken und einem Waschbecken an einer gekachelten Wand und hockt auf dem Fliesenboden. Er ist nur mit einem Feinrippunterhemd und einer Kaki-Hose bekleidet. Als ich schließlich die Postkarte zögerlich umdrehe, bemerke ich, dass jemand die Rückseite mit krakeligen Buchstaben beschrieben hat. Ich lese: „Am Ende hat sich der Mörder selber in den Rücken gestochen.“
Erst spürte ich das Kribbeln in meinen Zehen, dann in meinen Fußsohlen, im Spann und schließlich in den beiden Knöcheln der Füße, dass sich alsbald zu einer Armada aus Nadelstichen intensivierte, um sich schließlich zu einem Flächenbrand in beiden Beinen auszuweiten.
„Ich bin Ester. Aber hier ruft man mich nur mit der Nummer, die mir der Eine aus der SS-Wachmannschaft auf den linken Unterarm tätowiert hat.“
Ich lag auf einer der vielen mit Stroh bedeckten Pritschen in den Unterkünften der Arbeitshäftlinge. Und ab Morgen würden wir alle die Handlanger des Schlächters von Sobibor sein, bis wir selbst nach getaner Arbeit dran glauben mussten.
Selbst heute noch, einen Tag nach Shlomos überraschendem Todesfall, sehe ich die stechenden, reglosen Augen unseres damaligen stellvertretenden Lagerkommandanten vor mir. Und ich höre diese schneidende Stimme und fühle mich dann immer innerlich wie erstarrt, während mir mein Herz davongaloppiert. Dabei wünschte ich mir nichts sehnlicher, als das alles vergessen zu können und meinen inneren Frieden zu finden. Und er hat damals, ebenso wie ich, nur überlebt, weil er sich diesem Stellvertreter der Hölle als einen unentbehrlichen Handwerker zu erkennen gegeben hatte, der ihm auf dessen Befehl hin aus dem Gold der Opfer neue, aber blutige Schmuckstücke hergestellt hat.
Selbst heute noch gehe ich auf die andere Straßenseite, wenn mir ein Schäferhund mit seinem Herrchen entgegenkommt. Selbst heute noch wache ich nachts in Schweiß gebadet auf und schreie um mein Leben, weil ich überlebt habe und andere dafür nicht.
Selbst heute noch schlafe ich im Licht meiner Nachttischlampe, weil ich die Finsternis nicht ertragen kann. Und noch immer frage ich mich, ob er mir damals diese Karte geschickt hat. Denn er schien mir immer der rastlose und unversöhnliche Typ dafür gewesen zu sein, der an unserer aller statt das getan haben könnte, wozu wir anderen nie im Stande gewesen wären …
Doch am Ende scheint es der Verfolgungswahn des ehemaligen Schlächters selbst gewesen zu sein?
© CRSK, Le, 01/2022
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Der Text folgt nicht allen tatsächlichen Gegebenheiten, ist in Details abgewandelt. Ich hoffe, ich bin dabei nicht allzu unsensibel vorgegangen. Ich betrachte ihn als mein persönliches Experiment, mich mal etwas artfremd zu betätigen.
Inspiration bot mir folgende Mini-Doku-Reihe, die ich übrigens sehr sehenswert finde:
https://www.ndr.de/geschichte/Dramatische-Historie-Shlomo-Der-Goldschmied-und-der-Nazi,shlomo104.html