Ein Aufreger? Dummes Gelaber?
(oder einfach nur: Sachliche Betrachtung eines Phänomens)Zum ersten Mal seit vielen Jahren war in ihr so etwas wie Verständnis und Mitgefühl für Männer aufgetaucht. Dieser Mann hatte ihr gestern Abend heftig zugesetzt - und sie war sprachlos gewesen.
Und das wollte was heißen! Sie war ja nicht nur überzeugter Single, was viele bei einer Frau ihres Alters für seltsam genug hielten. Ihr ging auch der Ruf voraus, hin und wieder eine Männerhasserin zu sein. Das war zwar ungerecht, aber sie konnte es irgendwie nachvollziehen, wie es dazu gekommen war.
Seit jeher, so hatte dieser Mann ausgeführt, achten Eltern - vor allem auch Mütter, die ja bekanntermaßen Frauen seien - besonders darauf, ihre Söhne zu lebenstüchtigen Männern zu erziehen. An sich sei das ja auch in Ordnung, nur gebe es dabei unerwünschte Nebeneffekte. Vielleicht sollte man nicht die Menschen für eine kaputte Welt erziehen, sondern die Welt ändern und für Menschen lebenswert machen, auch für Männer?
Besonders auffällig, so hatte er erläutert, seien die Folgen daraus auch früher schon bei den nordamerikanischen Indianern oder im alten Japan zu beobachten gewesen. Aber auch bei den alten Germanen und Mongolen, den Wikingern und Kelten, den Römern, Spartanern und Galliern sei es nicht anders gewesen. Überall auf der Welt das gleiche Bild: Mit Härte und Strenge wurden dort Söhne zu - auch gegenüber sich selbst - harten sowie mitleidlosen Menschen gedrillt, die mit unbewegter Miene und scheinbar ohne jedes Gefühl den Anforderungen des Lebens begegnen sollten. Ob das nun die Jagd sei, Krieg, Konkurrenzkampf oder was auch immer.
Heute würde man das wohl cool nennen, hatte er grinsend eingeflochten. Jedem Jungen würden auch heute noch sämtliche weichen und weiblich erscheinenden Regungen ausgetrieben. Er solle ja weder weibisch sein noch schwul. Und das alles habe durchaus einen guten Grund und seinen Sinn, wenn man auch darüber streiten könne. Mitgefühl, Liebe, Trauer, Angst und all diese Gefühle würden aus Männern, so fürchte man wohl, Weichlinge machen. Und die würden dann in dieser Welt untergehen.
Zur Illustration hatte er zwei drastische, aber einleuchtende Beispiele angeführt: War ein Mann auf der Jagd und hätte plötzlich Mitleid mit einem gejagten Tier bekommen, hätte er es womöglich nicht töten können – und seine Familie, seine Sippe oder sein Stamm hätte Hunger gelitten. Oder wollte er Frau und Kinder vor Feinden verteidigen, wäre jedes Zögern aus Mitgefühl, jedes Nachdenken im Sinne allgemeiner Menschenliebe möglicherweise für ihn selbst und seine Familie tödlich gewesen. Er musste einfach skrupellos und ohne zu zögern seine Feinde töten können! Und er musste ohne lange Überlegungen oder weichherzige Gefühle bereit sein, notfalls für seine Familie zu sterben. Hätte er, aus irgendwelchen rührseligen Gefühlsregungen heraus, auch nur den Bruchteil einer Sekunde gezögert, hätte vermutlich der andere seine winzige Chance eiskalt genutzt und sofort selbst zugeschlagen.
Im harten, unerbittlichen Überlebenskampf gelten seit jeher andere Gesetze als zu Hause in der Familie. Und jeder Mann, der sich in derartigen Situationen weiche oder liebevolle Gefühle leistet, sei in größter Gefahr. Das habe nichts damit zu tun, was gut, richtig und sinnvoll aus unserer heutigen Sicht sei, sondern es ist schlicht eine Notwendigkeit zum Überleben. Wo, wann oder warum auch immer Männer im Laufe der Geschichte dazu übergegangen waren, ihre weibliche Seite zu leben und weiche Gefühle zu zeigen, seien sie denn auch dekadent, schwächlich und jämmerlich geworden - und schließlich mit Pauken und Trompeten untergegangen. Ein allseits bekanntes Beispiel dafür sei das alte Rom, wie ja wohl jeder wisse.
Im Prinzip, so hatte er zu ihrer Verblüffung erklärt, sei das heute leider nicht viel anders, auch wenn vor allem Frauen das meist nicht wahrhaben wollten. Ob Manager oder Abteilungsleiter, Facharbeiter oder Handwerker, ob in der Politik, am Fließband einer Fabrik, auf der Straße oder wo auch immer - nach wie vor sind oft knallharte Bandagen nötig, um sich als Junge oder Mann behaupten oder nach oben durchkämpfen zu können. Irgendwo seien wir alle in dieser Hinsicht auch heute noch Neandertaler, lebten noch im Mittelalter oder eben einfach wie damals im alten Japan und in Nordamerika.
Und, so hatte er grinsend hinzugefügt, wenn sie das nicht glaube, solle sie sich doch mal mit wachem Blick und Verstand in ihrer Redaktion oder im sonstigen Geschäftsleben umschauen! Sie wäre wahrscheinlich entsetzt darüber, wie es da manchmal zugehe, falls sie es nicht längst wisse, was er jedoch vermute. Wenn sie anderer Meinung sei, solle sie ruhig widersprechen.
Nein, sie hatte dem nichts entgegenzusetzen gehabt. Es ist alles genau so, wie er es beschrieben hatte. Und sie als Frau musste sich oft sogar noch gnadenloser behaupten als die meisten Männer. Das war ihr durchaus bewusst. Und dazu hätten weiche oder sogenannte weibliche Gefühle nur selten gepasst. Sie hätten in der Tat eher gestört. Und so wirkte auch sie im Berufsleben oft auf andere viel härter, kälter und gnadenloser, als sie es tatsächlich war.
Und nun solle sie sich doch bitte mal vergegenwärtigen, hatte ihr Gesprächspartner weiter ausgeführt, wie es in einem solchen Mann aussehen muss! Ob er wolle oder nicht, er müsse sich - nicht selten auch gedrängt von einer anspruchsvollen, karrieregeilen Frau und habgierigen, unersättlichen Kindern - in einer knallharten und skrupellosen Geschäftswelt durchsetzen. Welcher Mann gälte schon etwas bei Frauen, der sich nicht in der einen oder anderen Weise als erfolgreich auch im Beruf und Geschäftsleben erweise?
Sie hatte genickt und verstanden.
Nun seien also die neuen, sogenannten emanzipierten Frauen da ganz anderer Meinung und stellen auf einmal an Männer unmögliche Forderungen: Für weibliche Belange hätten sie sich gefälligst zu interessieren, ihren Partnerinnen stets aufmerksam zuzuhören und vor allen Dingen Gefühle zu zeigen und stundenlang über diese zu reden. Wie solle das denn gehen? Ein kaum zu bewältigender Spagat werde da jedem Mann abverlangt. Alle diese Frauen sollten sich mal überlegen, was sie da eigentlich erwarten, fordern, verlangen! Das sei schlicht unmenschlich!
Und so sei es kein Wunder, dass Männer völlig überfordert seien und massenhaft an Herzinfarkten und dergleichen zugrunde gingen. Denn um das Ganze auch noch geradezu ins Absurde und Sadistische zu steigern, würde den meisten Männern von ihren Frauen auch noch eine der wenigen ihnen gemäßen Formen von Entspannung massenhaft verwehrt. Ob sie wisse, was er meine?
Sie hatte verständnislos den Kopf geschüttelt.
Häufiger, aber vor allem guter, zutiefst befriedigender und wirklich entspannender Sex, hatte er gesagt. Der könnte Männern helfen, alle notwendigen Aufgaben irgendwie zu bewältigen. Aber dazu seien sich die Frauen zu schade, ihnen könnte ja ein Zacken aus ihren Prinzessinnenkrönchen fallen.
Normalerweise wäre sie jetzt empört gewesen, hätte mit Argumenten geradezu um sich zu schlagen versucht. Doch dieses Mal war sie nur still dagesessen und hatte verdattert wahrgenommen, dass der Mann auf den ersten Blick irgendwie Recht hatte, so sehr ihr das auch gegen den Strich ging. Ihr fiel einfach keine vernünftige Erwiderung ein.
Und so etwas muss man als feministisch geprägte Intellektuelle erst mal verdauen ...
(Copyright 2010 by Antaghar)