Achtziger blickte zu Jäger hinüber, und von ihm zu dessen Freund und den übrigen Zwergen mit den eigenartigen Haarkämmen, die sonderbarerweise immer noch an Ort und Stelle verweilen, ohne sich am Kampf zu beteiligen. Die offensichtliche Frage drängte sich ihm auf.
„Auf das, was wir bisher noch nicht sehen,“ antwortete Jäger, ohne den Blick zu ihm zu wenden. „Auf einen wirklich gefährlichen Gegner.“
Die Antwort überraschte Achtziger. Er verstand mittlerweile, was Jäger gemeint hatte, als er sagte, seine Männer wären in der Linie nur zermalmt worden. An gefährlichen Gegnern schien dort ganz und gar kein Mangel zu herrschen.
„Gotrek weiß, was er tut. Solange er abwartet, tun wir es auch.“
Kopfschüttelnd blickte sich Achtziger wieder zu Burluksson um, der immer noch kein weiteres Wort gesagt hatte.
Und dann scheint einen Augenblick lang die Zeit stillzustehen, und ganz unvermittelt stellt er fest, dass der Zwerg erneut seine lederne Haube vom Kopf gezogen hat, während er auf das schreckliche Schauspiel blickt. Und zum ersten Mal fällt ihm wirklich auf, dass Burluksson eigentlich sehr lebhafte und gütige Augen hat, von unzähligen winzigen Falten umgeben. Und dass er unter all der rauen Oberfläche und dem boshaften Humor auf einmal sehr, sehr müde aussieht.
Und Theodor Achtziger versteht. Und wird plötzlich sehr traurig.
Er denkt an all die vielen schönen Dinge, die Kunstwerke und Kleinodien, die der Welt gerade in diesem Moment verloren gehen, an all die Bilder und Lieder, die nie entstehen werden, weil der Krieg gerade im Begriff ist, diejenigen zu verschlingen, aus deren Händen sie fließen würden. Er denkt an all das Beständige, das Neue, das Sorgfältige und Geordnete. An all die Kultur und Zivilisation, die schönen Häuser und die breiten, prächtigen Straßen, die verloren gehen, weil die Zwerge, wie das Imperium auch, so vielen ihrer jungen Männer Äxte und Schwerter in ihre Hände legen müssen anstatt Hammer und Meißel, und weil sie Geschütze gießen müssen anstatt Gartenzäune. Und alles wegen tumber Monstrositäten wie denen dort, die glauben, ihre Stärke alleine gäbe ihnen das Recht, zu rauben und zu morden und ihren brutalen Hunger an friedliebenden Völkern zu stillen. Und zum allerersten Mal, von einem Augenblick auf den anderen, hasst er diese sinnlose Verschwendung von Leben und Potential mit einer Inbrunst, die ihm zu seiner eigenen Überraschung schier die Tränen ins Gesicht treiben will.
Und dann wendet Burluksson sich plötzlich um und scheint wirklich und wahrhaftig zu schnuppern.
„Jungchen, hier stinkt’s plötzlich ganz gewaltig nach Grobi.“
Achtziger denkt erst, er macht Witze. Ihm beißen Pulverqualm, Rauch und der widerliche Brandgestank in die Nase. Wie will da… ?
Hinter ihm, neben ihm, überall im Gebüsch und zwischen den niedrigen Bäumen wird es plötzlich lebendig. Plötzlich wimmelt es von vielleicht einen Schritt großen, grünhäutigen, buckligen kleinen Kreaturen mit rötlichen Knopfaugen, spitzen Ohren und langen Spießen.
„Gnoblars!"
Hügelgoblins sind es, die sich auf heimlichen und verschlungenen Wegen von hinten oder von der Flanke her während der Dunkelheit an die Zwerge herangeschlichen haben müssen, um ihnen in den Rücken zu fallen. Dutzende müssen es sein, und es werden immer mehr. Die Überraschung ist vollkommen. Derartige Heimtücke kennt Achtziger nur zu gut von den Goblins der Grauen Berge, bei denen muss man auch immer gegen eine heimliche Sauerei auf der Hut sein.
Andererseits weiß er jetzt dadurch auch genau, was zu tun ist. Hier stehen wackere Reikländer, und wo Reikländer stehen, da steht ein Stück des Imperiums. Da steht ein Stück Kultur, und Kultur leistet Widerstand.
Er reißt das Schwert aus der Scheide. „Reikland! Zu mir!“
Die Waibel und die Männer sind genauso überrascht wie ihr Hauptmann. Rudi Maier überwindet sich als erster. „Schwert und Schild, Jungens, Schwert und Schild! Zum Hauptmann! Heldenhammer!
Heldenhammer!“
Mehr Ansporn brauchen Achtzigers Leute nicht. Mit dem uralten Schlachtruf des Imperiums auf den Lippen werfen sie sich den Gnoblars entgegen, und schon tobt auch hier erbitterter Nahkampf.
Achtziger hat keinen Schild, aber sein Schwert treibt die feige Bande auf Abstand. Was ihm zu nahe kommt, bekommt seine Klinge oder seinen Stiefel zu kosten. Neben ihm fechtet Burluksson, eine abgebrannte Muskete beim Lauf gepackt, nach rechts und links wütende Hiebe austeilend. Felix Jäger schwingt sein langes Schwert mit einer aus langer Erfahrung geformten Geschicklichkeit, die Achtziger ihm gar nicht zugetraut hätte.
Der Spuk ist ebenso schnell wieder vorbei, wie er begonnen hat. Schwer atmend hält Theodor Achtziger inne, als ihm bewusst wird, dass der Boden um ihn herum mit erschlagenen Goblins bedeckt ist. Was noch kann, schlägt sich quiekend und winselnd in die Büsche. Mehrere seiner Männer sind verwundet, er selber hat eine blutige Schramme am Arm, und sein Jackenärmel ist zerrissen. Er wendet sich zu Jäger um.
„Das ging ja nochmal gut, was?“
„Das waren nur Kundschafter.“
„Für was?“
„Für das da.“ Er deutet.
Und dann sieht Achtziger den größten und abartig widerlichsten Oger, den er an einem Morgen voller riesiger Oger je zu Gesicht bekommen hat. Die Bestie steht, mit einem runden halben Dutzend seiner Artgenossen, zwischen den Bäumen und blickt ihn aus kleinen, tückisch blitzenden Augen an, eine mannslange Keule in den Händen. Felix Jäger neben ihm schreit immer wieder nur ein einziges Wort, „Gotrek! Gotrek!“, und deutet mit seinem Schwert auf die plötzlich aufgetauchte Bedrohung. Da steht das, was sie bisher noch nicht gesehen hatten, und mit einem Mal ergibt alles einen Sinn. Das muss der Oberhäuptling sein, mit seinen besten Kriegern. Und während der Rest seiner Meute den Schildwall der Zwerge beschäftig hält, ist er hier, um persönlich den Angriff zu führen, der das Blatt wenden soll.
Und dann ist Theodor Achtziger mit einem Mal so unendlich wütend.
Diese wilde, blutrünstige, halbnackte Bestie, mit ihren winzigen Augen, ihren ungeschlachten Muskeln und ihren fauligen gelben Zähnen, will den armen, mutigen Maschinisten Drongo Burluksson neben ihm totschlagen? Ihm den Kopf mit den gütigen Augen vom Leib reißen und seine Arme und Beine einzeln über dem Feuer rösten? Und all seine tüchtigen Kanoniere dazu? Und den guten König Grollbart mit seinem dicken Buch am liebsten auch, wenn man sie ließe? Was
bildet diese Kreatur sich eigentlich ein?
Darauf kann und darf es nur eine Antwort geben.
Er richtet das Schwert auf den Oberhäuptling und quetscht zwischen zusammengebissenen Zähnen ein einziges Wort hinaus.
Der Oberhäuptling versteht es. Sein Wutgebrüll bringt die Luft zum Zittern, als er mit geschwungener Keule vorwärts stürmt, blutigen Geifer vor dem Maul, seine Krieger hinter sich. Achtziger, das Schwert erhoben, weicht keinen Schritt. Wo Reikland steht, da steht Kultur, und Kultur leistet Widerstand.
Der Häuptling hat ihn fast erreicht, da wird der Hauptmann jäh von hinten zurückgerissen, stolpert und stürzt beinahe. Felix Jäger ist es, der ihn am Jackenkragen gepackt hält, und plötzlich ist um sie beide herum alles voller Zwerge mit orange gefärbten Haaren und wild geschwungenen Äxten, an ihrer Spitze der einäugige Schläger mit der riesigen Axt. Schäumend vor Wut stürzen sie sich auf die Oger. Der Zusammenprall der beiden Gruppen erzeugt einen ohrenbetäubenden Lärm.
„Wohl wahnsinnig geworden, was?!“ Jäger blickt den Hauptmann mit staunend geweiteten Augen an und schüttelt ungläubig den Kopf. Hinter ihnen scheint eine Naturgewalt entfesselt worden zu sein. Ohne jegliche Rücksicht, mit einem an Tobsucht grenzenden Ungestüm werfen sich die Zwerge auf ihre Erzfeinde, die regelrecht unter einer Welle von Äxten und tätowierten Muskeln zu verschwinden scheinen. Sprühnebel von Blut peitschen in die Höhe. Achtzigers Männer stehen, sprachlos vor Staunen und blankem Entsetzen, dabei, und in ihren erschlaffenden Armen sinken die Schwerter nieder.
Es wäre auch unnötig. Eine Raserei, ein Blutrausch, hat diese Zwerge ergriffen, und bricht sich Bahn in einer Schlachterei, wie sie Achtziger selbst bei Trollen und Nordlandbarbaren noch nie gesehen hat. Bald steht nur der Oberhäuptling der Oger noch, aus zahlreichen Wunden blutend. Jägers Freund liefert sich mit ihm ein Duell, das seinesgleichen sucht. Die Hiebe fallen so schnell, dass das Auge kaum zu folgen vermag, Kraft und Schnelligkeit beider Kämpfer scheint annähernd ausgeglichen zu sein.
„Gurnisson! Zurück!“
Heldenhammer! Achtzigers Ohren klingeln schon wieder! Wem gehört diese Bassstimme, die selbst das Toben des Kampfgetümmels noch zu überschreien vermag? Er wendet sich um.
Der König selbst ist es. Da steht er, auf der Plattform seines beweglichen Throns, der nach wie vor auf den Schultern seiner vier Träger ruht. So zum Greifen nah, dass Achtziger einzeln die kleinen goldenen Ringe erkennen kann, die in seinen Bart geflochten sind. Seine Autorität alleine kann selbst dem Wüten einer lebenden Legende Einhalt gebieten. Rings um ihn herum scheinen jedes Geräusch und jede Bewegung zum Stillstand zu kommen. Mit dem Stiel seiner Axt deutet er auf den Oberhäuptling.
„Der da gehört mir.“
Der Tonfall erlaubt keinen Widerspruch. Jeder, Mensch oder Zwerg, weicht unwillkürlich zurück und gibt den beiden Kontrahenten Raum. Das hier ist eine persönliche Angelegenheit. Der König steht regungslos auf seiner Plattform und wiegt die Axt in den Händen. Beide Streiter, etwa auf gleicher Augenhöhe, betrachten sich abschätzend.
Der Oberhäuptling steht unsicher auf den Beinen. Er schnauft heftig, und aus seinen schorfigen Nüstern ringt sich blutiger Schaum. Die Keule wankt in seinen Händen. Erst tritt er auf einen nackten Fuß, dann auf den anderen.
Besiegt ist er noch lange nicht. Die scheinbare Schwäche war vorgetäuscht. Blitzschnell saust die Bestie nach vorne, ein heimtückischer Stoß. Mannsgroße Keule schwingt gegen jahrhundertealte Runenaxt.
Die Runenaxt obsiegt. In zwei Teile gespalten verfehlt die Keule ihr Ziel, ihr abgetrennter Kopf verfehlt den König und fliegt davon. Aus dem Gleichgewicht gebracht, taumelt der Oberhäuptling.
Der zweite Schwung des Königs trennt seinen Kopf von den Schultern. Der enthauptete Leib der Bestie fällt haltlos in sich zusammen. Nur Sekunden hat es gedauert. Thorgrim hebt die Axt zum Himmel als Signal an sein Volk, und um ihn herum hebt gellender Jubel an. Die Angelegenheit ist entschieden. Auf der Ebene ist kein lebender Oger mehr zu sehen. Was nicht vor dem Schildwall niedergestreckt wurde, hat die Flucht ergriffen und wurde kurzerhand niedergeschossen.
König Thorgrim blickt auf Hauptmann Theodor Achtziger herab. Und nickt.
Einfach so. Mehr nicht. Aber es sagt alles.
Dann greift der Hochkönig des Zwergenvolkes in seinen Gürtel und zieht eine einzelne Münze hervor, die er Achtziger zuwirft. Dieser fängt sie auf. Blankes, fein geprägtes Gold blinkt im Sonnenlicht in seinen Händen.
Als er wieder aufgeblickt hatte, war der König auf seinem Thron schon wieder ein gutes Stück weit davon getragen worden.
„Wie er so war, fragst du, Junge? Ein netter älterer Herr, möchte ich meinen.“
Theodor Achtziger hängt noch einen Augenblick seinen Erinnerungen nach. Dann kommt ihm ein anderer Gedanke, und er springt von seinem Fass herunter.
„Sag mal, Junge, du kannst doch bestimmt schreiben, oder…?“