Prayer
Schlemil stand vor dem Spiegelbild seiner selbst und sah, dass sein Konterfei in ungezählte Mosaikbruchstücke eingerahmt war. Allesamt in rot-orangenen Farbtönen gehalten, mit gelb-grünen Farbsprengseln dazwischen. Sein Blick wanderte immer wieder über die unregelmäßigen Brüche hinweg bis zu seinem Gesicht und wieder zurück. Minutenlang verweilte er vor dem Spiegel, während er sich fassbar an den Prayer von letzter Nacht erinnerte. Den hatte er nämlich auf dem Marktplatz der Schreier und Hämmerer entdeckt gehabt, als dieser mit seinem blutüberströmten Gesicht durch die Menge gelaufen war. Dabei hatte er wild von einem Besucher zum anderen gestikuliert, während sein Gesicht die wahre Glückseligkeit ausgestrahlt hatte. Er hatte kein einziges Wort gesagt, aber seine Blicke hatten Bände gesprochen.
Die Zunge war ihm herausgeschnitten worden, weil er die Wahrheit des Allvaters herausgefunden hatte, der in Wirklichkeit die Manifestation einer Chimära gewesen war und ebenso die Mutter aller Dinge verkörpert hatte. Desderwegen hatte man versucht, den Prayer verstummen zu lassen.
Und Schlemil erinnerte sich an jeden Augenblick seiner Begegnung mit ihm. Er hatte ihm in die Augen geschaut, und war dann vom Donner angerührt und vom Blitz erleuchtet worden, weil er von dessen Leid und Glückseligkeit gekostet hatte.
So stand Schlemil nun also vor seinem eigenen Angesicht der Tatsache, dass er zum gefühlt einhundertsten Male das Mosaik seiner Welt anfasste und begriff, um Neues daraus zu erschaffen. Und er war davon noch immer nicht müde.
Schlemil sah auf all die Zeiten zurück, die er schon erlebt hatte und blickte dabei sehr tief in das Blut des Prayers hinab. Hinab auf den Grund des Sees der Liebe. Hinab in die Tiefe der Untiefen seines Dramas mit den Maren seiner finsteren Nächte von damals. Und auch Hinab zur Tatsache, dass er über das Außen den Frieden im Innen suchte.
Er sah dem Prayer in die bunt unterlaufenen Augen und wusste, dass er dessen Zunge bald in seinem Labsal vom Sterben der Altlasten wiederfinden würde, und Schlemil lächelte.
Er fror nicht. Dennoch waren seine Nase, seine Ohren sowie die Hände und auch die Füße rot von den Minusgraden der Nacht. Und er spürte am Ende, wie sich das Prickeln zum Stechen abertausender Nadeln wandelte. Es fühlte sich für ihn so an, so als ob er mit den ungezählten Worten bestickt worden war, die er nie ausgesprochen hatte, die er nie gewagt hatte, dem Leben preiszugeben.
Dann erwachte er und erhob sich erschöpft von seiner Lagerstatt. Er erblickte ein zerwühltes und blutbesudeltes Laken, dass alsbald seiner Waschmaschine anheimfallen würde. Den Traum allerdings verspürte er noch Stunden später in seinen Knochen …
© CRSK, Le, 02/2023