GRAU
Grau„Was sind es für Bäume da draußen?“, frage ich.
„Hmmm… ich weiß es nicht, ich kenne mich leider nicht mit Bäumen aus. Ich würde sagen Birken, Eichen, Ahornbäume und ganz unten am Fluss, welcher, glaube ich eigentlich ein Bach ist, ist eine große Trauerweide.“
Ich seufze und schließe meine Augen. Ein Bild kommt in mir auf, das Bild von seinen Erzählungen. Ein großer Park, umrundet von vielen Bäumen, in der Mitte fließt ein Fluss, welcher eigentlich ein Bach ist. Links ist ein großer Spielplatz, der bald voll mit Kindern sein wird, die spielen, singen, lachen und Unfug machen. Rechts ist eine Wiese, grün mit Löwenzähnen.
Ich stelle mir alles vor, was er mir erzählt. Doch eigentlich, sehe ich das nicht als notwendig an. Er müsste mir das nicht erzählen. Er könnte einfach mit mir den Platz tauschen. Das Fenster für seine Ruhe. Er müsste nur aufhören, sich und mich so zu quälen. Was er selbst von den Erzählungen hat, weiß ich selbst nicht. Er erzählt und erzählt. Manchmal trägt seine Stimme eine tiefe Melancholie mit sich, schon fast so, als würde er gleich sterben und seine letzten Worten, mit aller Gewalt noch raus pressen müssen. Als würde er an etwas leiden, aber nicht seinen körperlichen Schmerzen.
Als ich ihn damals fragte, ob er nicht sein Bett aufgeben und mit mir tauschen wolle, antwortet er nur:
„Und was ist, wenn das, was draußen hinter diesem Fenster ist, dir nicht gefällt?“
„Wie nicht gefällt? Da draußen ist die wirkliche Welt, die, die ich vermisse. Da draußen ist alles noch lebendig und laut und es ist hell, nicht so still und öde wie hier, in diesem gottverdammten Zimmer.“, habe ich ihn angekläfft.
„Ich sehe alles. Ich kann dir ja erzählen, was da draußen passiert. In Ordnung?“
In Ordnung? Nein! Nein! Es ist nicht in Ordnung. Ich will das alles selber sehen. Ich will es mit meinen eigenen Augen selber erforschen. Warum nur hatte er das Glück hier als Erster zu landen? Warum hatte er das Bett am Fenster?
Den Platz, den ich mir so sehr ersehne. Er konnte die Sonne auf seinen Körper scheinen lassen, jeden einzelnen Sonnenstrahl beobachten, wie er langsam und im Rhythmus der Natur auf seinem Körper wandert.
Er war derjenige, der die Liebespärchen abends bevor es ganz dunkel wurde beobachten konnte, die Eltern die ihren Kindern hinterher liefen und mit ihnen spielten. Die Vögel, die sich gegenseitig neckten, anlockten und sich wegen den kleinen Brotkrummen stritten, die die alte Dame pünktlich nach sechs ihnen zu warf.
Mein Neid wächst und wächst, mit jeden Tag mehr, mein Hass auf seine Stimme, den Erzählungen, frassen mich von innen auf.
Mein Bett ist viel zu weit entfernt von seinem Bett. Nicht mal einen kurzen Blick kann ich erhaschen.
Seitdem bekomme ich jeden Tag Berichte. Er erzählt pausenlos, ohne Punkt und Komma. Nur wenn die Schwestern da sind, unterbricht er.
Ich höre seine Stimme, die Wörter aus seinem Mund ergänzen sich zu meinem Bild. Sie erwecken es zum Leben, von ihnen sind sie abhängig.
Das Erzählte verschwimmt zu einem Geplätscher, beruhigend, entspannend.
„Sind die Kinder schon da?“, frage ich, meine Augen noch immer geschlossen.
„Ja aber nur ein paar. Heute sieht es ziemlich leer aus. Kaum einer unterwegs. Naja es ist ja noch früh und vielleicht wird es heute eher spät mit den Leuten.“
Seine Erzählung geht weiter und ich lausche gebannt, mit einem zufriedenen Lächeln auf meinen Lippen.
Es piept. Irgendetwas piept wie verrückt.
Ich schlage meine Augen auf und drehe mich zu meinem Zimmergenossen um. In der Dunkelheit sehe ich dass er zappelt und um sich schlägt.
Er ringt nach Luft, das kann ich hören.
Er erstickt.
Ruf die Krankenschwester, kommt es mir, doch ich rühre mich nicht. Meine Glieder gehorchen mir nicht. Weil ich es so will.
Das Fenster ist mein einziger Gedanke. Der Gedanke, der zählt.
Still lege ich mich wieder hin und schaue zur Decke. Ich höre seinem Japsen zu, seinem Krächzen, dem Ausschlagen der Geräte und dann war es still.
Ich schließe meine Augen und schlafe wieder ein.
Der Morgen ist da. Die Schwestern tragen die Leiche neben mir weg und beziehen das Bett neu. Für mich.
Sie greifen mir unter die Arme und langsam, mit immer größer werdender Sehnsucht und Ungeduld, laufe ich auf meinen neuen Platz zu.
Sie legen mich auf das Bett und decken mich zu, transportieren meine Geräte und deponieren sie neben meinem neuen Bett.
Das Zimmer sieht von hier anders aus. Schöner. Farbenfroher. Heller. Einfach anders.
Ich hole tief Luft und drehe dem Fenster, mit Hoffnung und unerfüllter Wissbegierde mein Gesicht zu.
Grau.
Hinter dem Fenster ist es grau.
Grau, wie mein Bettgestell, wie die Wände.
Grau.
Eine graue Mauer.
Eine Mauer.